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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Amati

Paul Rosenhayn
Elf Abenteuer des Joe Jenkins
Die Amati

Eine Dame, die Mr. Joe Jenkins und seinen Scharfsinn seit Langem bewundert, hat den sehnlichen Wunsch, ihn persönlich kennenzulernen. Sie wird heute Nachmittag um 6 Uhr vor dem Restaurant der Rennbahn Grunewald sein, und sie würde sich glücklich schätzen, wenn sie Mr. Joe Jenkins dort begegnen würde. Sie ist weder alt noch hässlich.

Dieser Brief lag seit fast einer Stunde auf dem Schreibtisch des Hotelzimmers. Ein Bote hatte ihn abgegeben und sich gleich darauf wieder entfernt. Mr. Jenkins, der eben vom Nachmittagstee zurückkehrte, öffnete das Kuvert langsam und las die wenigen Zeilen zweimal aufmerksam. Dann gab er den Brief seinem Begleiter, der gleich hinter ihm das Zimmer betreten hatte, einem älteren, vornehm aussehenden Herrn mit weißem Haar.

»Lesen Sie, Mr. Kelly!«

Der Aufgeforderte überflog die Zeilen, stutzte ein wenig und drohte lächelnd mit dem Finger: »Also, Sie haben schon galante Abenteuer in Berlin, Mr. Jenkins! … hm … um 6 Uhr nun, wenn’s Ihnen recht ist, so fahre ich mit Ihnen hinaus und trenne mich von Ihnen, sobald es an der Zeit ist. Ich möchte mir bei dieser Gelegenheit das Stadion ansehen.«

Jenkins schüttelte lächelnd den Kopf.

»Sie brauchen sich nicht zu genieren, Mr. Jenkins. Ich habe keinen weiteren Bekannten in Berlin – und da ich schon morgen früh weiterreise …«

»Sie werden allein zum Stadion fahren müssen. Denn nach diesem Brief werde ich zu Hause bleiben.«

»Und warum?«, fragte der andere erstaunt. »Sind Sie ein solcher Frauenfeind?«

»Durchaus nicht. Wenn dieser Brief von einer Dame wäre …«

»Wenn er … von einer Dame … So ist er nicht von einer Dame?«

Jenkins schüttelte den Kopf. »Betrachten Sie die einzelnen Buchstaben. Achten Sie auf die Stellung der i-Punkte. Richten Sie Ihr Augenmerk auf die energischen, ja, eigensinnigen Anstriche. Das ist die verstellte Handschrift eines Mannes!«

»So glauben Sie, dass man Sie fortlocken will …?«

»Zweifellos.«

»Um ein Attentat an Ihnen zu begehen?«

»Nein, denn man wird natürlich wissen, daß ich auf Derartiges immer vorbereitet bin.«

»Aber Sie erklärten eben, man wolle Sie aus dem Haus locken.«

»Ja, und zwar aus einem anderen Grund.« Er blickte auf die Uhr. »Es ist halb sechs. Ich müsste also ein Auto nehmen, um pünktlich an Ort und Stelle zu sein. Sehen Sie, da haben wir es. Der Schreiber wünscht, dass ich um die Zeit zwischen, sagen wir, halb sechs und halb sieben nicht im Hotel sei.«

»Und warum nicht?«, fragte der Besucher kopfschüttelnd.

»Wahrscheinlich, weil in dieser Zeit jemand kommen wird, um meinen Rat einzuholen, und weil der Schreiber dieses Briefes ein Interesse daran hat, diese Konsultation zu verhindern.«

Von den teppichbelegten Gängen drang gedämpft der Rhythmus des ruhelosen Lebens herüber, das dieses große Hotel Tag und Nacht fiebernd durchflutete. Leise Klingelzeichen schnitten durch die Luft, Türen klappten. Aus den Teeräumen des Parterres drang ferne Musik: das Menuett aus Don Juan.

Das kleine Telefon auf dem Schreibtisch schrillte. Mr. Jenkins hob den Hörer ab. Und während er die Meldung des Portiers entgegennahm, nickte er leicht, und ein Lächeln ging über sein Gesicht.

»All right. Führen Sie den Herrn herauf!« Dann, indem er den Hörer zurücklegte, richtete er seine grauen Augen auf den Besucher und zwinkerte lachend.

»Herein!«

Die Tür öffnete sich. Aus dem Halbdunklen des Korridors leuchtete die goldbetresste Mütze des Liftboys.

Durch die halb geöffnete Tür trat ein elegant gekleideter Herr ein, der in der Mitte der Dreißiger stehen mochte. Das regelmäßige, schma­le Gesicht schien das eines Künstlers zu sein. Das dunkle, volle, glatte Haar umwallte scheitellos die hohe Stirn. Ein kleiner, sorgfältig geschnittener Spitzbart gab seiner Erscheinung einen leicht fremdartigen Hauch. In seinen großen, dunklen Augen glomm ein fiebriger Glanz, und schwere Schatten lagen um die tiefen Augenhöhlen.

»Mr. Joe Jenkins?«, fragte der Fremde mit einer Stimme, die leise zu zittern schien, und zog geräuschlos die Tür hinter sich zu. Er blickte stumm die beiden Herren an, offenbar unschlüssig.

Der Detektiv trat einen halben Schritt vor. »Bitte«, sagte er höflich.

Der Fremde ließ einen langen Blick über die Züge des Amerikaners gleiten. »Mr. Jenkins«, begann er nach einer stummen Pause, »ich muss Sie sprechen, dringend sprechen – und sofort.« Und indem er nervös die Uhr zog, setzte er hinzu: »Denn ich habe keine Zeit zu verlieren.«

»Ich stehe Ihnen zur Verfügung«, erwiderte der Detektiv ruhig. »Eine Frage: Weiß irgendjemand, dass Sie um diese Zeit – dass Sie zwischen halb sechs und sechs Uhr die Absicht hatten, mich zu besuchen?«

Der Gefragte richtete seine dunklen Augen fragend und verständnislos auf Mr. Joe Jenkins, der ihn erwartungsvoll betrachtete. »Ob ich … ob jemand weiß …« Er blickte sinnend zu Boden … »Ja … eine Person gibt es, die davon weiß. Aber die kennt mich kaum und hat keinerlei Interesse an mir.«

Mr. Kelly erhob sich.

