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Der Welt-Detektiv Band 6

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Aëlita – Teil 31

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Umschwung der Ereignisse

Die Truppen der Aufständischen besetzten alle von Gor bezeichneten wichtigen Punkte der Stadt. Es war eine kühle Nacht. Die Marsianer froren auf ihren Posten. Gussew befahl, offene Feuer anzuzünden. Das erschien allen als etwas ganz Unerhörtes. Tausend Jahre waren es her, seit in der Stadt kein Feuer mehr angezündet worden war, von tanzenden Flammenzungen wurde nur noch in einem uralten Lied gesungen.

Gussew selbst zündete den ersten, aus zerbrochenen Möbelstücken geschichteten Scheiterhaufen vor dem Haus des Höchsten Rates an.

»Ulla, Ulla«, fingen die Marsianer leise zu wimmern an und umringten das Feuer. Und da begannen auf allen Plätzen die Feuer zu lodern. Ihr rötlicher Schein belebte die schrägen Mauern der Häuser mit schwankenden Schatten und schimmerte in den Scheiben der Fenster.

Hinter den Scheiben erschienen bläuliche Gesichter, die voller Besorgnis und Schwermut die nie gesehenen Feuer und die abgerissenen Gestalten der Aufständischen betrachteten. Viele Häuser wurden leer in dieser Nacht.

In der Stadt war es jetzt still geworden. Nur die Feuer knisterten. Waffen klirrten. Es war, als hätten die Jahrtausende auf ihrem Wege kehrtgemacht und als hätten sie aufs Neue ihren ermüdenden Flug begonnen. Sogar die dunstig flimmernden Sterne über den Straßen, über den offenen Feuern schienen anders zu sein – und der am Feuer Sitzende hob unwillkürlich den Kopf und blickte aufmerksam hinauf, wie zu einem vergessenen, wieder lebendig gewordenen Bild. Gussew inspizierte, auf einem geflügelten Sattel sitzend, die Stellungen des Heeres. Er ließ sich aus dem Sternendunkel auf den Platz fallen und überquerte ihn zu Fuß, einen gigantischen Schatten werfend. Er sah wahrhaft wie ein Sohn des Himmels aus, wie ein Götze, der von seinem steinernen Sockel heruntergestiegen ist.

»Der Magazitl, der Magazitl«, flüsterten die Marsianer in abergläubischem Entsetzen. Viele von ihnen sahen ihn zum ersten Mal und krochen heran, um ihn zu berühren. Manche riefen weinend mit kindlichen Stimmen: »Jetzt werden wir nicht sterben … Wir werden glücklich sein … Der Sohn des Himmels hat uns das Leben gebracht.«

Abgezehrte Körper, bedeckt von der einförmigen, für alle gleichartigen Kleidung, runzlige, spitznasige, welke Gesichter, traurige Augen, seit Jahrhunderten nur an das Kreisen von Maschinenrädern und die Dämmerung in den Bergwerken gewohnt, magere Arme, denen die Bewegungen der Freude und der Kühnheit fremd waren, Hände, Gesichter, Augen, in denen sich die Funken der Feuer spiegelten – sie reckten und hoben sich dem Sohn des Himmels entgegen.

»Keine Bange, keine Bange, Kinder. Macht ein fröhliches Gesicht«, rief ihnen Gussew zu. »Solch ein Gesetz gibt es ja gar nicht, dass man bis in alle Ewigkeit unschuldig leiden muss – keine Bange. Wenn wir sie unterkriegen, werden wir nicht schlecht leben.«

Spät in der Nacht kehrte Gussew in das Haus des Höchsten Rates zurück. Er war hungrig und durchgefroren. In dem gewölbten kleinen Saal mit den goldenen Rundbögen schliefen auf dem Fußboden etwa zwei Dutzend mit Waffen behängte Marsianer. Der spiegelglatte Boden war vollgespuckt mit zerkauter Chawra. Mitten im Raum saß Gor auf Patronenkisten und schrieb beim Schein einer kleinen elektrischen Lampe. Auf dem Tisch lagen Feldflaschen und Brotrinden herum.

