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Aëlita – Teil 34

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Das Chao

»Sohn des Himmels, Sohn des Himmels«, rief eine ganz feine Stimme. Gussew und Losj näherten sich dem Landgut von der Seite des Wäldchens. Aus dem himmelblauen Dickicht streckte sich ein spitznasiges Gesichtchen hervor. Das war Aëlitas Pilot, ein Knabe in grauer Pelzjoppe. Er klatschte in die Hände und hüpfte dabei umher, sein kleines Gesicht bekam Runzeln wie ein Tapir. Er bog die Zweige auseinander und zeigte auf ein in den Ruinen eines Wasserbehälters verstecktes geflügeltes Boot.

Dann erzählte er: Die Nacht sei ruhig verlaufen. Kurz vor Sonnenaufgang habe er aus der Ferne ein Donnern gehört und dann einen Feuerschein gesehen. Er dachte, die Söhne des Himmels seien umgekommen, war ins Boot gesprungen und zu Aëlita an ihren Zufluchtsort geflogen. Sie hatte die Detonation ebenfalls gehört und blickte von der Höhe eines Felsens auf den Feuerbrand. Sie sagte zu dem Knaben: »Kehre zurück auf das Landgut und warte auf den Sohn des Himmels. Wenn dich die Diener Tuskubs ergreifen, stirb schweigend. Sollte der Sohn des Himmels tot sein, dringe zu seiner Leiche vor, suche bei ihm nach einem kleinen Flakon aus Stein und bringe es mir.«

Losj hatte mit aufeinandergepressten Zähnen der Erzählung des Knaben zugehört. Dann gingen Gussew und Losj zum See und wuschen sich das Blut und den Staub ab. Gussew schnitt sich von einem starken Baum einen Knüppel, beinahe so groß wie die Hinterhand eines Pferdes. Sie setzten sich danach in das Boot und stiegen auf in die strahlende Bläue.

Gussew und der Pilot brachten das Boot in die Höhle, legten sich vor dem Eingang hin und breiteten eine Karte aus. Um diese Zeit kam Icha von oben, von dem Felsen heruntergelaufen. Als sie Gussew erblickte, fasste sie sich mit beiden Händen an die Wangen. Tränen stürzten in Bächen aus ihren verliebten Augen. Gussew lachte vor Freude.

Losj stieg allein hinunter in die Schlucht zur Heiligen Schwelle. Wie auf Windesflügeln trug es ihn über die steilen Treppchen, über die schmalen Übergänge und Brücken. Was würde mit Aëlita, was mit ihm geschehen? Würden sie sich retten können oder untergehen? Er überlegte nicht, und wenn die Gedanken daran kamen, schob er sie von sich. Die Hauptsache und das Erschütternde war, dass er jetzt gleich die aus dem Licht der Sterne Geborene wiedersehen würde. Nur hineinschauen in dieses schmale bläuliche Gesicht, sich selbst vergessen in den Wogen der Freude.

Als er voller Ungestüm über die bogige Brücke lief, durch die Dampfwolken, die von dem darunterliegenden Höhlensee aufstiegen, erblickte Losj, ebenso wie beim ersten Mal, die jenseits der niedrigen Säulen sich ausbreitende Mondlandschaft der Berge. Er trat vorsichtig auf das Felsplateau hinaus, das über dem Abgrund hing. Matt schimmerte das Gold der Heiligen Schwelle.

Es war drückend heiß und still. Voller Rührung und Zärtlichkeit hätte Losj am liebsten das rötliche Moos, die Spuren der Füße auf dieser letzten Zufluchtsstätte der Liebe geküsst.

Tief unter ihm ragten verkarstete Bergspitzen in die Höhe. Im dunklen Blau funkelten die Gletscher. Ein stechendes Gefühl der Trauer presste sein Herz zusammen. Da war die Asche von dem Feuer, dort das zerdrückte Moos an der Stelle, wo Aëlita das Lied der Ulla gesungen hatte. Eine Eidechse mit gratigem Rückenkamm lief zischend über die Steine und erstarrte mit zurückgewandtem Kopf.

Losj näherte sich dem Felsen, der kleinen dreieckigen Tür. Er öffnete sie, bückte sich und betrat die Höhle.
In den weißen Kissen, im Schein des von der Decke herabhängenden Lämpchens, schlief dort Aëlita. Sie lag auf dem Rücken und hatte den nackten Arm unter den Kopf geschoben. Ihr schmales Gesichtchen sah traurig und sanft aus. Die fest geschlossenen Wimpern zuckten, wahrscheinlich träumte sie.