»Adieu, Mr. Jenkins«, sagte er. Und leise fuhr er fort: »Wenn nicht alles täuscht, war Ihre Vorhersage richtig.«

Mr. Jenkins nahm an seinem Schreibtisch Platz und lud den anderen ein, sich in den Sessel niederzulassen, der zur Rechten stand.

Man sah es diesem Mann an, daß ihn irgendetwas Schweres bedrückte. Er hatte den Kopf gesenkt und starrte unbeweglich, wie geistesabwesend, auf das Muster des weichen Teppichs nieder. Nur die schweren Atemzüge, die keuchend durch den Raum gingen, verrieten die Unruhe, die in ihm war.

»Ich bin Musiker«, begann er plötzlich, wie mit einem Ruck. »Violinvirtuose. Man kennt meinen Namen in Europa und Amerika, und auch Ihnen wird er nicht unbekannt sein, Mr. Jenkins: Holger Karst.«

Der Detektiv nickte. »Selbstverständlich«, antwortete er. »Ich habe viel Rühmendes von Ihnen gehört. Von Ihnen und Ihrer berühmten Geige. Denn wenn ich nicht irre, besitzen Sie eine Amati?«

Ein warmes Lächeln ging über die Züge des Künstlers. »Ja«, sagte er leise, »sie ist herrlich, meine Amati! Wenn ich sie spiele, dann fühle ich, wie diese reinen Töne, die vom tiefsten Schmerz wie von höchsten Wonnen singen, sieghaft in die Herzen meiner Zuhörer hinüberzittern. Meine Violine hat nur eine einzige Nebenbuhlerin. Diese ist in den Händen der Familie Astor.«

»Sie sind in Berlin, um hier zu konzertieren, Herr Karst?«

»Ja. Ich habe eben eine Tournee durch die Vereinigten Staaten beendet und bin erst seit vierzehn Tagen wieder in Europa. Ich habe zwei Konzerte in Stockholm und Kopenhagen gegeben und bin jetzt seit acht Tagen in Berlin. Auch hier bin ich, wie man so sagt, in Mode. Gestern Abend erst habe ich in einer Wohltätigkeitsveranstaltung ein Konzert gegeben, und heute Abend habe ich mein eigenes großes Solokonzert in der Philharmonie. Noch gestern habe ich mich auf diesen Abend, der wieder Tausenden meinen Namen und meine Kunst vermitteln wird, gefreut. Und nun … nun hat sich in der letzten Nacht etwas ereignet … etwas, was mich derart erschüttert hat, dass ich fürchte, mit meinen Nerven heute Abend mitten im Spiel zusammenzubrechen.«

»Ihnen ist ein Missgeschick passiert?«, fragte Mr. Jenkins ruhig.

»Ein Missgeschick – nein. Nicht einmal etwas Unangenehmes. Ja … ich möchte sagen, mir ist eigentlich überhaupt nichts passiert. Um mich ganz klar auszudrücken: Ich könnte höchstens sagen, dass ich etwas gesehen habe. Aber, was ich gesehen habe in dieser Nacht, beunruhigt mich durch seine Unerklärlichkeit und seine Seltsamkeit fast bis zum Wahnwitz. Doch ich will Ihnen erzählen.

Ich wohne in einem Pensionat in der Hardenbergstraße. Ich bin hier in der Nähe der Stadt und dennoch in einer schönen, vornehmen und stillen Umgebung und in einem ruhigen Haus. Denn der Lärm eines Hotels würde mich bei meinen täglichen Übungen außerordentlich stören. Es ist die alte Villa eines Staatsbeamten, die von der jetzigen Besitzerin vollständig in ein Pensionat umgewandelt worden ist. Die Dame ist selbst vermögend und betreibt die Pension mehr aus einer gewissen Liebhaberei. Die vielen interessanten Menschen aller möglichen Nationen mögen für sie ein anregender Verkehr sein. Sie selbst hat sich die drei schönsten Zimmer des Hauses im ersten Stock reserviert.

Leider hatte ich versäumt, mich schriftlich anzumelden. Als ich daher vor acht Tagen Einlass in das Pensionat der Frau Valentin begehrte, da war bis auf ein kleines Stübchen im Parterre alles besetzt. Schon wollte ich umkehren, als die Besitzerin mir ein selbstloses Anerbieten machte. Sie schlug mir vor, mir für die zwei Wochen meines Berliner Aufenthalts ihre drei Zimmer abzutreten. Sie selbst wollte während dieser Zeit mit dem Stübchen fürliebnehmen. Sie schätzt mich sehr, die alte Frau Valentin, und – nun, kurz und gut, ich habe angenommen.

Ich war auf diese Weise glücklicher Eigentümer der drei schönsten und größten Zimmer des Hauses. Das Erste dient mir als Empfangszimmer, denn ich erhalte viele Besuche. Im ittleren schlafe ich, und das Dritte habe ich mir als Arbeitszimmer eingerichtet.

Eins muss ich noch erwähnen: Im Schlafzimmer befindet sich der Hauptschalter für die elektrische Beleuchtung des ganzen Hauses. Frau Valentin, die ein etwas patriarchalisches Regiment führt, hat ihn dort installieren lassen, und pünktlich und unerbittlich, wie sie mir selbst lachend erzählte, stellt sie jede Nacht um zwölf Uhr die Beleuchtung im ganzen Haus ab, denn es ist früher vorgekommen, dass rücksichtslose Gäste während der ganzen Nacht ihre Kronen gebrannt haben, besonders die jungen Studenten und die flotten Ausländer, die die Nacht zum Tage machen. So dreht sie ihnen um Mitternacht sozusagen das Licht vor der Nase aus. Ich erwähne dies ausführlich – wie Sie sehen werden, nicht ohne Grund.

