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Der Welt-Detektiv Band 6

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Das Sündenhaus

Thomas Hawkins, Sohn eines Geistlichen, hat sein bisheriges Leben damit verbracht, gegen alle Regeln, die ihm auferlegt wurden, zu rebellieren und landete mehr oder weniger in Schwierigkeiten. In seinem ersten Auftritt teilte er sich im berühmt-berüchtigten Londoner Marshalsea-Gefängnis mit einem Mörder eine Zelle.

Zum zweiten Mal sehen wir ihn, als er vom Tod zurückgebracht wurde, weil er sich wegen Mordes schuldig gemacht hatte und eine Reise zum Schafott antreten musste. Nun geht er nach Norden auf eine Mission für Königin Caroline von Ansbach, Gemahlin von Georg II. Seine Situation ist mehr als verflixt. Wenn er die Mission nicht erfüllt, sieht er Kitty hängen, wenndie Wahrheit über ihre Beteiligung am Tod eines Mannes offenbart wird.

Die Story setzt im Jahr 1701 mit einem Feuer im Haus von John Aislabie am Red Lion Square in London ein. Das Hausmädchen Molly Gaining legt das Feuer in einer Dachkammer und beabsichtigt damit, von ihrem Diebstahl von Geld und Juwelen ihres Arbeitgebers abzulenken. Das Feuer vernichtet das Haus, in welchem Aislabies Frau Ann und seine jüngste Tochter Lizzie den Tod finden.

Nach 27 Jahren hat Aislabie eine ziemlich erfolgreiche politische Karriere genossen, in der er es bis zum Schatzkanzler gebracht hat. Er ist eine umstrittene Person, die am Südseeschwindel des Jahres 1720 in seiner Rolle als Schatzmeister der Marine beteiligt war und vielen Familien den Ruin brachte. Aislabie wurde aus dem Parlament vertrieben und für kurze Zeit im Tower von London eingesperrt. Mit seiner zweiten Frau Judith bei Studley Royal in Nord-Yorkshire lebend, sient sich Aislbie bedroht. Er hat schlecht geschriebene Briefe erhalten, und dann, am Tag der Ankunft von Hawkins, wird der blutige Kadaver eines Hirsches vor der Haustür abgelegt. Das Innere der Hirschkuh ist entfernt worden, aber das tote Kitz, welches sie trug, ist zurück in die leere Bauchhöhle gelegt worden. Jemand will sicherstellen, dass Aislabie die Nachricht bekommt. Der Hirsch ist eindeutig für ihn bestimmt. Aber ist die junge Witwe Elizabeth Fairwood, welche ebenfalls bei Studley Royal wohnt und behauptet, seine längst verstorbene Tochter zu sein, auch in Gefahr? Mehr als ein Mitglied des Haushaltes betrachten diese Behauptung als zweifelhaft. Dies bietet Thomas Hawkins die Möglichkeit, noch ein anderes Rätsel zu lösen.

Es ist durchaus möglich, Das Sündenhaus als eigenständigen Roman zu lesen, doch ist es aus meiner Sicht empfehlenswert, sich mit den zwei vorherigen Romanen Das Teufelsloch und Der Galgenvogel zu beschäftigen, um ein abgerundetes Bild von Hawkins, Kitty und Sam, ein junger Verbrecher, den Thomas im Mashalsea begegnete, zu bekommen. Für diejenigen, die zum ersten Mal mit dieser Reihe konfrontiert werden, sei gesagt, dass Hawkins nicht wirklich ein sympathischer Charakter ist. Sicherlich sehen einige in dem Hauptprotagonisten einen heroischen Rebell, aber mit der Erziehung, welche er genossen hat, genießt er das Leben im Gegensatz zu Kitty und Sam als Nichtsnutz. Thomas ist an der Einhaltung gesellschaftlicher Normen nicht sehr interessiert, obwohl er sich bewusst ist, dass der Umgang mit Kitty, wenn dieser öffentlich bekannt würde, sich problematisch für seine Glaubwürdigkeit als Ermittler auswirken könnte. Was Thomas rettet, ist die Tatsache, dass er mit Kitty und Sam verbunden ist. Ihre Sicherheit hat für ihn oberste Priorität – ein Charakterzug, der sich fest einprägt.

Das Sündenhaus ist eine unterhaltsame Lektüre, die Seite für Seite an Fahrt aufnimmt.

