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Aëlita – Teil 33

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Das Labyrinth der Königin Magr

Vorsichtig bewegten sich Losj und Gussew in der moderigen und schwülen Dunkelheit vorwärts. »Wir biegen um eine Ecke, Mstislaw Sergejewitsch …«

»Wird es eng?«
»Nein, breit – die Hände reichen nicht von einer Wand zur anderen.«
»Da sind wieder Säulen. Halt! Wo sind wir denn …«

Nicht weniger als drei Stunden waren vergangen, seit sie in das Labyrinth eingestiegen waren. Die Streichhölzer waren aufgebraucht. Die Taschenlampe hatte Gussew schon während der Rauferei verloren. Sie wanderten in undurchdringlicher Dunkelheit.

Die Tunnel zweigten ohne Ende ab, kreuzten sich oder gingen in die Tiefe. Manchmal hörten sie das deutliche und eintönige Aufschlagen von fallenden Tropfen. Die weit geöffneten Augen unterschieden graue, unklare Umrisse, doch diese schwankenden Flecken waren nur Halluzinationen des Dunkels.

»Halt!«
»Was ist?«
»Der Boden ist weg.«
Ein angenehmer trockener Windhauch schlug ihnen ins Gesicht. Ganz aus der Ferne, wie aus der Tiefe herauf, hallten seufzerähnliche Laute – ein Ein- und Ausatmen. Mit unklarer Besorgnis spürten sie, dass vor ihnen ein Abgrund gähnte. Gussew scharrte mit den Füßen nach einem Stein und stieß ihn in die dunkle Tiefe. Einige Sekunden später drang der schwache Ton des Aufschlags zu ihnen herauf.

»Eine Versenkung.«
»Aber was atmet da?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie kehrten um und trafen auf eine Wand. Sie tasteten nach rechts, nach links – die Hände glitten über abbröckelnde Risse, über vorragende Gewölbepfeiler. Der Rand des unsichtbaren Abgrunds war ganz nahe bei der Wand: bald rechts, bald links, dann wieder rechts. Sie merkten, dass sie sich im Kreise drehten und den Gang nicht finden konnten, durch den sie auf dieses schmale Gesims eines Schachtes geraten waren.

Sie lehnten sich nebeneinander, Schulter an Schulter, gegen die unebene Wand. So standen sie und horchten auf die einschläfernden Seufzer aus der Tiefe.

»Das Ende, Alexej Iwanowitsch?«
»Ja, Mstislaw Sergejewitsch, offenbar das Ende.«

Nach einer Weile des Schweigens fragte Losj mit seltsamer Stimme, nicht laut: »Jetzt eben – sehen Sie nichts?«
»Nein.«
»Links, ganz weit.«
»Nein, nein.«
Losj flüsterte etwas vor sich hin, trat von einem Fuß auf den anderen.
»Ingrimmig und gebieterisch das Leben lieben … Nur so …«
»Von wem reden Sie?«