Wie ich Ihnen schon sagte, hatte ich gestern Abend zu spielen, und zwar auf einem Wohltätigkeitskonzert im Reichskanzlerpalais. Mein Violinsolo war sehr spät angesetzt, fast als das Letzte. Daher war es fast halb zwölf, als ich meinen Vortrag beendet hatte. Ich habe die Gewohnheit, vor meinem Spiel nichts zu mir zu nehmen. So steuere ich also, eben fertig, hungrig und vergnügt auf das kalte Büfett zu, als mich jemand anruft. Ich wende mich um. Es ist der Prinz v. W., den ich vor drei Jahren an der Riviera kennengelernt habe. Er zieht mich an einen Tisch, an dem sich noch mehrere Herren befinden. Bald waren wir in fideler Unterhaltung. Ich blickte noch ein paar Mal wehmütig nach den kalten Schüsseln da drüben auf den kleinen Tischen aus – aber die Höflichkeit verbietet mir, die Unterhaltung abzubrechen. Also, um halb zwei, als die Allerletzten, stehen wir endlich auf und verabschieden uns eilig voneinander. Ich gehe langsam durch die Straßen – kein Auto weit und breit. Missmutig entschließe ich mich endlich, auf eine überfüllte Straßenbahn zu springen.

Am Zoo muss ich die Bahn verlassen, weil sie links in die Kaiserallee einbiegt. Ich gehe unter der Eisenbahnbrücke durch und bin im Nu aus dem lärmenden Berliner Westen wie in eine andere Welt versetzt.

Schweigend und fast endlos liegt die stille, vornehme Straße vor mir. Ich schreite langsam an diesen dunklen, tiefen Gärten vorüber, in denen sich kein Blatt regt. Alle Fenster in diesen schweigenden Häusern sind dunkel und tot.

War es die Abspannung nach dem anstrengenden Abend, war es der genossene Wein? Ich weiß es nicht. Allmählich legte sich ein seltsam schweres und drückendes Angstgefühl auf mein Herz. Von einer unerklärlichen Furcht getrieben, verlasse ich das Trottoir und gehe in der Mitte des asphaltierten Fahrdammes dahin. Endlich habe ich die Pension Valentin erreicht. Eben ziehe ich den Schlüssel aus der Tasche. Verloren, halb unbewusst schweifen meine Blicke über das alte, unbewohnte Haus, das unserem Pensionat gegenüberliegt, mit seinem vernachlässigten, dunklen, tiefen Garten. Dieses stille Haus machte in dem flimmernden Schein des Mondes mehr denn je den Eindruck des Verwahrlosten, fast des Unheimlichen. Meine Blicke streifen wie zufällig die Front des Hauses, als ich zu meinem Erstaunen bemerke, das in der ersten Etage ein Fenster sich öffnet – langsam – sichtlich in dem Bestreben, jedes Geräusch zu vermeiden. Ich trete unwillkürlich zur Seite, um mich hinter einem Baum zu verbergen, und blicke hinauf. Im nächsten Augenblick erblicke ich im Rahmen des geöffneten Fensters ein menschliches Gesicht. Während ich dieses Gesicht sehe, läuft mir plötzlich ein eisiger Schauder über den Rücken – denn ich weiß plötzlich ganz genau, dass ich diese Züge kenne, ganz genau kenne … und doch kann ich mich im Moment nicht erinnern, woher …

Ich trete ein paar Schritte zurück … und plötzlich fühle ich, wie mir das Herz stockt. Mit Mühe unterdrücke ich einen Aufschrei des Entsetzens und greife mit meiner zitternden Hand nach den Stäben des Gitterwerks. Was dort, jetzt vom Schein der Bogenlampe flimmernd beleuchtet, bleich und regungslos wie das Antlitz eines Toten auf die Straße hinausblickt, das ist mein eigenes Gesicht …

Einen Atemzug lang glaubte ich, zuviel getrunken zu haben, glaubte, der Wein habe meinen hungrigen Körper in einen Fieberrausch versetzt. Ich fasste nach meinem Herzen. Nein, es pocht ruhig und gleichmäßig wie nur je. Dann kam mir einen Augenblick der Gedanke, dies alles sei ein wirrer, ängstlicher Traum. Ich legte eine Hand auf die Spitzen des Gitters und presste sie krampfhaft. Der stechende Schmerz, der mir durch den ganzen Körper fuhr, sagte mir deutlich, dass ich wache und dass alles dieses Wirklichkeit sei … Wieder wandte ich, scheu und atemlos, den Kopf nach dem Fenster im ersten Stock. Das bleiche Gesicht blickte noch immer regungslos auf die Straße hinab … nein … jetzt sah ich es genauer … es sah unverwandt, starr wie das Antlitz eines Toten, auf die Fenster meines Schlafzimmers, das fast genau gegenüberlag. Zweifelnd, suchend irrten meine Blicke über die Erscheinung. Ja, das war mein Haar, mein Bart, in jeder Einzelheit meine Züge – ich erkenne sogar meine Krawatte, deren dunkles Blau metallisch im Licht des Mondes flimmert.

Nein – das konnte nichts Natürliches sein, was ich hier erlebte. Ich erinnerte mich eines alten Spruches, dass der sterben müsse, der in der Nacht seinen Doppelgänger erblicke. Alle Ängste eines dunklen Aberglaubens, den ich längst überwunden meinte, rasten mir durchs Hirn. Die Mitternacht hatte mir ihr dunkles Tor geöffnet, schweigend und drohend mich einen fiebernden Blick in ihre düsteren Geheimnisse tun lassen.

Wieder spähe ich hinauf. Die Erscheinung ist verschwunden. Das Fenster ist geschlossen.

