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Der Welt-Detektiv Band 6

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Aëlita – Teil 37

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Die Erde

Die diamantenen Felder waren die Durchgangsspuren eines im Weltenraum umherirrenden Kometen. Lange Zeit musste sich der Apparat, der in die Sphäre seiner Anziehungskraft geraten war, zwischen den himmlischen Steinen hindurchzwängen. Seine Geschwindigkeit vergrößerte sich ständig, jetzt wirkten nur noch die absoluten Gesetze der Mathematik – ganz allmählich änderte sich die Flugrichtung des Eies und der Meteoriten. Es bildete sich ein immer breiter werdender Winkel. Der golden glänzende Nebelfleck, der Kopf des unbekannten Kometen und sein Schweif, die wirbelnden Massen der Meteoriten rasten in der Hyperbel – der hoffnungsvollen Kurve – weiter, um, nachdem sie die Biegung um die Sonne vollbracht hatten, für immer im Weltall zu verschwinden. Die Flugkurve des Apparats näherte sich jetzt immer mehr der Ellipse.

Die fast nicht mehr realisierbare Hoffnung einer Rückkehr auf die Erde erweckte Losj und Gussew zu neuem Leben. Sie blieben nun ununterbrochen an den Ausgucken und beobachteten den Himmel. Die Sonne erwärmte den Apparat so stark auf der einen Seite, dass sie gezwungen waren, einen Teil der Kleidung abzuwerfen.

Jetzt waren die diamantenen Felder weit unter ihnen zurückgeblieben. Sie erschienen nur noch als Fünkchen, wurden dann zu einem weißlichen Nebelfleck und verschwanden. Da entdeckten sie in einer ungeheuren Entfernung den Saturn mit regenbogenfarbig schillernden Ringen, umgeben von seinen Trabanten.

Das Ei, das in das Schwerefeld eines Kometen geraten war, kehrte in das Sonnensystem zurück. Eine Zeit lang wurde das Dunkel von einer leuchtenden Linie durchschnitten. Doch bald verblasste auch diese und erlosch. Es handelte sich um die Asteroiden – unzählige kleine Planeten, die in Schwärmen rings um die Sonne wanderten. Ihre große Anziehungskraft wirkte sich noch stärker auf die Krümmung der Flugkurve des Eies aus. Schließlich erblickte Losj durch einen der oberen Ausgucke eine merkwürdige schmale, die Augen blendende Sichel – das war die Venus. Fast zur gleichen Zeit begann Gussew, der seinen Beobachtungsposten an einem anderen Ausguck hatte, fürchterlich zu schnaufen. Schwitzend und rot im Gesicht drehte er sich um.

»Sie ist es, bei Gott, sie …!«
In der schwarzen Finsternis strahlte warm eine silberbläuliche Kugel. Daneben leuchtete in noch hellerem Licht eine andere, winzig kleine Kugel, nicht größer als eine Johannisbeere. Der Apparat raste in einer Richtung, die ein wenig seitlich an diesen beiden Kugeln vorbeiging. Da beschloss Losj, ein gefährliches Manöver anzuwenden, nämlich die Drehung des Apparathalses, um einen Ausschlag der Führungsachse zu bewirken und dadurch eine Abweichung von der Trajektorte des Fluges herbeizuführen.
Die Drehung gelang. Die Richtung begann sich zu ändern. Die warme Kugel stand nach einiger Zeit im Zenit.

Der Raum und die Zeit flogen und flogen immerfort dahin. Losj und Gussew pressten sich bald mit dem Gesicht zur Beobachtung des Firmaments gegen die Gläser der Okulare, bald lagen sie auf den Fellen und Decken, die unordentlich umherlagen.