»Von denen. Aber auch von uns.« Gussew wechselte ebenfalls die Lage der Füße, seufzte dann auf. »Da ist er, hören Sie, er atmet.«
»Wer – der Tod?«
»Der Teufel soll es wissen, wer!« Gussew begann zu sprechen, wie verloren in seine Gedanken. »Ich habe lange an ihn gedacht, Mstislaw Sergejewitsch. Man liegt mit dem Gewehr auf dem Feld, es ist dunkel und regnet. An was man auch denken mag – immer wieder kommt man auf den Tod zurück. Und du siehst dich selber: Du liegst irgendwo am Straßenrand, die Zähne gefletscht, erstarrt, wie ein Lastpferd. Ich weiß nicht, was nach dem Tod sein wird – das weiß ich nicht. Aber hier, solange ich lebe, hier will ich wissen: Bin ich ein Mensch oder bin ich ein Pferdekadaver? Oder ist das alles egal? Wenn ich sterbe, wenn meine Augen sich verdrehen und ich die Zähne zusammenpresse, wenn mich die letzten Zuckungen überwältigen und dann alles zu Ende ist … in diesem Augenblick, wird dann die ganze Welt, alles was ich mit meinen Augen gesehen habe, wird sie aus den Angeln gehoben sein oder wird sie es nicht? Das ist ja das Schreckliche, ich liege tot da, mit gebleckten Zähnen – und das soll ich sein? Ich kenne mich doch vom dritten Lebensjahr an … Und alles auf der Welt soll seinen Gang weitergehen? Das ist nicht zu begreifen. Seit 1914 morden wir Menschen, und wir haben uns daran gewöhnt. Was ist ein Mensch? Du legst das Gewehr auf ihn an, und der Mensch ist gewesen. Nein, Mstislaw Sergejewitsch, das ist nicht so einfach. Ich habe einmal in der Nacht auf einem Wagen gelegen, verwundet, mit der Nase nach oben und ich schaute zu den Sternen empor. Es war, als läge ein Stein auf meinem Herzen, übel konnte einem werden. Eine Laus, dachte ich bei mir, oder ich – ist das nicht ganz dasselbe. Die Laus will essen und trinken, und ich auch. Der Laus fällt das Sterben schwer und mir auch. Das gleiche Ende. Und in diesem Moment sah ich, dass die Sterne herausgekommen waren – als hätte jemand Hirse ausgestreut … es war schon Herbst, im August. Und da erbebte mir doch das Herz. Mir schien, Mstislaw Sergejewitsch, als ob alle Sterne in meinem Inneren wären. Nein, ich bin keine Laus. Nein. Wenn mir die Tränen aus den Augen strömen … Was ist denn das? Der Mensch ist keine Laus. Mir den Schädel spalten – das ist eine entsetzliche Tat, ein ungeheuerlicher Mordanschlag. Aber da hat man sich auch noch Giftgase ausgedacht. Ich will leben, Mstislaw Sergejewitsch. Ich kann hier nicht in dieser verdammten Finsternis … Was stehen wir denn hier, in der Tat …«
»Er ist hier«, sagte Losj, noch immer mit einer seltsamen Stimme.
Zur selben Zeit lief von weit her ein Donnergepolter durch die zahllosen Tunnel. Das Gesims, auf dem sie standen, zitterte, die Wand bebte. Steine kollerten in die Dunkelheit. Die Wellen des Donnergepolters rollten vorüber, ebbten ab und verklangen in der Ferne. Das war die siebente Explosion. Tuskub hatte sein Wort gehalten. Nach der Entfernung ließ sich feststellen, dass Soazera jetzt weit im Westen lag.

Eine Zeit lang hörte man noch fallende Steinchen schurren. Dann wurde es still, noch stiller. Gussew bemerkte als Erster, dass die Seufzer in der Tiefe aufgehört hatten. Jetzt drangen von dort merkwürdige Laute in die Höhe – ein Rascheln, ein Zischen. Es war, als begänne dort eine breiige Flüssigkeit zu kochen. Gussew schien jetzt völlig den Kopf verloren zu haben. Er lief tastend mit ausgebreiteten Armen an der Wand entlang, aufschreiend, schimpfend und Steine fortschleudernd.

»Das Gesims zieht sich im Kreis herum. Hören Sie? Es muss einen Ausgang geben. Teufel, ich bin mit dem Kopf angestoßen.«

Eine Weile bewegte er sich schweigend vorwärts, dann rief er aufgeregt von irgendwoher, unmittelbar vor Losj, der, ohne sich zu rühren, an der Wand stehen geblieben war.

»Mstislaw Sergejewitsch … Eine Klinke … Ein Hebelschalter … Wahrhaftig, ein Hebelschalter …«

Ein kreischendes, rostiges Knirschen – ein staubiges Licht flammte unter einer niedrigen Kuppel aus Ziegelsteinen auf. Die Pfeiler des flachen Gewölbes stützten sich auf den schmalen Ring des Gesimses, das über einem runden Schacht von etwa zehn Meter Durchmesser hing.

Gussew hatte noch immer den Griff des Hebelschalters gefasst. Auf der gegenüberliegenden Seite des Schachts, unter einem der Kuppelbogen, lehnte Losj dicht an der Wand. Er hatte vor dem blendenden Licht die Augen mit der Hand verdeckt. Dann sah Gussew, wie Losj die Hand von den Augen wegnahm und hinunter in den Schacht blickte. Er beugte sich weit vor, blickte aufmerksamer hin. Seine Hand begann zu zittern, als ob er mit den Fingern etwas abschütteln wollte. Er hob den Kopf, seine Haare standen zu Berge und glichen einem Heiligenschein, die Augen waren weit aufgerissen, wie vor tödlichem Entsetzen.