Zweifelnd und grübelnd taumele ich über die Straße, schließe auf und tappe auf meine Zimmer. Eben will ich mich niederlegen, als sich mit verdoppelter Gewalt der nagende Hunger meldet – er wühlt wie Feuer in meinen Eingeweiden. Und kein Stückchen Brot im Zimmer! Ich blicke auf die Uhr – es ist drei. Um diese Zeit jemanden vom Haus wecken, wäre eine unerhörte Rücksichtslosigkeit. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als selbst in die Küche zu gehen, um nach etwas Eßbarem zu suchen.

Ich taste mich also die Treppe hinunter bis in die Küche, die im Keller liegt. Unterwegs versuche ich, auf dem Treppenpodest das Licht anzuknipsen – vergeblich. Frau Valentin hat auch heute pünktlich den Hauptschalter in meinem Schlafzimmer abgedreht … Nun, meine Kerze genügt einigermaßen, um mir den Weg zu zeigen.

Ich muss mich in der Küche ziemlich ungeschickt angestellt haben. Ich glaube auch, mich zu entsinnen, dass mir ein Topfdeckel auf den Steinfußboden gerutscht ist. Kurz und gut: Ein paar Minuten später erscheint Frau Valentin, meine Wirtin, halb erstaunt, halb ärgerlich in der Küche. Sie begreift bald, was ich wünsche, und hantiert geschäftig mit Brot und Butter. Eben wendet sie sich zum Küchenschrank, um Messer und Gabeln zu holen, als wir plötzlich im gleichen Moment zurückfahren … bestürzt … entsetzt. Das elektrische Licht flammt auf … lautlos, ohne Ursache … wie von Geisterhand ausgelöst …

Wir blicken uns an. Ich sehe, wie sie zittert. Sie reißt die Küchentür auf, das ganze Treppenhaus ist in ein Lichtmeer gehüllt. Einen Augenblick starrt sie atemlos, wie betäubt, auf die brennenden Lampen … dann stößt sie hervor: ›Um Gottes willen … Herr Karst … Ihr Zimmer …‹

Und in diesem Augenblick erlischt das Licht wieder … tiefe, schwere Dunkelheit liegt über dem ganzen Haus … und unsere von der Lichtfülle noch geblendeten Augen versagen hilflos vor den undurchdringlichen, schweren Schatten.

›Herr Karst‹, beginnt Frau Valentin flüsternd, ›jemand hat den Hauptschalter gedreht … in Ihrem Zimmer ist jemand …‹

Und da verstehe ich sie plötzlich und stürze die Treppe hinauf. Ja, der Schalter ist gedreht worden. Frau Valentin, die bebend in der Tür erschien, erkannte es an der Stellung des Hebels. Der Schalter ist gedreht worden – aber niemand ist da … und nichts fehlt, wie ich gleich darauf feststelle.«

»Einen Augenblick«, unterbrach Joe Jenkins den Erzählenden. »Hatten Sie das Zimmer verschlossen, als Sie es verließen, um in die Küche hinunterzugehen?«

»Ja.«

»Und den Schlüssel abgezogen und mitgenommen?«

»Ja.«

»Und Sie fanden die Tür verschlossen, wie Sie sie verlassen hatten?«

»Nichts hatte sich geändert.«

»Hatten Sie Schwierigkeiten beim Aufschließen?«

»Nicht die geringsten.«

»Es ist gut … fahren Sie fort.«

»Am anderen Morgen rief mich ein Telegramm eines befreundeten Reeders, in dessen Haus ich manchen schönen Abend zugebracht hatte, nach Stettin. ›In einer dringlichen Angelegenheit‹, so lautete die Depesche. Ich hatte erst gegen Morgen ein wenig Schlaf gefunden, und so kam es, dass ich erst den Mittagzug benutzte. Als ich in der Villa meines Freundes anlange, empfängt er mich verwundert, und als ich ihm das Telegramm zeige, stellt es sich heraus, dass es eine Fälschung ist.

Wäre mir dies zu einer anderen Zeit passiert – ich würde es für den albernen Scherz eines Kollegen genommen haben. Aber jetzt in Verbindung mit den Ereignissen der letzten Nacht … nein … als ich auf der Rückfahrt mit meinen Nerven kämpfte, die bis zum Wahnwitz erregt waren, da wusste ich es, dass es nur einen Menschen gibt, der hier Klarheit bringen kann: Sie, Mr. Jenkins!«

Joe Jenkins lächelte und machte eine leichte Verbeugung, als wollte er für diese schmeichelhafte Anrede danken. Dann aber nahmen seine Züge sofort wieder den beherrschten, kühl und sachlich beobachtenden Ausdruck an, den sie während der ganzen merkwürdigen Erzählung seines Gegenübers gezeigt hatten.

»Wann sind Sie nach Berlin zurückgekehrt?«

»Ich war um 6 Uhr 14 Minuten auf dem Stettiner Bahnhof. Dort habe ich mir sofort ein Auto genommen und bin zu Ihnen gefahren.«

Der Detektiv lehnte sich in seinen Sessel zurück und schloss die Augen. »Haben Sie«, begann er nach einer langen Pause, »in Ihrem Pensionat irgendwelche Bekanntschaft angeknüpft?«

»Nein. Außer mit meiner Wirtin habe ich noch mit niemandem gesprochen … halt … doch … ich habe gelegentlich ein paar Worte mit Fräulein Helene Jungmann gewechselt, einer jungen, fleißigen Studentin der Medizin, die meine Nachbarin ist.«

»Sie erzählten mir bei Ihrem Kommen, es gäbe jemand, der von Ihrer Absicht, zu mir zu fahren, unterrichtet war.«

»Ja. Ich habe von der Villa meines Freundes in Stettin aus meine Wirtin antelefoniert, habe ihr kurz gesagt, dass man mich mit dem Telegramm mystifiziert habe und dass ich zu Ihnen fahren wolle.«

»War dies der ganze Grund Ihres Telefonierens?«

»Nein. Der Hauptzweck war, meine Wirtin zu beauftragen, mir meine Geige und meinen Frack in die Philharmonie zu schicken, denn ich habe keine Zeit mehr, nach Hause zu fahren.«

»Wo befindet sich augenblicklich Ihre Amati?«

»In einer stählernen Kassette, deren Schlüssel ich bei mir trage.«

»Wo ist das Telefon in Ihrem Pensionat angebracht?«

»Auf dem Korridor, unweit meiner Tür.«

»Erwähnten Sie im Verlaufe des Telefongesprächs den Zug, mit dem Sie zurückfahren wollten?«

Der Virtuose dachte einen Augenblick nach. »Ja«, sagte er endlich.