Das Buch

Antonia Hodgson
Das Sündenhaus
Historischer Thriller, Hardcover, Droemer Knaur, München, August 2017, 416 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: 9783426654408, aus dem Englischen von Sonja Rebernik-Heidegger
Kurzinhalt:
Frühjahr 1728. Auf eine »Bitte« von Englands Königin Queen Caroline reist Tom Hawkins, mit allen Wassern gewaschener Gentleman, zum Herrenhaus von John Aislabie in Yorkshire. Doch die ländliche Idylle entpuppt sich für Tom schnell als Hexenkessel: Die Queen wird von Aislabie erpresst, denn der ehemalige Schatzkanzler war mitverantwortlich für die »Südseeblase«, den größten Finanzskandal des 18. Jahrhunderts. Aislabie wiederum erhält seit einiger Zeit zunehmend blutigere Drohbriefe. Ehe Tom es sich versieht, gerät er zwischen alle Fronten und mitten hinein in einen mörderischen Racheplan.

Leseprobe

Prolog

Januar 1701

Red Lion Square, London

Es war nicht ihre Absicht gewesen, dass sich das Feuer ausbreitete. Es sollte eine Ablenkung sein, mehr nicht. Ein Täuschungsmanöver, um alle in Schach zu halten, während sie sich nahm, was ihr zustand.

Sie hatte geschrien – »Feuer! Feuer in der Mansarde!« – und leise gelacht, als das ganze Haus schließlich aus dem Schlaf hochgefahren war. Sie drängten sich auf der Treppe an ihr vorbei, um Wasser zu holen und zu retten, was noch zu retten war, und keuchten, als der Rauch ihnen in die Lunge drang.

Und dann sah sie ihn. Er drückte seine Tochter Mary an die Brust, um sie in Sicherheit zu bringen. John Aislabie. Er beachtete sie nicht weiter, als er an ihr vorbeihastete, so nahe, dass sie ihn hätte berühren können. Er beachtete sie bereits eine ganze Weile nicht mehr.

Sie reihte sich in den Strom der Dienstboten ein, die die Treppe hinabeilten. Und als sie schließlich auf den Platz hinausstürzten, bemerkte niemand, dass Molly Gaining nicht mehr unter ihnen war.

Stattdessen schlich sie auf Zehenspitzen den dunklen, menschenleeren Flur entlang, der zu Mr. Aislabies Studierzimmer führte. Leise und unsichtbar zu sein war die oberste Tugend eines Dienstmädchens.

Er hatte sie seinen Schatz genannt. Hatte ihr im Dunkel der Nacht Versprechen ins Ohr geflüstert. Schwüre, die er niemals hatte halten wollen. Ich werde dich mit Gold überhäufen, ich werde dich in Seide hüllen. Und sie hatte ihm geglaubt. Sie hatte ihm alles gegeben, wonach er verlangt hatte. Und als er mit ihr fertig gewesen war, hatte er sie beiseitegeschleudert, und sie war nicht mehr länger sein Schatz, sondern bloß noch ein elender Haufen Dreck gewesen, den er niemals wieder anrühren würde.

Aus einem der oberen Stockwerke drangen gedämpfte Schreie. Doch hier in seinem Studierzimmer war es, abgesehen vom Ticken der Uhr, herrlich still. Sie brauchte keine Lampe, um sich zum Tisch vorzutasten. Sie hatte dieses Zimmer die letzten fünf Jahre jeden Tag gefegt und auf Hochglanz gebracht. Sie öffnete die Schublade und schob Schreibfedern und Unterlagen zur Seite, um schließlich nach dem Schlüssel zu greifen, der versteckt in einer Ecke lag. Dann kroch sie auf Knien auf den Kamin zu und tastete mit gespreizten Fingern nach der losen Diele, die sie vor ein paar Tagen entdeckt hatte. Hier. Sie hob die Diele hoch und ließ die Hand daruntergleiten. Ihre Finger berührten kaltes Metall. Es war eine Eisenschatulle. Sie war so schwer, dass sie beide Hände benötigte, um sie aus ihrem Versteck zu heben.

Der Schlüssel drehte sich mit einem sanften Klicken. Ein Schauer durchfuhr sie. Es war so falsch – und doch so aufregend. Sie musste sich beeilen, bevor das Feuer gebändigt war und man sie womöglich entdeckte. Sie hob den Deckel.

Er hatte ihr Gold und Diamanten versprochen, und sie würde dafür sorgen, dass er sein Versprechen hielt.