Die letzten Kräfte schwanden ihnen. Durst quälte sie. Der ganze Wasservorrat war ausgetrunken.
Und da – in einem halbohnmächtigen Zustand – sah Losj, wie die Felle, die Decken und die Säcke an den Wänden entlangkrochen. Der Körper Gussews hing, nackt bis zum Gürtel, in der Luft. All das glich einer Fieberfantasie. Es stellte sich heraus, dass Gussew vor einem der Ausgucke lag, mit dem Gesicht nach unten am Okular. Jetzt erhob er sich ein wenig, fasste sich an die Brust, schüttelte seinen zotteligen Kopf, das Gesicht war tränenüberströmt, der Schnurrbart hing herunter.
»Sie, die liebe, teure – die Heimat …!«

Mit seinem getrübten Bewusstsein begriff Losj immerhin, dass der Apparat sich umgedreht hatte und mit dem Hals voranflog, angezogen von der Schwerkraft der Erde. Er kroch zu den Rheostaten und schaltete sie um – das Ei erzitterte unter Donnergetöse. Er beugte sich über das Okular.
In der Finsternis hing eine von Sonnenlicht überflutete ungeheure wässrige Kugel. Die Ozeane darauf erschienen himmelblau, die Umrisse der Inseln grünlich, einer der Kontinente war von Wolkenfeldern verhüllt. Die feuchte Kugel drehte sich langsam um sich selbst. Tränen verdeckten Losj den Blick. Mit Tränen der Liebe flog das Herz dem blaufeuchten Pfeiler des Alls entgegen. Heimat der Menschheit! Samenkorn des Lebens! Herz der Welt!

Die Erdkugel verdeckte jetzt den halben Himmel. Losj drehte an den Schaltern der Rheostate, bis es nicht mehr weiter ging. Trotzdem war der Flug des Apparates noch sehr ungestüm. Die Außenhülle war glühend heiß, die zweite Innenhülle aus Gummi begann zu sieden, die Innenverkleidung aus Leder rauchte. Mit letzter Kraftanstrengung öffnete Gussew ein wenig den Deckel einer Luke. Durch den Spalt drang heulend ein eisiger Wind. Die Erde öffnete ihre Arme und empfing die verlorenen Söhne.

Der Aufschlag war heftig. Die äußere Verschalung platzte. Das Ei hatte sich mit seinem Hals tief in eine grasbewachsene Anhöhe gebohrt.

Es war um die Mittagszeit und Sonntag, am dritten Juni. In großer Entfernung vom Ort des Falles – am Ufer des Michigansees – hörten die Leute, die in Booten spazieren fuhren, auf den offenen Terrassen der Restaurants und Kaffeehäuser saßen oder Golf, Tennis und Fußball spielten, Drachen zum wolkenlosen Himmel aufsteigen ließen, – alle diese unzähligen Menschen, die am Tage ihrer Sonntagsruhe hinausgefahren waren, um sich an den reizvollen grünen Ufern und am sommerlichen Rauschen der Baumkronen zu erfreuen, sie alle hörten einen etwa fünf Minuten dauernden seltsamen heulenden Ton.

Diejenigen, die sich an die Zeit des Weltkrieges erinnerten, sagten, während sie den Himmel betrachteten, dass so gewöhnlich die Geschosse der schweren Geschütze geheult hätten. Vielen war es sogar gelungen, einen rasch auf die Erde zugleitenden eiförmigen Schatten zu sehen.

Es war noch keine Stunde vergangen, als eine große Menschenmenge die Stelle umstand, an welcher der Apparat niedergegangen war. Die Neugierigen kamen von allen Seiten angelaufen, sie kletterten über Hecken und Zäune, rasten mit Automobilen herbei und fuhren in Booten über den blauen See. Das Ei stand – bedeckt von einer rußigen Kruste, verbeult und geplatzt, halb auf der Seite liegend – auf der Anhöhe. Es wurde eine ganze Reihe von Vermutungen ausgesprochen, die eine unsinniger als die andere. Eine ganz besondere Erregung bemächtigte sich aber der Menge, als jemand die mit einem Meißel in den halb geöffneten Deckel der Luke eingehauene Inschrift gelesen hatte: »RSFSR. Aus Petrograd abgeflogen am 18. August 192…« Dies war um so erstaunlicher, als man heute den dritten Juni neunzehnhundertund… schrieb. Kurz und gut, der Vermerk auf dem Apparat war vor rund dreieinhalb Jahren gemacht worden.

