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Interessante Abenteuer unter den Indianern 49

Interessante-Abenteuer-unter-den-IndianernJohn Frost
Interessante Abenteuer unter den Indianern
Erzählungen der merkwürdigsten Begebenheiten in den ersten indianischen Kriegen sowie auch Ereignisse während der neueren indianischen Feindseligkeiten in Mexiko und Texas

Wyomimgs verlorene Schwester

Man hat sehr viele Beispiele, dass Indianer den Wigwam verlassen, ihre Sitten und Religion von sich werfen und brauchbare Glieder der zivilisierten Gesellschaft werden. Beispiele entgegengesetzter Art sind selten, obgleich auch deren schon einige stattgefunden haben. Öfter aber hat es sich ereignet, dass weiße Kinder, welche von den Indianern gestohlen und erzogen waren, ihre Bekannten und Freunde, ja selbst ihre Eltern und Geschwister vergessen, oder wenn noch zu jung, um dies vergessen zu können, so doch späterhin jeden Unterschied in der Farbe übersehen haben und wahre Indianer geworden sind. Die Erfahrung hat es schon zu oft bewiesen, dass es schwerer hält, einen adoptierten Wilden zur Zivilisation zurückzubringen als seinen roten Bruder; und wenn dies feststeht, so möchte die Begleichung, ob der Einfluss der Natur oder der zivilisierten Gesellschaft auf die Leidenschaften und Glückseligkeit des Menschen größer ist, eine hübsche Frage für den Philosophen geben. Ob nun das etwaige Resultat dieser Untersuchung dazu dienen würde, das Wohlbehagen zu zerstören, mit dem wir auf unsere Überlegenheit über den Sohn der Wildnis hinblicken, überlassen wir dem Urteil eines jeden Lesers.

Im Jahr 1778 wurde die Familie des Herrn Jonathan Slocum, Wilkesbarre, (Campbell’s Wyoming) im Staat Pennsylvania, von Indianern überfallen. Im Haus befanden sich gerade zwei kleine Mädchen, 9 und 5 Jahre alt, ein Knabe von 12, ein kleiner Junge von 2¼ Jahren und deren Mutter. Die Männer arbeiteten auf dem Feld, und zwei junge Burschen waren im Vorhaus damit beschäftigt, ein Messer zu schleifen. Einer von ihnen wurde erschossen und mit seinem eigenen Messer skalpiert. Das älteste Mädchen ergriff den kleinen Buben und lief mit ihm auf das Fort zu. Die Indianer zeigten eine ungewohnte Menschlichkeit, indem sie das Mädchen mehr verfolgten, um sie zu ängstigen und sich an ihrem Fortlaufen zu ergötzen, denn ihr irgendein Leid anzutun. Sie nahmen dann den Knaben, welcher den Schleifstein gedreht hatte, den jungen Slocum und seine Schwester Franziska, und machten sich zum Abmarsch bereit. Der kleine Slocum war lahm, und die Indianer, anstatt ihn, ihrer sonstigen Gewohnheit gemäß, zu töten, setzten ihn nieder und gingen fort. Einer aus der Bande warf das kleine Mädchen über die Schulter, und ihr kleines Gesichtchen, mit den tränenvollen, um hilfeflehenden Augen, halb bedeckt von dem langen, schönen Lockenhaar, war das Letzte, das der Mutter Auge von ihrem Liebling sehen konnte.

Während eines Monats wurde nichts von den Indianern und deren Gefangenen gehört. Dann kehrten sie zurück, ermordeten den alten Großvater und schossen eine Kugel in das Bein des lahmen Knaben, welche er mit zu seinem Grab tragen musste. Sie zogen sich wiederum in die Wälder zurück und kamen nicht wieder. Jahre verflossen, nichts konnte jedoch von dem kleinen Mädchen und dessen Mitgefangenen in Erfahrung gebracht werden. Als die Mutter starb, und die übrigen Brüder erwachsen waren, beschlossen diese, im Fall es möglich wäre, sich vom Schicksal ihrer Schwester zu vergewissern. Sie erkundigten sich überall, schrieben Briefe an mehrere Stämme und Agenten, durchreisten den ganzen Westen und Kanada. Alles war jedoch vergebens; und seit 58 Iahren schon begruben die großen, finsteren Wälder, gleich ihren wilden Bewohnern, in ihren stillen Einöden das Schicksal der kleinen Gefangenen.