Gussew schrie ihm zu: »Was sehen Sie da?«, und blickte erst dann in die Tiefe des steinernen Schachtes. Dort schwankte und wälzte sich ein schwarzbraunes Fell hin und her. Von ihm ging dieses Zischen aus, dieses immer stärker werdende Unheil verkündende Geraschel. Das Fell hob sich, blähte sich auf. Es war ganz und gar bedeckt von Augen, die dem Licht zugewendet und groß wie Pferdeaugen waren, von zottigen Pfoten.

»Der Tod!«, schrie Losj. Das war eine ungeheure Ansammlung von Spinnen. Sie lebten und vermehrten sich offenbar dort unten in der warmen Tiefe des Schachtes. Die Explosion hatte sie aufgestört, und sie begannen in die Höhe zu klimmen, sich in ihrer ganzen Masse aufblähend. Sie waren es, die dieses Zischen und schurrende Geraschel von sich gaben. Da rannte auch schon eine dieser Spinnen knickebeinig auf dem Gesims entlang.

Der auf das Gesims führende Zugang befand sich nicht weit von Losj.

Gussew schrie: »Los, fort!«, und setzte mit einem mächtigen Sprung über den Schacht hinweg, wobei er mit dem Schädel an das Kuppelgewölbe stieß. Er fiel neben Losj in die Hocke, ergriff ihn bei der Hand und zog ihn zum Durchgang, in den Tunnel. Sie rannten, was sie konnten.

Staubige Laternen brannten in ziemlicher Entfernung voneinander an der gewölbten Decke des Tunnels. Eine dicke Staubschicht lag auf dem Boden und auf den Trümmern von Säulen und Statuen, auf den Schwellen der schmalen Türen, die in andere Durchgänge führten. Gussew und Losj gingen recht lange durch diesen Korridor. Er mündete in einen Saal mit flachem Gewölbe und niedrigen Säulen. Mitten im Saal stand die halb zerstörte Statue einer Frau mit einem dicken und grimmigen Gesicht. Im Hintergrund des Saales gähnten schwarz die Öffnungen von Wohnräumen. Hier lag auch Staub – auf der Statue der Königin Magr, auf dem zerbrochenen Gerät.

Losj blieb stehen, seine weit aufgerissenen Augen waren gläsern geworden.

»Es sind Millionen dort«, sagte er und blickte um sich. »Sie warten, ihre Stunde wird kommen, sie werden sich des Lebens bemächtigen, sie werden den Mars bevölkern …«

Gussew zog ihn mit sich fort in einen von dem Saal ausgehenden sehr breiten Tunnel. Auch dort brannten in weiten Abständen trübe Laternen. Sie gingen lange. Sie ließen eine bogenförmige Brücke hinter sich, die über einen breiten Spalt hinwegführte. Auf seinem Grund lagen die zerbrochenen Teile gigantischer Maschinen. Und weiter zogen sich wieder die staubigen grauen Wände. Niedergeschlagenheit legte sich auf ihre Seele. Die Beine wollten sie vor Müdigkeit nicht weiter tragen.

Losj wiederholte mehrmals mit leiser Stimme: »Lassen Sie mich, ich möchte mich hinlegen.«

Sein Herz hörte auf zu schlagen. Eine entsetzliche Schwermut bemächtigte sich seiner, und er schleppte sich stolpernd auf Gussews Spuren durch den Staub. Kalte Schweißtropfen rannen ihm über das Gesicht. Losj hatte dort hineingeschaut, woher es keine Wiederkehr geben kann. Und doch hatte ihn eine noch mächtigere Gewalt von jener Grenze weggeführt, und nun schleppte er sich halb tot durch die nicht enden wollenden leeren Korridore.

Der Tunnel machte eine scharfe Biegung. Gussew schrie auf. Im halbrunden Rahmen öffnete sich vor ihren Augen ein dunkelblauer, die Augen blendender Himmel und der in Eis und Schnee strahlende Gipfel des für Losj so denkwürdigen Berges. Sie verließen das Labyrinth in der Nähe von Tuskubs Landgut.