Losj kniete am Kopfende ihres Lagers nieder und blickte, gerührt und erregt, auf die Gefährtin des Glücks und des Leids. Alle Qualen der Welt hätte er jetzt ertragen mögen, damit dieses wunderbare Antlitz sich niemals verdüstere, damit sein Liebreiz, der unschuldige Atem der Jugend ewig erhalten bliebe. Sie atmete, und eine Strähne ihres aschfarbenen Haars, die auf ihrer Wange lag, hob und senkte sich.

Losj musste an das denken, was da unten in der Dunkelheit des Labyrinths, in dem tiefen Schacht, atmete, raschelte und zischte und auf seine Stunde wartete. Er stöhnte auf vor Angst und Unruhe des Herzens.

Aëlita erwachte mit einem tiefen Atemzug. Einen Augenblick lang sahen ihre Augen Losj verständnislos an. Ihre Brauen hoben sich verwundert. Mit beiden Händen stützte sie sich auf die Kissen und richtete sich auf.

»Sohn des Himmels«, sagte sie leise und zärtlich, »mein Sohn, meine Liebe …«
Sie verdeckte nicht ihre Blöße, nur eine Röte der Verwirrung stieg in ihre Wangen. Ihre bläulichen Schultern, ihre kaum entwickelte Brust und die schmalen Hüften erschienen Losj, als wären sie aus dem Licht der Sterne geboren. Er verharrte weiter in kniender Stellung vor dem Bett und schwieg, denn allzu groß war die Freude, die Geliebte anzuschauen. Wie gewitterschwangere Dunkelheit kam ein bittersüßer Duft auf ihn zu.
»Ich habe dich im Traum gesehen«, sagte Aëlita, »du hast mich auf den Armen über gläserne Treppen getragen, immer höher hinauf. Ich hörte das Pochen deines Herzens. Dein Blut schlug darin und erschütterte es. Und Sehnsucht ergriff mich. Ich wartete darauf, dass du endlich stehen bleiben würdest, dass die Sehnsucht ein Ende haben würde. Ich will wissen, wie die Liebe ist. Ich kenne nur die Schwere und die Entsetzlichkeit der Sehnsucht … Du hast mich aufgeweckt.« Sie hielt inne, ihre Brauen hoben sich noch mehr. »Du blickst so seltsam, o mein Riese!«
Mit einer hastigen Bewegung rückte sie von ihm bis an den äußersten Rand des Bettes ab. Ihr Mund war leicht geöffnet, als wollte sie sich wie ein kleines wildes Tier verteidigen.
Losj sprach mit Anstrengung: »Komm zu mir.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du ähnelst dem furchtbaren Tscha.«
Mit ungeheurer Anstrengung des Willens bedeckte er sofort das Gesicht mit der Hand, und ihm war, als erfasste ihn eine Flamme – alles in ihm wurde jetzt zu Feuer. Er nahm die Hand vom Gesicht, und Aëlita fragte leise: »Was ist dir?«
»Fürchte dich nicht.«
Sie näherte sich Losj und flüsterte wiederum: »Ich habe Angst vor dem Chao. Ich werde sterben.«
»Fürchte dich nicht. Das Chao – das ist das Feuer, das ist das Leben … Fürchte dich nicht vor dem Chao. Komm her zu mir, du meine Liebe!«
Er streckte die Arme nach ihr aus.

Aëlita seufzte unhörbar auf, ihre Wimpern senkten sich, der gespannte Ausdruck ihres Gesichts verschwand, sie sah plötzlich ganz eingefallen aus. Mit einer raschen Bewegung erhob sie sich auf dem Bett und blies das Öllämpchen aus.
Ihre Hände verfingen sich in Losjs schneeweißem Haar.
Hinter der Tür der Höhle erscholl ein Geräusch wie das Summen von unzähligen Bienen. Weder Losj noch Aëlita hörten es. Das Geräusch schwoll zu einem Heulen an. Und da erhob sich aus dem Abgrund, gleich einer ungeheuerlichen Wespe, langsam und mit dem Bug gegen die Felsen stoßend, ein Militärluftschiff.
Das Schiff verharrte in der Luft schwebend in Höhe des Felsplateaus. Von Bord wurde eine Leiter auf den Rand des Plateaus herabgelassen. Auf ihr stiegen Tuskub und eine Abteilung Soldaten in Panzern und metallischen, gerippten Kopfbedeckungen hinunter auf das Plateau.
Die Soldaten stellten sich im Halbkreis vor der Höhle auf. Tuskub trat auf die dreieckige Tür zu und schlug mit dem Ende seines Stockes dagegen.
Losj und Aëlita lagen in tiefem Schlaf. Tuskub wandte sich zu den Soldaten um und befahl, mit dem Stock auf die Höhle weisend: »Nehmt sie!«