Joe Jenkins stand auf und ging, die Hände auf den Rücken gelegt, ein paar Mal im Zimmer auf und ab.

»Steht irgendwo in Ihren Zimmern«, begann er, indem er auf seiner Wanderung plötzlich vor seinem Besucher stehenblieb, »ein Bild von Ihnen?«

»Ja«, erwiderte der Gefragte, ein wenig verwundert.

»Im Empfangszimmer steht ein Kabinettbild von mir auf einem Seitentischchen.«

»Wann haben Sie dieses Bild zuletzt gesehen?«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Ich meine: Wissen Sie genau, dass dieses Bild noch an seinem Platz ist?«

»Ich verstehe noch immer nicht … warum sollte das Bild nicht mehr da sein?«

»Ich möchte auf alle Fälle wissen, ob es noch vorhanden ist. Ich möchte mit Ihrer Wirtin telefonieren. Welche Nummer hat Ihre Pension?«

»Steinplatz 8145. Es wird am einfachsten sein, wenn ich selbst …«

»Nein«, unterbrach ihn der Detektiv. »Ich werde reden.«

Er ging an den Apparat.

»…  Hallo … ist dort Pension Valentin? Hier Mr. Joe Jenkins … ja … Frau Valentin selbst? Sehr gut … wollen Sie die Güte haben, im Empfangszimmer des Herrn Karst nachzusehen … dort steht ein Bild von Herrn Karst … also, nachzusehen, ob es noch jetzt dort steht? … Gewiss … ich warte …«

Eine Pause entstand. »Jawohl ich bin noch am Apparat … es ist noch dort? Ich danke, Frau Valentin!«

»Meine Vermutung war unbegründet. Immerhin habe ich etwas anderes festgestellt, was vielleicht nicht ohne Bedeutung ist.«

»Und was wäre dies?«

»Ihre Wirtin hat die Gewohnheit, das ihr am Telefon Gesagte laut zu wiederholen. Ich nehme an, dass sie das immer tut.«

Der Virtuose legte die Hand über die Stirn. »Ja«, sagte er schließlich. »Ich entsinne mich – sie hat diese Angewohnheit. Aber …«, er warf einen erschrockenen Blick auf seine Taschenuhr und sprang auf. »Um Gottes willen … es ist die höchste Zeit … ich muss Sie verlassen, Mr. Jenkins.«

Der Detektiv nickte. »Ich werde mit Ihnen kommen. Ich möchte auf alle Fälle heute Abend in Ihrer Nähe sein. Denn alle Anzeichen sprechen dafür, dass sich noch heute irgendetwas ereignen wird, was meine Anwesenheit wünschenswert erscheinen lassen dürfte.«

 

***

 

Das vornehme Auditorium begrüßte den gefeierten Violinvirtuosen mit freudigem Händeklatschen. Man sah es: Er war der Liebling des Publikums. Holger Karst verneigte sich dankend und wandte sich an den Pianisten.

Der Klavierspieler schlug das A an. Karst ergriff seine Geige, um sie zu stimmen. Er fuhr prüfend mit dem Bogen über die Saiten, die leise widerklangen. Plötzlich ging es wie ein Schatten der Bestürzung über sein Gesicht …

Wieder setzte er die Violine ans Kinn. Abermals schlug der Pianist das A an. Karst setzte den Bogen auf die Saiten … ein leiser, fast zärtlicher Strich … plötzlich erweiterten sich seine Augen … mit einem Ruck setzte er das Instrument ab, und sein Blick glitt fassungslos über die Saiten. Er wandte sich zum Publikum und öffnete den Mund, als wolle er reden … im nächsten Augenblick drehte er sich um und lief mit allen Zeichen grenzenloser Bestürzung vom Podium.

Durch das Publikum ging ein Murmeln des Erstaunens. Stimmengewirr schwirrte durch den Saal, das mit jeder Sekunde lauter wurde. Dann trat plötzlich lautlose Stille ein. Ein kleiner, untersetzter Herr erschien auf dem Podium: der Impresario.

»Meine Damen und Herren«, begann er. »Ich muss Ihnen leider ein unerklärliches Vorkommnis melden. Soeben entdeckt Herr Holger Karst, dass man ihm seine berühmte Amati gestohlen hat, oder vielmehr sie mit einem fast wertlosen Instrument, das äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Geige besitzt, vertauscht hat. Herr Karst kann leider nicht auftreten. Die Kasse wird die gezahlten Eintrittsgelder zurückerstatten.«

Wieder setzte das Stimmengewirr ein. Bedauernde, mitleidige, spöttische Ausrufe schwirrten durch den Raum, dann entstand ein Drängen zum Ausgang.

Im Künstlerzimmer, auf einer Chaiselongue ausgestreckt, lag Holger Karst, vor ihm stand Joe Jenkins.

Der Impresario lief wie ein gefangener Löwe in dem kleinen Raum hin und her. In der Tür stand ein Diener, um den Neugierigen und Mitleidigen und Schadenfrohen den Eintritt zu verwehren.

»Die ganze Tournee ist zum Teufel«, stöhnte der Impresario. »Wo sollen wir eine neue Amati hernehmen in der kurzen Zeit … ein solches Instrument …«

Joe Jenkins trat auf den Aufgeregten zu. »Wann ist das nächste Konzert?«

»In acht Tagen, in Wien … und drei Tage vorher eine private Einladung zum Grafen Harrenfels in Pötzleinsdorf im Wiener Wald … auf die sich der Meister so gefreut hat … alles zum Teufel … ich muss sofort telegrafieren … den großen Musikvereinssaal in Wien abbestellen …«

Joe Jenkins legte ihm die Hand beschwichtigend auf den Arm. »Bestellen Sie vorläufig nichts ab.«

»Nichts?«, fragte der Impresario erstaunt.