Diese ganze Zeit hindurch war Franziska am Leben, und sie wurde durch einen reinen Zufall der zivilisierten Welt wieder zurückgegeben. Herr G. W. Ewing, Vereinigte Staaten Agent für das Indiana-Gebiet, verlor, während er längs den Ufern des Mississinewa reiste, (ungefähr 1836) seinen Weg, wurde von der Nacht überfallen und suchte in einem benachbarten Wigwam Unterkommen. Derselbe gehörte einem wohlhabenden Jäger und war mit Fellen, Waffen und Lebensmitteln wohl gefüllt. Der Agent wurde freundlich empfangen und aufgenommen, und ließ sich nach dem Abendbrot in ein Gespräch mit der Wirtin ein. Ewing erstaunte bald, als er sah, dass ihr Haar fein und flachsfarben war, auch dünkte es ihm, dass ihre Haut unter der Kleidung weiß aussah. Wie wurde er jedoch überrascht, als er von ihr erfuhr, dass sie die Tochter weißer Eltern, dass ihr Name Slocum, und dass sie, ungefähr fünf Jahre alt, von Indianern geraubt und von einem Haus an der Susquehanna fortgeführt sei. Etwas Weiteres vermochte sie sich nicht mehr zu erinnern.

Sowie er sein Haus wieder erreichte, erzählte er dieses Abenteuer seiner Mutter. Auf ihren Rat schrieb er dann auch eine Erzählung hiervon zur Veröffentlichung nach Lancaster. Durch eine kaum zu erklärende Nachlässigkeit blieb dieselbe jedoch in dem Büro zwei Jahre liegen, wurde dann veröffentlicht und von Herrn Slocum in Wilkesbarre, dem ehemaligen kleinen Knaben, der vor 60 Jahren von seiner Schwester gerettet wurde, nach ein paar Tagen gelesen. Er reiste sofort nach Indiana ab, begleitet von der Schwester, die ihn damals rettete, gleichzeitig an seinen Bruder schreibend, mit ihm bei dem Wigwam zusammenzutreffen. Die kleinen, mit dieser so merkwürdigen Reise verknüpften Ereignisse sind sorgfältig aufbewahrt worden, und mögen vielleicht eine angenehme Unterhaltung gewähren.

»Ich werde meine Schwester gewiss erkennen«, sagte die Dame, »denn sie verlor den Nagel vom ersten Finger. Dein Bruder schlug ihn einst in einer Schmiedewerkstatt mit einem Hammer ab. Sie war damals vier Jahre alt.«

Indem sie die Stube, wenn wir das Gemach so nennen wollen, betraten, sahen sie eine Indianerin, dem Anschein nach 75 Iahre alt, angemalt und mit Perlen geschmückt. Ihr Haar war jedoch, wie der Agent es beschrieben hatte, und ihre Haut unter der Kleidung schien weiß zu sein.

Sie erhielten darauf einen Dolmetscher und begannen die Unterhaltung. Wir können uns wohl die Gefühle schildern, die die kleine Gesellschaft beseelten, wenn sie den Worten der indianischen Frau lauschten. Die Erzählung des Ereignisses des Überfalles und der Gefangennahme – uns schon zu wohl bekannt – wollen wir übergehen. Dieselbe wurde jedoch mit einer solchen Treue wiedergegeben, dass sie keinem Zweifel mehr Raum ließ.