Sie hob eine Handvoll Schmuck hoch, und die Goldketten baumelten zwischen ihren Fingern hinab. Sie ertastete, was ihre Augen im Dunkeln nicht erkennen konnten, und erinnerte sich: cremig weiße Perlenketten, goldene Ringe mit wertvollen Edelsteinen, eine mit Diamanten und Rubinen besetzte Brosche, die nun kalt und schwer in ihrer Hand lag, Säckchen mit Goldmünzen. Sie steckte alles in die weite Tasche, die sie in ihr Kleid eingenäht hatte, und griff erneut zu. Genug für das Leben, von dem sie träumte. Genug für das Leben, das ihr zustand.

In diesem Augenblick hörte sie laute Stimmen, unmittelbar vor der Tür. Sie hatte sich zu lange aufgehalten. Sie fluchte leise und ließ eine weitere Handvoll Münzen in ihre Tasche gleiten, ehe sie sich aufrichtete. Sie strich gerade ihr Kleid glatt, als ein junger Mann die Tür aufdrückte und ins Studierzimmer eilte. Sie sah sein wohlgeformtes, entschlossenes Gesicht im orangefarbenen Schein seiner Kerze.

»Die Rechnungsbücher. Schnell!«

Jack Sneaton, Aislabies Sekretär. Sie zog sich tiefer in den Schatten zurück und betete, dass er sie nicht entdeckte, während er Bücher und Schriftstücke zusammenraffte und sie seinem Lehrburschen auf die hingehaltenen Arme schichtete. Auf Jack war eben Verlass. Es gab so vieles, das vor dem Feuer gerettet werden musste, doch ihn kümmerten bloß seine wertvollen Rechnungsbücher.

Er wandte sich der Tür zu.

»Sir?« Sneatons Lehrbursche deutete mit dem Kopf in Richtung Kamin.

Man hatte sie entdeckt. Die Angst packte sie mit eiserner Faust.

Sneaton türmte dem Lehrburschen einen weiteren Stapel Schriftstücke auf die Arme. »Molly? Was machst du denn da unten …?« Er hielt inne und starrte ungläubig auf die Münzen und glitzernden Edelsteine hinab, die sie in der Eile auf dem Boden verstreut hatte. Dann blinzelte er mehrere Male hastig, als hoffte er, dass sich das Bild vor seinen Augen verflüchtigen würde.

»Diebin!«, zischte der Lehrbursche.

Sneaton zuckte zusammen, als würde ihm die Anschuldigung körperliche Schmerzen bereiten. Er warf einen letzten, wohlüberlegten Blick auf die leere Schatulle, dann packte er Molly am Arm und zog sie hoch.

»Nein!«, schrie sie, während er sie aus dem Zimmer zerrte. »Ich wollte nichts stehlen, das schwöre ich. Bitte, Jack … Mr. Sneaton, Sir. Ich wollte den Schmuck und das Geld bloß vor dem Feuer in Sicherheit bringen.«

Er umfasste mit einer Hand ihren Nacken, während er sie durch das Haus und schließlich hinaus auf die Straße schob. Auf der Treppe stolperte sie, ging zu Boden und schrie auf; ein Glassplitter hatte sich in das weiche Fleisch ihres Daumenballens gebohrt. Überall lag zerbrochenes Glas verstreut.

Als sie den Splitter herauszog, sog sie scharf die Luft ein. Auf Händen und Knien kroch sie über das Kopfsteinpflaster, während ihr Blut über das Handgelenk lief.

Dann hob sie den Blick und sah, was sie angerichtet hatte.

Das Feuer wütete im gesamten Obergeschoss des Hauses, und die Flammen hatten bereits das Dach erfasst und loderten aus den zerborstenen Fenstern. Dicke Rauchwolken wogten über dem brennenden Haus und verdeckten den Nachthimmel.

Die Dienstboten bildeten eine Reihe, die ins Haus und die Treppe hochführte, und reichten Eimer mit Wasser weiter, während ihnen immer mehr Nachbarn zu Hilfe eilten. Sie alle versuchten verzweifelt zu verhindern, dass das Feuer auf die anderen Häuser am Platz übergriff.

Ein Diener brach in der Tür zusammen, sein Gesicht war rußgeschwärzt. Er atmete hastig ein wenig saubere Luft ein, ehe er sich einen weiteren Eimer griff und erneut ins Haus zurückstürzte.