»Nein. Denn vorläufig liegt kein Grund vor, anzunehmen, dass Herr Karst in acht Tagen in Wien nicht spielen wird …«

»… auf seiner Amati …?«

»Auf seiner Amati …«

 

***

 

Es war am nächsten Mittag, als im Pensionat Valentin das Telefon klingelte. Die Besitzerin selbst nahm den Hörer ab.

»Ich möchte mich erkundigen, wie es Herrn Karst geht?«

»Wie es Herrn Karst geht? Schlecht, Mr. Jenkins. Er ist völlig gebrochen. Er brütet vor sich hin. Seit gestern Nacht hat er das Haus nicht verlassen.«

»Nicht möglich. Sie irren sich, Frau Valentin.«

»Ich mich irren … Wie kommen Sie darauf?«

»Nun … ich habe Herrn Karst vor zwei Stunden frisch, munter und vergnügt auf der Tauentzienstraße gesehen … Ich fuhr leider in einem Auto vorüber, deshalb konnte ich ihn nicht anreden.«

»Herr Karst … vor zwei Stunden … auf der Tauentzienstraße? Das muss eine Verwechslung gewesen sein! Ich versichere Ihnen, er hat das Haus nicht verlassen.«

»Nun … das werden wir gleich feststellen … ich werde in zehn Minuten dort sein.«

»Ich werde Herrn Karst sagen, dass er Sie in zehn Minuten hier erwarten soll.«

Das Dienstmädchen begrüßte den Detektiv respektvoll. »Bitte in diesen Salon einzutreten, Mr. Jenkins. Herr Karst wird sofort erscheinen.« Damit schlüpfte sie geschäftig hinaus.

Joe Jenkins sah sich aufmerksam in dem großen, sonnigen Salon um. Die hohen, breiten Stores, die ein vornehm einfaches Muster zeigten, wallten bis auf das Parkett herab. Ein ungeheurer Perser bedeckte fast den ganzen Boden. Aus hohen Staffeleien, die in den Ecken standen, leuchteten japanische, australische und amerikanische Landschaften. Das mochten Geschenke der Gäste sein, die auf ihren bunten Irrfahrten durch die weite Welt in diesem Haus kurze Rast gemacht hatten. Sie gaben diesem Raum einen Hauch von Internationalität.

Die Tür öffnete sich langsam. Holger Karst trat ein. Der Detektiv wandte den Kopf, und ein Ausdruck des Erschreckens trat auf seine Züge. Aus dem jungen, lebensprühenden Künstler war über Nacht ein müder, hohlwangiger, scheuer Mensch geworden, der vor sich hinstierte und bei dem leisesten Geräusch zusammenzuckte. Eben öffnete Joe Jenkins den Mund zu einem Wort des Trostes, als sich zum zweiten Mal die Tür öffnete. Eine schlanke, junge Dame trat eilig ein und blieb beim Anblick der beiden Herren verwirrt in der Tür stehen.

»Pardon«, wandte sie sich an Karst, »ich wollte nur ein Buch holen.«

Dann ging sie mit schnellen, lautlosen Schritten auf den Bücherschrank zu und musterte eifrig die darin aufgereihten Bände. Ein feiner Duft von Peau d’Espagne zitterte durch das Zimmer. Sie hielt nachdenklich inne und legte die Hand auf die Stirn.

»Diese Bücher sind nach den Namen der Autoren geordnet«, sagte sie leise mit einem entschuldigenden Unterton in der Stimme. »Ich suche das Buch Der weiße Elefant. Es ist von einem Amerikaner. Können Sie mir vielleicht sagen, wie er heißt?«

»Mark Twain«, antwortete Joe Jenkins anstelle des Gefragten.

Die junge Dame richtete ihre dunkelblauen Augen lächelnd auf den Amerikaner und neigte dankend den Kopf. »Wie ich sehe und höre, ein Landsmann dieses wundervollen Humoristen …?«

»Ganz richtig!«, erwiderte der Detektiv, gleichfalls lächelnd.

»Gestatten Sie«, unterbrach ihn Karst mit leiser Stimme. »Mr. Joe Jenkins – Fräulein Helene Jungmann, Studentin der Medizin.«

Die junge Dame reichte dem Amerikaner mit einer freimütigen Bewegung die Rechte. »Es freut mich, einen so berühmten Mann kennenzulernen, Mr. Jenkins«, sagte sie, indem sie seine Hand kräftig schüttelte. »Ich vermute, Sie sind gekommen, um Herrn Karst zu seinem gestohlenen Schatz wiederzuverhelfen. Sie tun ein gutes Werk, denn Herr Karst ist auf dem besten Wege, schwermütig zu werden!« Und indem ein schelmisches Licht in ihre Augen trat, setzte sie hinzu: »Ein Glück nur, dass Herr Karst in seiner Betrübnis noch die Zeit gefunden hat, heute Vormittag ein Stündchen auf der Tauentzienstraße zu flanieren!«

»Ich …?«, fragte Karst erstaunt. »Ich habe dieses Haus seit gestern Nacht nicht verlassen!«

»Da sehen Sie den Heuchler«, lachte Joe Jenkins. »Und dabei habe ich ihn mit meinen eigenen Augen gesehen … Ja … hier kann ich es ja sagen: Er war nicht allein … nein! Arm in Arm mit einer schönen, blonden, jungen Dame!«

Lachend, scheinbar gelassen wandte Jenkins sein Gesicht zu dem Virtuosen herum. Im gleichen Moment streifte sein blitzschneller, forschender Blick das Antlitz der Studentin. Aus ihren Zügen war der letzte Blutstropfen gewichen, und ihre erweiterten Pupillen schienen starr ins Leere zu schweifen.