»Auf welche Weise verlorst du deinen Nagel?«, fragte sie die Schwester. »Mein Bruder schlug ihn in einer Werkstatt ab, als ich noch ein Kind war.«

»Wie war dein Name?«

Dessen konnte sie sich sedoch nicht mehr erinnern.

»War derselbe Franziska?«

Sie lächelte, als sie diesen lang vergessenen Namen wieder hörte, und antwortete schnell: »Ja!«

Alle waren jetzt hinlänglich überzeugt, dass die lang ersehnte, so schmerzlich entbehrte Schwester vor ihnen stand, dass sie alle zu einer Familie gehörten. Und dennoch war keine Freude in dieser Unterhaltung.

Es lag eine solche Traurigkeit in derselben, nicht etwa durch die Rückerinnerung an die Vergangenheit  verursacht, sondern durch das tiefe, traurige Gefühl der Gegenwart.

Denn obgleich die Brüder vor Rührung kein Wort zu sprechen fähig waren, im Raum auf- und abgingen, und die Schwester nicht die Tränen zu hemmen, nicht die Seufzer zu unterdrücken vermochte, welche sich ihrer tief bewegten Brust entrangen, saß die arme indianische Schwester still, bewegungslos da. Kein Zug erwachender Zuneigung für die wiedergefundenen Lieben war in ihrem Gesicht zu lesen, keine Träne in ihrem Auge zu sehen, kein Seufzer zu hören, der zeigte, dass die Saiten ihres Herzens gerührt wären. Ach! Sie waren schon alle erstorben, ein zartes, feines Gefühl ihrer Brust schon längst fremd!

Franziskas Geschichte kann mit wenigen Worten erzählt werden. Die Truppe, welche den Überfall gegen das väterliche Haus gemacht hatte, bestand aus Delawaren. Sie blieb bei diesem Stamm, bis sie erwachsen war, und heiratete dann einen Häuptling. Als dieser jedoch gestorben oder von ihr fortgelaufen war, heiratete sie einen Miami. Sie hatte zwei Töchter. Beide waren schon erwachsen und an Indianer verheiratet. Sie wohnten alle in einem Gemach zusammen, ritten dieselben Pferde und schliefen des Nachts auf dieselbe Weise, nämlich auf der Erde, in eine Decke gewickelt.

Ihre Geschwister versuchten sie zu überreden, mit ihnen zurückzukehren, und, falls sie es wünschte, ihre Kinder mitzubringen. Sie erboten sich, ihr ein hübsches, schönes Haus am Ufer der Susquehanna zu geben. Alles war jedoch vergebens. Sie antwortete ihnen: »Ich habe fast mein ganzes Leben bei Indianern zugebracht. Sie sind gut und freundlich gegen mich gewesen. Ich habe meinem verstorbenen Ehemann an seinem Totenbett versprochen, nie seine roten Brüder zu verlassen, und ich bin fest entschlossen, mein Versprechen zu halten. Deshalb lasst mich, ich kann eure Bitte nicht erfüllen!«

Traurig und bekümmert verließen die drei hochherzigen Verwandten die Hütte, ihre Schwester in der Wildnis zurücklassend.

Die indianische Schwester starb im Jahre 1847. Obwohl ihre Sitten und Gewohnheiten bis zu ihren letzten Tagen ganz die der anderen Indianer waren, so lag doch in ihrem ganzen Wesen ein Etwas, das sie über ihre Gefährten zu erheben schien. In ihrem Haushalt walteten Geschmack und Zierlichkeit, und infolge ihrer Sparsamkeit war ihr Gatte stets wohl mit allem versehen. Sie wurde bewundert und geliebt, sowohl von roten als auch von weißen Männern. Ihr Grab befindet sich auf einem hübschen Hügel am Zusammenfluss des Mississinewa und Wabash, eine Stelle, die sie sich selbst zu ihrem letzten Ruheplatz ausersehen, und auf der sie schon länger denn dreißig Jahre gewohnt hatte.