»Es war doch bloß ein kleines Feuer«, flüsterte sie, während sie vorwärtstaumelte, magisch angezogen von den Flammen. Sie spürte die gewaltige Hitze auf ihrem Gesicht. »Ich wollte doch nicht …«

Sneaton zerrte sie mit sich. »Mr. Aislabie. Mr. Aislabie, Sir.«

Aislabie stand einige Schritte entfernt, nah bei den Flammen, und hielt immer noch seine Tochter Mary im Arm. Jane, die jüngere Tochter, klammerte sich an seinem Bein fest. Die beiden Mädchen waren starr vor Angst.

»Mr. Aislabie«, rief Sneaton erneut, und Aislabie wandte sich um und sah sie.

»Molly«, sagte er. »Du bist wohlauf. Dem Herrn sei Dank.«

Kummer und Wut schnürten ihr die Kehle zu. Jetzt siehst du mir endlich wieder ins Gesicht, John. Jetzt nennst du mich endlich wieder beim Namen.

»Ich habe sie in Ihrem Studierzimmer ertappt, Sir«, erklärte Sneaton. »Sie war dabei, sich an Ihrer Schatulle zu bedienen.«

Er starrte sie an.

»Ich wollte nichts stehlen«, stammelte sie. »Ich wollte das Geld und den Schmuck vor dem Feuer in Sicherheit bringen. Sie kennen mich doch, Sir …«

Sie sah Zweifel in seinen Augen aufflackern. »Darum kümmern wir uns später«, meinte er schließlich und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Flammen zu. Er setzte Mary auf dem Boden ab und übergab die beiden Mädchen einer Nachbarin. »Harry!«, rief er einem seiner Diener zu, der gerade aus dem Haus taumelte. »Wo ist Mrs. Aislabie? Ist sie in Sicherheit?«

Doch Harry hatte zu viel Rauch in der Lunge und konnte nichts erwidern. Keuchend holte er Luft.

»Um Himmels willen, Mann. Wo ist mein Sohn?«, rief Aislabie, den mit einem Mal das Entsetzen packte. »Und wo ist Lizzie? Wo ist mein kleines Mädchen?«

Harry schüttelte den Kopf.

Einen Augenblick lang war Aislabie zu erschüttert, um etwas zu erwidern. Dann fuhr er herum, rannte blindlings in das brennende Haus und brüllte ihre Namen. Anne. William. Lizzie.

»Verdammt!«, fluchte Sneaton. Er drückte Molly wie ein Bündel schmutziger Lumpen in die Arme seines Freundes. »Pass auf sie auf, Harry. Sie ist eine verdammte Diebin.«

Also noch schlimmer. Sie hob den Blick und sah die Flammen, die über das Dach schlugen, und den Rauch, der aus sämtlichen Fenstern drang. Lizzie, die Jüngste, die gerade erst laufen lernte. Mrs. Aislabie. William, vor kurzem geboren.

Was hatte sie getan? Eine Leere ergriff von ihr Besitz, und sie fühlte sich mit einem Mal so leicht, als könnte sie in den Himmel hochsteigen und sich in Luft auflösen …

»Molly!« Sneatons Stimme brach den Bann.

»Es war doch bloß ein kleines Feuer, Jack. Ich hatte doch niemals vor …«

Sie würde den Blick, den Jack Sneaton ihr in jenem langen Moment, in dem plötzlich alle Geräusche verstummten, zuwarf, niemals vergessen.

»Du warst mein Ein und Alles, Molly«, sagte er leise.

Der Boden unter ihren Füßen gab nach. Sie hatte nichts davon geahnt. Er hatte nie etwas gesagt. Könnte sie die Zeit doch bloß eine halbe Stunde zurückdrehen. Das wäre alles, was nötig wäre, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen – bloß eine halbe Stunde. Aber es war zu spät.

Sneaton griff nach einem Eimer und tauchte sein Taschentuch ins Wasser. »Wo sind sie, Harry?«

Harry deutete auf ein Fenster im zweiten Stockwerk. »Du kommst niemals zu ihnen durch, Jack. Der Rauch ist viel zu dicht.«

Sneaton legte sich das feuchte Tuch über Mund und Nase und rannte ins Haus.

Harry zerrte sie mit sich. Sie stolperte neben ihm her, bis zu einer Gruppe von Nachbarn, die sich entsetzt aneinanderklammerten, während das Haus vor ihnen in Flammen stand. Sie sahen mit an, wie die Diener Mr. Aislabie mit leeren Händen herauszerrten, während er den Namen seiner Frau brüllte. Sahen zu, wie auch die letzten Männer von dem Rauch und den Flammen zurückgedrängt wurden.