Als dann aus dem Inneren des geheimnisvollen Apparates ein schwaches Stöhnen hörbar wurde, wich die Menge entsetzt zurück und verstummte. Ein Polizeitrupp erschien, ein Arzt und zwölf Korrespondenten mit Fotoapparaten. Die Luke wurde geöffnet, und aus dem Inneren des Eies holte man unter größten Vorsichtmaßnahmen zwei halb nackte Menschen heraus. Der eine war mager wie ein Skelett, alt, weißhaarig und ohne Bewusstsein, der andere mit zerschlagenem Gesicht und gebrochenem Atmen stöhnte kläglich. Aus der Menge erschollen Ausrufe des Mitleids, Frauen weinten. Die himmlischen Reisenden wurden in ein Automobil gelegt und ins Krankenhaus gebracht.

Ein Vogel sang vor Glück mit kristallener Stimme draußen am offenen Fenster. Er sang vom Sonnenstrahl und vom blauen Himmel. Losj lag unbeweglich in den Kissen. Er lauschte dem Vogel. Tränen liefen über sein runzliges Gesicht. Irgendwo hatte er diese kristallene Stimme schon gehört. Aber wo, wann?

Der Morgenwind blies die nur halb zurückgeschlagenen Vorhänge leicht auf, und dahinter glitzerte blaugrau der Tau auf dem Gras. Schatten von feuchten Blättern bewegten sich auf dem Vorhang. Der Vogel sang. In der Ferne, hinter dem Wald, erhob sich eine dichte weiße Wolke.

Ein Herz sehnte sich nach dieser Erde, nach den Wolken, nach brausenden Wasserströmen und glitzernden Tautropfen, nach Riesen, die über grüne Hügel schreiten … Er erinnerte sich: So hatte an einem sonnigen Morgen – nicht hier auf der Erde – ein Vogel, von den Träumen Aëlitas gesungen … Aëlita … Existierte sie wirklich? Oder hatte er nur von ihr geträumt? Nein. Der Vogel erzählte mit seinem gläsernen Zünglein davon, dass einst eine Frau, bläulich wie die Dämmerung, mit einem traurigen schmalen Gesicht, in einer Nacht am Feuer sitzend, das uralte Lied der Liebe gesungen hatte.

Und darum liefen Losj die Tränen über die faltigen Wangen. Der Vogel sang von der, die dort, weit hinter den Sternen zurückgeblieben war, und von dem grauhaarigen, runzligen alten Träumer, der das Firmament durchflogen hat.

Der Wind blies stärker in den Vorhang, dessen unterer Rand sanft aufflatterte. In das Zimmer drang ein Duft von Honig, Erde und Feuchtigkeit.

An einem solchen Morgen erschien Skyles im Krankenhaus. Er drückte Losj fest die Hand.

»Ich gratuliere, lieber Freund!« Skyles setzte sich auf einen Schemel neben dem Bett und schob den Hut in den Nacken.

»Diese Reise hat Ihnen aber sehr zugesetzt, altes Haus«, sagte er, »ich war eben bei Gussew, der ist ein ganzer Kerl. Die Arme hat er in Gips, eine Kinnlade ist gebrochen, aber er lacht immerzu und freut sich sehr, dass er zurückgekehrt ist. Ich habe seiner Frau nach Petrograd ein Telegramm geschickt und fünftausend Dollar. Ihretwegen habe ich meine Zeitung telegrafisch benachrichtigt. Sie bekommen eine ungeheure Summe für Ihre Reiseskizzen. Aber Ihren Apparat müssen Sie noch vervollkommnen. Sie sind schlecht gelandet. Hol’s der Teufel – wenn man es überlegt – nahezu vier Jahre sind vergangen seit diesem verrückten Abend in Petrograd! Ich gebe Ihnen einen Rat, alter Junge, trinken Sie ein Glas guten Kognak, der bringt Sie wieder ins Leben zurück.«

Skyles plauderte, dabei blickte er vergnügt und zugleich aufmerksam seinen Gesprächspartner an. Sein Gesicht war gebräunt und hatte einen sorglosen Ausdruck, aber die Augen waren voll angespannter Neugierde. Losj streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich freue mich, dass Sie gekommen sind, Skyles.«