Gussew setzte sich an eine Ecke des Tisches und begann gierig zu essen. Dann wischte er sich die Hände an den Hosen ab, nahm einen Schluck aus der Flasche, räusperte sich und sagte mit heiserer Stimme: »Wo ist der Gegner? Das ist es, was ich wissen will …«

Gor hob seine geröteten Augen und betrachtete den blutigen Fetzen, mit dem Gussews Kopf verbunden war, sein kräftig kauendes breites Gesicht. Der Schnurrbart war gesträubt, die Nasenflügel blähten sich.

»Ich kann nicht herauskriegen, wohin – der Teufel hol sie – die Regierungstruppen geraten sind«, fuhr Gussew fort. »Auf dem Platz liegen an die dreihundert von ihren Leuten, aber es waren vorher doch nicht weniger als fünfzehntausend Mann da. Wie in den Boden versunken sind sie. Verstecken konnten sie sich nicht – es handelt sich ja nicht um eine Stecknadel. Wären sie in den Boden versunken, hätte ich es gewusst. Eine schlimme Situation. Jeden Augenblick kann uns der Feind in den Rücken fallen.«

»Tuskub, die Regierung, die Überreste des Heeres und ein Teil der Bevölkerung haben sich in die Labyrinthe der Königin Magr, die sich unter der Stadt befinden, zurückgezogen«, sagte Gor.