»Es bleibt nichts mehr zu tun. Gott sei ihren Seelen gnädig«, meinte eine Nachbarin. »Beten wir, dass sich das Feuer nicht ausbreitet.«

Harry grub seine Finger tiefer in ihre Schulter.

Dann stieß jemand einen Schrei aus und deutete auf ein Fenster im zweiten Stockwerk. »Dort! Seht nur!«

Jack Sneaton stand im Fenster und drückte ein winziges Bündel an seine Brust. Er kletterte auf den Sims, und der Rauch bauschte sich um ihn wie ein dicker grauer Mantel. Es gab keine Möglichkeit hinabzuklettern, dafür war es zu hoch. Mit der freien Hand bedeutete er den Männern unter ihm eindringlich, näher heranzutreten, und sie nahmen geschlossen Aufstellung. Dann hob er das Bündel behutsam von seiner Brust und ließ es fallen.

Jemand fing es auf. Der Junge war in Sicherheit. Jubel brandete auf. »Ihr Sohn! Mr. Aislabie! Ihr Sohn ist gerettet!«, rief jemand.

In diesem Augenblick schlugen neue Flammen durch das Fenster und umfingen Jack Sneaton. Er stieß einen lauten Schrei aus und fiel vom Sims zwei Stockwerke in die Tiefe.

»Jack!« Harry stürzte nach vorn, um seinem Freund zu Hilfe zu kommen, und vergaß Molly in seiner Eile völlig. Sie konnte Jack nicht erkennen, doch sie sah, wie die Männer versuchten, die Flammen mit ihren Mänteln zu ersticken, und wie ein Mann mit einem Eimer Wasser herbeistürmte. Und sie hörte Schreie.

Molly blickte sich verstohlen um. Niemand wusste, was sie getan hatte. Sie war bloß ein weiteres Dienstmädchen, das Opfer dieser Tragödie geworden war. Die Menge drängte vorwärts, denn alle wollten sehen, ob der Held des Tages den Sturz überlebt hatte. Mr. Aislabie hielt weinend seinen neugeborenen Sohn in den Armen. Und Molly stand allein und vergessen inmitten des Tumults, während Menschen um Hilfe riefen und Männer noch mehr Wasser herbeischleppten.

Sie trat einen Schritt zurück. Dann wagte sie einen zweiten.

Niemand hielt sie auf.

Niemandem fiel auf, dass sie vorhatte zu verschwinden.

Wie betäubt und halb blind vom Rauch wankte sie schließlich davon. Nachdem sie die Menge der Schaulustigen hinter sich gelassen hatte, erschien es ihr auf der Straße unheimlich still. Traumverloren schlich sie an dem steinernen Wachturm am Rande des Platzes vorbei.

Hinter dem Red Lion Square befand sich eine dunkle Gasse. Sie war zu eng für die großen Fuhrwerke und zu schmutzig und schändlich für die bessere Gesellschaft. Hier wurde die wöchentliche Kohlefuhre angeliefert und der Unrat abgeholt. Und hier stolperte nun auch Molly Gaining ihres Weges, die schweren Taschen voller Schmuck und Goldmünzen. Wie lange würde es dauern, ehe ihr Verschwinden auffiel? Wie weit konnte sie kommen, wohin sollte sie gehen?

Mittlerweile hatte sie die Rückseite von Mr. Aislabies Haus erreicht, die genauso lichterloh brannte wie die Vorderseite. Niemand hatte daran gedacht, das Feuer auch von hier aus zu löschen. Vielleicht gab es aber auch nicht genügend Männer, die zu entbehren waren. Die Flammen begannen bereits, auf das Dach des Nachbarhauses überzugreifen. Sie dachte an das Große Feuer, das London heimgesucht hatte. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass es tagelang in den Straßen gewütet hatte.

»Ich wollte doch niemandem weh tun«, flüsterte sie den Flammen und dem Rauch zu. Die Leere war zurückgekehrt, diese Aushöhlung tief in ihrer Brust. Sie ahnte noch nicht, dass sie dieses Gefühl nie wieder loswerden würde.

Sie starrte auf das Haus, das sie zerstört hatte, als sie mit einem Mal einen Blick auf ein kleines, blasses Etwas in einem der Fenster im Erdgeschoss erhaschte.

Und Molly wusste, worum es sich handelte. Sie wusste es einfach.

Erlösung.

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages