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Atlantis Teil 9

Tredrup sah den Rosenstrauß durch die Arena fliegen. In Bruchteilen einer Sekunde begriff er, was geschehen war. Seine scharfen Blicke fuhren von dem niederfallenden Strauß zurück, dahin, von wo er gekommen war. Schräg vor sich sah er in einer Loge eine weibliche Gestalt, deren Arm eben zurücksank. Er sah das Stutzen des Pferdes … und den Sturz.

Er sah, wie die ungeschickte Werferin von der nächsten Umgebung mit Ausdrücken des Unwillens und Tadels bedacht wurde. Sah, wie diese sich unter allen Anzeichen der Bestürzung und Verlegenheit erhob, um den Zirkus zu verlassen. Sie trat aus der Loge in den Kreisgang, wandte dabei ihr Antlitz den höheren Reihen zu.

Ein eisiger Schreck fuhr durch Tredrups Glieder.

Juanita war es … Juanita!

Wie kam Juanita hierher? Sie war die Ungeschickte … sie.

Tausend Gedanken stürmten auf ihn ein. Verwirrend … betäubend.

Mechanisch erhob er sich und folgte der Enteilenden. Verlor sie kurze Zeit aus den Augen. Sah sie dann über den freien Platz vor dem Zirkus auf den Nationalpark zuschreiten. Er folgte ihr. Widerstrebend und doch gezwungen. Als sie in das Dunkel eines Seitenweges einbog, beschleunigte er seine Schritte.

»Juanita!«

Die Gestalt blieb vor ihm stehen und drehte sich mit jähem Ruck um.

»Was ist? Was … was wollen Sie? Wer sind Sie?«

Er sah ihre Hand in die Tasche gleiten. Hörte ein leichtes Knacken.

»Nicht nötig, Juanita. Gut Freund!«

»Gut Freund?« Wie ein bitteres Lachen klang das Wort. »Wer sind Sie?«

»Du erkennst meine Stimme nicht wieder? Ja, ja … früher sprach sie in anderen Tönen zu dir.«

»Klaus … du? Du bist es, Klaus?«

»Ich bin es.«

»Was willst du von mir? Warum verfolgst du mich?«

»Verfolgen? Verfolge ich dich?« Tonlos kam es von seinen Lippen. »Ja! Ich verfolge dich … ich folge dir, Juanita.« Tief atmend stand er vor ihr.

»Warum? Was willst du von mir? Wo sahst du mich? Sind unsere Wege nicht geschieden … auf ewig?«

»Unsere Wege sind geschieden, Juanita. Du hast recht! Geschieden seit jenem Tag – und doch folgte ich dir jetzt, als ich sah … im Zirkus sah …«

Mit kurzem Schritt war Juanita auf ihn zugetreten. »Du warst dort? Und?«

»Ja, Juanita. Ich war dort. Ich kam erst spät. Ich sah dich nicht. Nicht eher, als bis du …«

»Was sahst du?«

»Ich sah, wie du den Rosenstrauß dem Pferd vor die Füße schleudertest, dass es den Sprung verfehlte und seine Reiterin unter sich begrub.«

»Das sahst du?«

»Ja, das sah ich.«

»Und was weiter? Folgst du mir deshalb?«

»Deshalb? Ich weiß nicht … Ich weiß nur, dass ein Schreck mich fasste, als diese Hand die deine war.«

»Was sagst du? Was willst du damit sagen?«

Er fühlte, wie ihre Finger sich in seinen Arm gruben.

»Nichts, Juanita! Ich will nichts sagen. Als ich dich erkannte, da war es mir, als ob ich dir folgen … als ob ich dich sprechen müsste.«

»Du sprichst in Rätseln, Klaus. Was soll das alles?«

Er fühlte, wie ihr Gesicht im Dunkeln sich an das seine heranschob. Er fühlte ihren warmen Atem, der sich stoßweise aus der Brust rang.

»Was das soll? Ich weiß es … nicht, Juanita.«

Dann, mit einer brüsken Bewegung, schleuderte er ihre Hände ab.

»Juanita! War das Absicht? Wolltest du das?«

»Klaus! Bist du wahnsinnig oder trunken? Was sagst du da?«

»Antworte! Du! War das …?«

Die Fäuste geballt, stand er vor ihr. »Antworte! Du!«

»Du bist wahnsinnig, Klaus! Was kümmert mich die Fremde? Geh weg! Lass mich! Was kümmere ich dich? Was kümmerst du mich?«

»Juanita!« Es war ein Ton aus tiefstem Herzensgrund. »Juanita! Du! Ich bitte dich … Ich bitte dich bei allem, was uns einst verband.«

Ihre Hand hob sich leise … bittend … abwehrend.

»Klaus! Was ist dir! Was denkst du?«

»Ich weiß nicht, was ich denke, Juanita. Ich fürchte …«

»Was fürchtest du, Klaus?«

»Für dich fürchtete ich, für dich.«

»Klaus!« Es war der Ton … jener alte, vertraute Klang.

Seine starke Gestalt fiel zusammen, griff, wie nach einer Stütze suchend, nach ihrem Arm.

»Juanita! Ich weiß, du schicktest mir jene Warnung, die das verglommene Feuer wieder anschürte.«

»Klaus!« Sie legte ihre Hand auf die seine. »Klaus, du bist krank! Ich hörte von dem Unfall, der dich traf. War froh, als ich hörte, dass du vom Schacht weggegangen bist. Wärst du doch meiner Warnung gleich gefolgt. Du bist krank, Klaus! Ich fühle, wie dein Arm zittert. Wir werden jetzt zurückgehen. Ich werde dich begleiten, bis …«

»Nein, Juanita! Nein! Ich bin nicht krank. Der Unfall dort … keine Bedeutung. Und doch!« Er fasste sie mit beiden Händen an den Schultern. »Du! Sage mir, was tatest du eben? Sag es mir! War das Absicht? Wolltest du das?«

Seine Finger krampften sich in das weiche Fleisch ihrer Schultern, dass sie ächzend niedersank.

»Klaus! Klaus! Du tust mir weh. Was tat ich, dass …«

Sie war auf die Knie gesunken. Ein leises Wimmern kam aus ihrem Mund.

Er kämpfte gegen den Drang, sich hinunterzubeugen, sie an sich zu reißen.

»War es Absicht?« Er schrie es. »Sage es! Sage nein! Oder ich muss verzweifeln.«

Tredrup beugte sich hinab und legte seine Hand um ihr Haupt. »Juanita! Sage es! Sage es …«

Und dann fühlte er, wie ihr Haupt sich emporhob. Wie ein Hauch klang es.

»Nein, Klaus!«

»Nein? O Gott, ich danke dir! Juanita!«

Er riss sie in die Höhe und hielt sie in den Armen.

»Nein! Juanita! Wie danke ich dir für dies kleine Wort. Wenn du wüsstest, was es für mich bedeutet.«

Minuten verrannen. Er spürte am Beben ihrer Schultern die Bewegung, die in ihr stürmte. Er fühlte, wie die Erregung matter wurde, wie sie sich immer schwerer an seine Brust legte, die Arme seinen Nacken umschlangen. Er stand und vergaß … vergaß alles.

Eine weiche Hand strich über sein Gesicht. Ein Kuss brannte auf seinen Lippen. Ein verzehrender Brand kam über ihn. Sein Arm pressste sie an sich.

Und dann war sie ihm entglitten. Ein leiser Hauch: »Klaus, Klaus, du …«, drang an sein Ohr.

Ein leichter Schritt verhallte im Dunkel des Weges, und dann war er allein.

 

*

 

Die Sirenen heulten über der Grubenstadt Wibehafen: zweite Schicht!

Doch was war? Die Menge, die die Schächte umlagerte, dachte nicht an Einfahren. Sie brandete hin und her. Wirre Reden … gestikulierende Arme … laute Drohworte.

Die Menschenmenge wuchs mit jeder Minute. Alles, was von der ersten Schicht zutage fuhr, gesellte sich dazu.

Ein Arbeiter sprang auf eine Lore. Die Massen drängten sich um ihn. Seine laute, gellende Stimme drang weit über den Zechenplatz.

»Kameraden! Keine Stunde länger hier! Lügner, die da drüben …« Er deutete mit der Faust nach dem Direktionsgebäude. »Wir wussten es besser, von Anfang an. Der Einbruch auf Sohle vier hat bewiesen, dass wir recht hatten. Was mit Black Island geschah, wird sich hier wiederholen. Spitzbergen wird sich heben. Die Schächte werden zerquetscht werden, die Sohlen zusammenbrechen – ein Grab für die tausend Kameraden, die da drinstecken! Weg von hier! Wie sich die Gelegenheit bietet!«

Tosendes Beifallsgebrüll von allen Seiten verschlang die letzten Worte. »Zu Schiff! Zu Schiff!«, schrie die Menge.

Im Verwaltungsgebäude waren die Direktoren versammelt. Blässe lag auf mehr als einem Gesicht. Das Erwartete war eingetreten.

Die Tür öffnete sich. Der Chefingenieur trat herein. Mit einem Ruck wandten sich alle Köpfe ihm entgegen. Er genoss das unbegrenzte Vertrauen der Belegschaft. Sein Eingreifen allein konnte in letzter Stunde noch eine Wendung zum Guten bringen.

Von allen Seiten flogen ihm Fragen entgegen. Ein Kopfschütteln ließ sie verstummen.

