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Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas 65

Mythen-und-Sagen-der-IndianerDie Geschichte der Ojibwa

Lange Jahre bevor der weiße Mann das neue Land betreten hatte, stand am Menominee River ein großes Muskogee-Dorf, in dem ein mächtiger Chief wohnte, der die Oberaufsicht über die Fischerei in jenem Strom führte. Weiter unterhalb hatten sich die friedlichen Ojibwa vier Dörfer gebaut, in deren größtem ihr Chief wohnte, der vor Kurzem die Schwester des Muskogee-Häuptlings geheiratet hatte. Beide Stämme standen somit auf dem freundschaftlichsten Fuß. War die eine Nation in einen Krieg verwickelt, so stand ihr die andere treulich bei, und zuletzt ließ sich niemand mehr mit feindlichen Absichten in der Nähe dieser Stämme blicken.

Leider dauerte nun dieses Bündnis nicht sehr lange, denn der alte Muskogee-Chief bekam einst den unedlen Gedanken, den Fluss einzudämmen, sodass die Ojibwa nicht mehr darin fischen konnten. Infolgedessen entstand nun eine große Hungersnot unter ihnen.

Darauf hielten diese eine Ratsversammlung ab und beschlossen, den Sohn ihres Häuptlings ins Dorf der Muskogee zu schicken und den Chief zu bitten, dem Fluss doch wieder freien Lauf zu lassen.

Als jener Häuptling von der Ankunft seines Neffen hörte, nahm er einen dünnen Hirschknochen, machte ihn so spitz wie ein Pfeil und verbarg ihn unter seiner Decke. Als nun der junge Ojibwa bei ihm erschien und seine Bitte vorbrachte, ergriff er ihn bei den Haaren, zog ihn in die Höhe, steckte ihm jenen Knochen zwischen Haut und Hirnschale und sagte: »Sieh, mein lieber Sohn, das ist alles, was ich für dich tun kann!«

Tiefbetrübt ging der Ojibwa nach Hause und bedeckte seinen Kopf, damit niemand den ihm angetanen Schimpf sehen konnte. Am anderen Morgen ließ er alle Krieger seines Vaters zusammentrommeln und erzählte ihnen, indem er die Kopfbedeckung abnahm, wie es ihm bei seinem Oheim ergangen war. Alle mussten nun ihre Keulen herbeiholen, ihre Köcher mit Pfeilen füllen und unter Anführung des jungen Mannes zu dem Muskogee-Dorf marschieren, um jene Schmach zu rächen.

Sie gingen auch alle recht freudig mit, nahmen den Chief nach kurzer Gegenwehr gefangen und fesselten ihn. Jeder andere, der versuchte, Widerstand zu leisten, wurde erbarmungslos niedergemacht und skalpiert.

Dann befahl der Ojibwa-Anführer seinen Leuten, den guten Onkel an den Flussdamm zu führen und schnell einen Stör zu fangen, was denn auch gleich geschah.

»Sieh, lieber Oheim«, sagte er darauf zu ihm, »ich will dir jetzt auch einen kleinen Liebesdienst erweisen. Da du ein großer Liebhaber von Fischen zu sein scheinst und uns sicher deshalb den Fluss eindämmtest und uns hungern ließest, so will ich dich mit einem schönen Stör beschenken, den du, solange du lebst, gut aufbewahren sollst.«

Darauf arbeitete er ihm mit Beihilfe einiger anderer Krieger einen gewaltigen Stör in die Öffnung des Körperteils, den man bei anständigen Leuten nicht gern nennt, und ließ ihn mit dieser Verzierung zu den Überbleibseln seines Stammes zurücklaufen.

Nun wurde der Fluss wieder in sein altes Bett geleitet, und die Ojibwa hatten wieder Fische genug. Aber Ruhe bekamen sie so bald doch nicht wieder, denn die Muskogee verbanden sich mit einigen Stämmen und setzten ihre Feindseligkeit noch viele Jahre fort.

Quelle:

  • Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas, Jena 1871