Gussew sprang vom Tisch auf. »Warum schweigen Sie denn?«
»Weil es nutzlos wäre, Tuskub zu verfolgen. Setzen Sie sich und essen Sie, Sohn des Himmels.« Gor verzog das Gesicht und holte unter seiner Kleidung ein wie roter Pfeffer aussehendes Päckchen Chawra hervor, steckte es sich hinter die Backe und begann es langsam zu kauen. Seine Augen überzogen sich mit Feuchtigkeit und wurden dunkel, die Runzeln glätteten sich. »Vor einigen Jahrtausenden bauten wir noch keine großen Häuser, wir konnten sie nicht heizen – die Elektrizität war uns unbekannt. Während der Winterkälte begab sich die Bevölkerung unter die Oberfläche des Mars, in eine beträchtliche Tiefe. Die riesigen Säle, zu denen die vom Wasser ausgewaschenen Höhlen verwendet und hergerichtet wurden, die Kolonnaden, Tunnel und Korridore wurden von der inneren Hitze des Planeten erwärmt. In den Kratern der Vulkane war die Hitze so groß, dass wir sie zur Herstellung von Dampf benutzten. Auf einigen Inseln arbeiten noch heute solche schwerfällige Dampfmaschinen aus jenen Zeiten. Die Tunnel, welche die Städte unter der Marsoberfläche miteinander verbinden, ziehen sich fast unter dem ganzen Planeten hin. Es ist sinnlos, Tuskub in diesem Labyrinth zu suchen. Er allein kennt die Pläne und die geheimen Schlupfwinkel im Labyrinth der Königin Magr, der Gebieterin zweier Welten, die einstmals den ganzen Mars beherrschte. Von Soazera aus führt ein ganzes Netz von Tunneln zu fünfhundert lebenden und zu mehr als tausend toten, aus gestorbenen Städten. Dort sind überall Waffenlager und Häfen für Luftschiffe. Unsere Kräfte aber sind verstreut, wir sind schlecht bewaffnet. Tuskub hat eine Armee, auf seiner Seite stehen die Besitzer von Landgütern, alle Chawra anbauenden Plantageneigentümer und alle diejenigen, die vor etwa dreißig Jahren nach dem verheerenden Krieg Eigentümer von großen Häusern in der Stadt geworden sind. Tuskub ist klug, und er hält kein Versprechen. Er hat alle diese Ereignisse mit Absicht hervorgerufen, um ein für alle Mal sämtliche noch vorhandenen Überreste des Widerstandes zu ersticken … Ach, das Goldene Zeitalter … Goldenes Zeitalter! …«
Gor schüttelte seinen benebelten Kopf. Auf seinen Wangen traten violette Flecke hervor. Die Chawra begann auf ihn zu wirken.
»Tuskub träumt vom Goldenen Zeitalter. Er will die letzte Epoche in der Geschichte des Mars – das Goldene Zeitalter – eröffnen. Nur Auserwählte werden dort hineingehen, nur solche, die der Glückseligkeit würdig sind. Die Gleichheit ist unerreichbar, es gibt keine Gleichheit. Das Glück aller ist eine Fieberphantasie von Wahnsinnigen, von solchen, die sich an der Chawra berauscht haben. Tuskub hat gesagt: ›Das Streben nach Gleichheit und die allgemeine Gerechtigkeit zerstören die höchsten Errungenschaften der Zivilisation.‹« Auf Gors Lippen zeigte sich ein rötlicher Schaum. »Zurückgehen zur Ungleichheit, zur Ungerechtigkeit! Die vergangenen Jahrhunderte sollen sich wie die Ichi auf uns stürzen. Die Sklaven in Ketten schmieden, sie festschmieden an den Maschinen, an den Werkbänken, sie hinunterlassen in die Bergwerke … Für sie die Fülle des Leids. Und für die Auserwählten die Fülle des Glücks … So sieht das Goldene Zeitalter aus! Zähneknirschen und Finsternis. Verflucht seien mein Vater und meine Mutter! Auf diese Welt geboren werden! Verflucht will ich sein!«
Gussew schaute ihn an, kaute heftig an seiner Zigarette: »Na, das muss ich sagen: Ihr habt es ja zu was gebracht hier! …«
Gor schwieg lange, zusammengekrümmt auf den Patronenkisten sitzend, wie ein uralter Greis. »Ja, Sohn des Himmels. Wir, die wir den alten Tuma bewohnen, wir haben das Rätsel nicht gelöst. Heute habe ich Sie im Kampf gesehen. Wie ein lustiges Feuer tanzt die Freude in Ihnen. Ihr seid schwärmerisch, leidenschaftlich und unbekümmert. Euch, den Söhnen des Himmels, wird es vorbehalten sein, einmal das Rätsel zu lösen. Aber nicht uns – wir sind alt. In uns ist Asche. Wir haben unsere Stunde versäumt …«
Gussew zog seinen Gürtelriemen fester. »Na schön. Asche! Was gedenken Sie morgen zu tun?«
»Morgen müssen wir durch das Spiegeltelefon Tuskub zu erreichen suchen und mit ihm über gegenseitige Zugeständnisse verhandeln …«
»Eine ganze Stunde lang reden Sie nichts als Unsinn, Genosse«, unterbrach ihn Gussew. »Da haben Sie die Disposition für morgen: Sie erklären dem Mars, dass die Regierungsgewalt auf die Arbeiter übergegangen ist. Verlangen Sie unbedingten Gehorsam. Und ich suche mir tüchtige Leute zusammen, begebe mich mit der ganzen Luftflotte direkt an die Pole und besetze dort die elektromagnetischen Kraftstationen. Danach werde ich unverzüglich Telegramme auf die Erde senden, nach Moskau, dass sie uns so schnell wie möglich Verstärkungstruppen herschicken sollen. In einem halben Jahr haben sie die Apparate gebaut, und der Flug dauert ja nur …«
Gussew wankte und setzte sich mit aller Wucht auf den Tisch. Das ganze Haus bebte. Aus dem Dunkel der Deckenwölbungen fielen die Stuckverzierungen herab. Die auf dem Boden schlafenden Marsianer sprangen hoch und blickten um sich. Ein neues, noch stärkeres Beben erschütterte das Gebäude. Zerschlagene Fensterscheiben klirrten. Die Türen gingen auf. Ein tiefklingendes, zu Donnerrollen ansteigendes Getöse erfüllte den Saal. Auf dem großen Platz ertönten Schreie und Schüsse.

Die Marsianer, die zu den Türen gelaufen waren, wichen zurück und traten auseinander. Der Sohn des Himmels – Losj – trat ein. Es war schwer, sein Gesicht zu erkennen. Die riesengroßen Augen waren tief eingesunken und dunkel, sie strahlten ein seltsames Licht aus. Die Marsianer wichen immer weiter von ihm zurück und hockten sich nieder. Sein weißes Haar sträubte sich.

»Die Stadt ist umzingelt«, sagte Losj laut und mit fester Stimme, »der Himmel ist voll vom Feuer der Luftschiffe. Tuskub sprengt die Arbeiterviertel.«