Als die beiden draußen auf dem Korridor standen, flüsterte der Virtuose aufgeregt: »Noch etwas hat sich ereignet: das Bild …«

»Das Bild?«

»Ja … meine Fotografie … sie ist seit gestern Nacht verschwunden.«

Jenkins sah einen Augenblick zu Boden und reichte dann seinem Mandanten die Hand. »Sie müssen allein auf Ihr Zimmer gehen«, sagte er leise. »Verlassen Sie es vorläufig nicht wieder. Ich habe sehr Dringendes außerhalb dieses Hauses zu erledigen.« Und schon war er verschwunden.

Zehn Minuten später stieß Joe Jenkins, der hinter einer Anschlagsäule gegenüber dem Pensionat Valentin stand, einen leisen Pfiff der Befriedigung aus. Mit eiligen Schritten kam Helene Jungmann aus dem Hause und rief ein vorüberfahrendes Automobil an. Jenkins nahm ein zweites, geschlossenes, und bedeutete dem Chauffeur, jenem zu folgen.

Die Fahrt ging durch den Berliner Westen und das Zentrum. Eine endlose Wagenreihe schien einem Zentralpunkt zuzustreben. Hier klingelten die Straßenbahnen in endloser Kette, donnerte die Stadtbahn über eine lange Brücke, tuteten unaufhörlich die Hupen der Automobile, dann ratterte das Auto der Studentin an der Berolina vorüber und bog in eine Seitenstraße ein. Endlich hielt es vor einer großen Mietkaserne. Joe Jenkins drückte auf den Gummiball und ließ ebenfalls halten.

Helene Jungmann sprang aus dem Wagen, warf einen schnellen Blick über die Fensterfronten des Gebäudes und stürzte ins Haus. Es mochte kaum mehr als eine Minute vergangen sein, als sie schon wieder auf der Straße erschien. In ihrem Gang, in ihrem hastigen Gebaren drückte sich eine fiebernde Unruhe aus. Sie stieg wieder in das Auto und sauste von dannen.

Einen Augenblick später betrat Joe Jenkins das Haus, aus dem sie gekommen war. Ein kaum wahrnehmbarer Duft von Peau d’Espagne erfüllte noch das Treppenhaus.

Der Detektiv machte im ersten Stockwerk halt. Auch hier wogte noch der leise Duft. Jenkins stieg die Treppe zum zweiten Stock empor.

Auch hier zitterte noch das süsslich-herbe Parfüm – seltsam – stärker als unten. Hier mochte sie Rast gemacht haben. Der Detektiv wandte sich zur dritten Treppe. Nein, hier versiegte die Duftwelle. Er trat auf den zweiten Treppenflur zurück.

Drei Wohnungstüren flankierten den Korridor. Drei Messingklingelzüge glitzerten neben zahlreichen Namensschildern. Der Detektiv zog den Handschuh aus und tastete leise und vorsichtig auf den ersten der Messingknöpfe. Das Metall lag kalt und unberührt in seiner Hand. Er legte die Hand auf den zweiten Knopf – auch er war glatt und kühl. Er fasste den Dritten an und nickte. Von dieser kleinen, gelben Kugel strömte eine leichte, kaum merkliche Wärme aus. Kein Zweifel – eine menschliche Hand hatte eben diese Klingel gezogen. Jenkins läutete einmal … Zeternd und lärmend schlug die Zugklingel an, niemand kam. Er zog zum zweiten Mal, zum dritten Mal. Hier war niemand zu Hause.

Auf dem kleinen, sauberen Porzellanschild stand: Frau Anna Schmidt.

In der Mitte der Tür war mit zwei Reißnägeln eine Visitenkarte angeheftet, die die Worte trug: Ralph Walden Violinist.

Neben der Türverschalung hingen eine kleine Schiefertafel und ein Griffel, und auf der Tafel stand: Bitte Amt Zentrum 23645! Ralph.

Joe Jenkins zog seinen Taschenblock und notierte die Nummer. Dann eilte er die Treppe hinunter.

Auf dem nächsten Postamt rief Joe Jenkins die Direktion des Amts Zentrum an und erfuhr, daß die Nummer 23645 der Grammophonfabrik Urania gehöre.

Der Direktor der großen Sprechmaschinenfabrik empfing den Detektiv höflich erstaunt. »Was verschafft mir die Ehre, Mr. Jenkins?«

Der Amerikaner ließ einen Blick über die Erscheinung seines Gegenübers gleiten.

»Ist Ihnen der Name Helene Jungmann bekannt?«

»Helene Jungmann …?«, wiederholte der Direktor erstaunt, »ja … seltsam … vor zwei Minuten hörte ich diesen Namen zum ersten Mal in meinem Leben, und nun fragt man mich schon nach ihm … ein Fräulein Helene Jungmann war vor zwei Minuten hier in meinem Büro, und ich persönlich habe ihr tausend Mark ausgezahlt, die für sie hier hinterlegt waren.«

»Wer hat dieses Geld für sie deponiert?«

»Ein berühmter Violinvirtuose. Er hat heute Morgen bei uns für eine Grammophonaufnahme konzertiert. Von seinem Honorar haben wir auf seinen Wunsch den Betrag von tausend Mark für Fräulein Jungmann zurückbehalten und ihn ihr ausgezahlt. Er selbst ist gleich darauf abgereist.«

Der Detektiv musterte die Reihe die Registratoren in den Regalen und fragte leise:

»Und wie ist der Name dieses Virtuosen?«

»Es ist ein berühmter Mann, auf dessen Gewinnung wir stolz sind: Holger Karst.«

 

***

 

Die beiden Herren hatten den Zug auf der Station Pötzleinsdorf verlassen und waren zu Fuß die Landstraße heruntergewandert, die unter hohen Buchen gegen den Wald zuführte. Hinter dem kleinen Weiher öffnete sich ein Kiesweg, darüber stand: Privatstraße zum Schloss Harrenfels.