»Unmöglich, meine Herren! Keine Macht der Erde, kein Gott bringt die Leute wieder in den Schacht. Das natürliche Einbrechen des Hangenden auf Sohle vier hat ihnen den letzten Rest der Besinnung geraubt.«

Die Bestimmtheit, mit der diese Worte gesagt wurden, ließ jede weitere Frage verstummen. Der Chefingenieur sprach weiter.

»Es heißt, sich in das Unabänderliche fügen, meine Herren, und unsere Hoffnung auf eine vielleicht recht ferne Zukunft zu richten. Meine einzige Sorge ist, dass bis dahin die Notstandsarbeiten fortgeführt werden. Ich hoffe, dass es mir gelingen wird, das dazu nötige Personal halten zu können.

Das wäre die Lage, soweit sie uns betrifft. Es wäre noch die Frage zu erledigen, wie dem zu erwartenden Ansturm auf die einlaufenden Schiffe am besten zu begegnen ist. Bei der Kopflosigkeit der Leute ist zu erwarten, dass sie die ersten ankommenden Schiffe in Massen stürmen werden. Es könnten sich da Szenen abspielen, die zum Chaos führen. Es wird unsere Aufgabe sein, die Flucht zu organisieren.«

Murmeln … Fragen … Sprechen … die Abneigung war deutlich zu merken.

»Jawohl, meine Herren! Unsere Sache ist es …« Die Worte, mit Schärfe gesprochen, ließen alle verstummen. »Ich werde die Aufgabe übernehmen und auch die Verantwortung tragen. Mithilfe der Besonnenen werde ich den Abtransport organisieren. Noch einmal, meine Herren«, der Chefingenieur wandte sich zum Gehen, »fügen wir uns in das Unabänderliche. Der Sturm wird sich legen … früher oder später …«

Als der Chefingenieur aus dem Verwaltungsgebäude auf den Zechenplatz trat, sah er noch eben den Redner von der Lore springen. Sah die Massen in Bewegung geraten und dem Ausgang zudrängen. Sein Auge suchte nach älteren, ihm vertrauten Leuten, mit denen er dem Chaos entgegensteuern könnte.

Da! Was war das? Eine neue Gestalt auf jenem Wagen.

Der Chefingenieur kniff die Brauen zusammen.

Er? Der von da drüben? Vom alten Leuchtturm … Was wollte der?

Der Chefingenieur schüttelte den Kopf.

Dafür? Oder dagegen? Was hat der Mann vor?

Er sah von der erhöhten Steintreppe aus, wie die Massen in nächster Nähe des neuen Redners sich wandten, zurückwandten, wie die Köpfe sich zu ihm hoben.

Sah, wie der Blick des Mannes über den Zechenplatz schweifte. Glaubte auch selbst davon getroffen zu sein … glaubte auch selbst eine Wirkung zu verspüren … unerklärlich … rätselhaft … bannend … zwingend.

Und dann sah er, wie die Massen sich immer dichter um die Lore zusammenkeilten. Sah, wie der da oben die Lippen öffnete. Sah, wie vom Zechentor her ein Rückstrom kam, sah geballte Fäuste sich heben und sich senken. Sah, wie die an seinem Mund hingen und seinen Worten folgten … und Stille eintrat … und er auch zu hören begann und er auch stand und lauschte.

Was war das? Was geschah hier? War es wirklich jener von da drüben? Ja, er war es! Ein Mensch … war es ein Mensch?

Er hielt die Augen zu. Seine Gehörnerven spannten sich zum äußersten. Und er hörte alles, was jener wundersame Mensch da oben sprach. Sein Kopf senkte sich immer tiefer. Die Töne, die von da oben kamen, drangen tief in sein Innerstes ein. Verwirrend … betäubend … beruhigend.

Er fühlte sich mit allen Fasern des Seins gezogen … gepackt. Er fühlte einen Willen, stärker, als er ihn je gefühlt, der ihn zwang … fesselte … willenlos machte.

Und er stand und hörte …

Der Redner schien geendet zu haben. Die Stimme da oben verstummte.

Der Chefingenieur hob den Kopf, richtete seine Augen auf die Gestalt des Redners. Sah, wie jener die Rechte ausstreckte … zum Schachtturm wies.

»Und nun geht an eure Arbeit!«

Kein gebieterischer Ton … kein Befehl … einfach, ruhig … fast gelassen klangen die Worte.

Der Chefingenieur stand einen Augenblick starr. Was?

Noch immer die Gestalt da oben auf dem Wagen. Die Rechte nach dem Zechenhaus deutend. Die Blicke langsam im Kreis über die Gesichter der Belegschaft gleitend.

Eine kurze Spanne tiefster Stille und Ruhe. Dann wandten sich die Köpfe. Die Massen gerieten in Bewegung.

Da … dort … überall lösten sich einzelne Gruppen und strebten dem Förderturm zu.