Die bläulichen Schatten der ersten Dämmerung legten sich schwer und drohend über das weite Land. Hinter den bewaldeten Hügeln schossen die letzten Feuergarben violett empor. Der Detektiv deutete mit der Hand geradeaus. Dort lag, wie in Flammen eingehüllt, ein weißes Schloss. In seinen hohen Fenstern sprühte der Widerschein der zuckenden Flammen, und dieses ganze Gebäude schien eine Sekunde lang von einer ungeheuren Feuersbrunst zu lohen.

»Ein beneidenswerter Sitz!«, sagte Joe Jenkins nickend. »Kommen Sie, wir nehmen diesen Feldweg!«

Eine Viertelstunde später standen die beiden an der Hinterfront des großen Jagdschlosses, aus dessen Inneren Stimmengewirr und fröhliches Lachen tönten. Ein paar buntbemalte Fenster standen offen. Jenkins deutete darauf und zog seinen Begleiter mit sich fort.

Das Lachen verstummte plötzlich. Ein leises Präludium auf einem Flügel begann tastend. Dann setzte leise und süß der zitternde Ton einer Geige ein, der allmählich anschwoll zu einem jubelnden Krescendo.

Der Detektiv wandte langsam den Kopf und blickte dem Virtuosen ins Gesicht.

Mit einem Antlitz, das weiß war wie das eines Toten, stand Holger Karst unbeweglich, die starren Augen emporgerichtet, als ob er die Töne tränke, die aus diesen wuchtigen Fenstern auf ihn herabrieselten. Seine keuchenden Atemzüge gingen schwer und stöhnend durch den dunklen Sommerabend.

»Nun …?«, fragte Joe Jenkins leise.

Der Virtuose öffnete den Mund und schloss ihn lautlos wieder. Seine zitternden Arme breiteten sich plötzlich aus, als wollten sie nach diesen Tönen haschen, die durch die düfteschwere Luft herniederzitterten, und bebend sagte er: »Meine Amati!«

Das Wort klang durch die Nacht wie der halb schmerzensvolle, halb jubelnde Ruf eines Menschen, der nach langem, trostlosem Suchen in tiefer Waldesnacht vor seinem verlorenen Kind steht. Und ehe noch Jenkins es hindern konnte, stürzte er unter den Fenstern entlang und stürmte durch die offene Tür ins Haus.

Die Zuhörer im Musiksaal wandten sich erschreckt und unwillig um, als die Tür krachend aufflog. Auch der Spielende auf dem Podium blickte erstaunt auf. Im nächsten Moment fiel seine Hand schlaff herab. Das Spiel brach ab.

Mit drei Sätzen stürzte Holger Karst auf die kleine Bühne. Die Zuhörer sprangen von ihren Sitzen empor und starrten verständnislos auf das Bild. Zwei Männer standen dort, die sich völlig glichen.

Der Neuangekommene riss dem anderen Geige und Bogen aus der Hand.

»Wer sind Sie?« Der Herr des Hauses war mit drei Schritten an das Podium herangetreten.

»Herr Graf, kennen Sie mich nicht mehr?«

Der Gefragte blickte bestürzt von dem einen auf den anderen.

Da setzte Karst den Bogen an.

Und nun sprühte es aus der Amati wie jubelnde Sphärenmusik. Wie in der seligen Liebeswonne des Wiederfindens jauchzte es durch den Raum … Durch den kleinen Kreis dieser Musikkundigen ging ein Raunen.

»Der Meister!«, schwirrte es von Mund zu Mund.

Die Gräfin erhob sich und ging mit ausgestreckten Armen auf den Spielenden zu. »Holger Karst … ich erkenne Sie!«, sagte sie leise.

»Und wer ist dieser Mann hier?«, wandte sich der Graf an den anderen.

»Ein kleiner Spitzbube«, antwortete statt seiner Joe Jenkins. »Einer, dem eben sein Streich misslungen ist. Jawohl, Herr Ralph Walden … Sie sind erkannt! Ihr Plan war nicht übel. Fräulein Jungmann, Ihre Braut, war töricht genug, auf Ihre Bitten einzugehen, als sie in jener Nacht die Geige für Sie stahl … Sie mag Ihren Beteuerungen geglaubt haben, dass Ihnen nur eine Künstlergeige fehle, um Sie mit einem Schlag zu einem der ersten Virtuosen der Welt zu machen. Auch die Fotografie, die sie Ihnen noch nachträglich beschaffen musste, haben Sie nicht ohne Talent kopiert. Ihre Maske ist in der Tat frappierend. Dieser Herr war nichts anderes«, so wandte er sich an Karst, »als die nächtliche Erscheinung, die Sie in jener Nacht in Angst und Schrecken versetzt hat. Denn Herr Walden war zu ungeduldig. Er wartete auf das Lichtsignal aus dem Fenster seiner Braut und zeigte sich in seiner nervösen Spannung am offenen Fenster. Dass Fräulein Jungmann unbedachterweise bei ihrem Eindringen in Herrn Karsts Schlafzimmer in jener Nacht den Hauptschalter drehte, machte Herrn Karst völlig konfus – was vielleicht ein Glück war, denn dieser Vorfall gab den Ausschlag. Er ist am nächsten Tag zu mir gekommen. So habt ihr beide selbst die Glieder der Kette aneinandergeschmiedet, mit der ihr euch fesseltet.

Offenbar hat Herr Walden damit gerechnet, Herr Karst werde, seiner Amati beraubt, hoffnungslos und resigniert seine Tournee abbrechen und ihn an seiner Stelle Ruhm und Schätze ernten lassen. Und nun, Herr Walden …«, er zog die Uhr, »nehmen Sie den Zug, der in dreiviertel Stunden von der Station geht, und gehen Sie in die weite Welt, um vielleicht noch auf ehrliche Weise die Karriere zu machen, die auf unehrliche Art misslungen ist. Und wenn es Ihnen recht ist, Herr Graf, so wird unser Herr Karst – der wirkliche Holger Karst – nunmehr das unterbrochene Konzert fortsetzen.«