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Der Freibeuter – Tollkühne Flucht

Der-Freibeuter-Dritter-TeilDer Freibeuter
Dritter Teil
Kapitel 20

Krank an Leib und Seele erwachte er. Ein furchtbarer Ekel setzte ihm zu. Er hoffte zu sterben, aber er starb nicht. Drei Tage und drei Nächte lag er auf feuchtem, stinkenden Boden, täglich mit einem Stück Kommisbrot und einem Napf Wasser versehen.

Mit tränender Bitte, die Steine zu rühren vermocht hätte, flehte er den Profos an, beim Kommandanten des Kastells, General von Stöcken, ihm doch wenigstens den Genuss von etwas frifcher Luft zu verschaffen. Er ließ den General beschwören, ihm eine sehr starke Bedeckung mitzugeben und ihn nur auf dem Hof täglich eine halbe Stunde umhergehen zu lassen. Er wolle auch nicht einen Fingerbreit weiter gehen, als ihm erlaubt würde. Aber er erhielt erst keine Antwort, und als er zu sehr lamentierte, ließ ihm der General sagen, er habe hier gar nichts zu erlauben. Alles dies geschehe auf strengen Befehl Sr. Exellenz, des Herrn Geheimrats von Raben, welchem die offizielle Oberaufsicht über ihn übertragen worden sei. Das war ein Donnerschlag für den Gefangenen. Er konnte nicht begreifen, was er diesem Geheimrat zuleid getan habe.

Eines Tages wurde sein Kerker geöffnet und er vom Profos hervorgerufen. Da zitterte plötzlich der Flügelschlag der Hoffnung durch seine Seele. Ein Sonnenstrahl fiel in die offene Tür, ein lichter Gedanke an Freiheit in seine Seele. Bebend schwankte er der Tür zu. Aber seine Kleider waren so zerrissen, dass sein bloßer Leib überall durchblickte. Bart, Haupthaar und Nägel waren ihm über die Maßen lang gewachsen, sein totfahles Gesicht hatte grauer Moder überzogen, der sich auch stark an die ihm umflatternden Lumpen angehängt hatte. So kroch er, sich mit den Händen an der Wand haltend – denn er war sehr schwach auf den Beinen – heraus. Er hörte den Schrei einer weiblichen Stimme, aber die ungewohnte Helle blendete sein Auge, die frische Luft griff ihn so sehr an, dass ihm die Sinne zu vergehen drohten. Er sank kraftlos an der Mauer herab und saß am Boden. Als er sich wieder erholt hatte, sah er einen sehr mit Putz überladenen Mann vor sich stehen, dessen Brust mit dem Danebrog- und Elefantenorden geschmückt, dessen Gesicht und Augen aber so flach und unbedeutend waren, dass sich Norcroß kaum erinnerte, es schon einmal gesehen zu haben. Sechs Soldaten mit scharf geladenem Gewehr und auf Norcroß gefällten Bajonetten waren im Hintergrund aufgestellt, den Geheimrat Gerd von Raben gegen die etwaigen Angriffe des gefangenen Freibeuters zu schützen und das Entfliehen desselben zu verhindern. Die Gemahlin des Geheimrats war, bei Norcroß Anblick von Schrecken ergriffen, entflohen. Vielleicht schlug sie plötzlich das lang betäubte Gewissen und presste ihr den Schrei aus, welchen Norcroß noch gehört hatte. Er ahnte nicht, dass die giftige Natter in seiner Nähe sei.

Gerd von Raben meinte, er müsse seinen Witz auf Kosten des Unglücklichen geltend machen.

»Seht«, sagte er grinsend, »jetzt gäbt Ihr mit der närrischen Friederike von Gabel im Tollhaus ein gutes Gespann. Es ist wahr, Ihr seid wie füreinander geschaffen.«

Norcroß’ erloschenes Auge blitzte auf, als sein Ohr vom Schall des geliebten Namens getroffen wurde. Es ruhte dann mit einem gewissen Mitleid auf Rabens Gesichte.

»Ja, seht«, fuhr der Geheimrat selbstgefällig fort und spielte mit den Ordenskreuzen an seiner Brust, »dieses alberne Geschöpf schlug meine Hand aus, um sich an Euch wegzuwerfen. Dafür hat sie Gott gestraft und ihr den Verstand verwirrt.«

Norcroß schauderte über die Meinung des besternten Mannes von Gottes Strafgericht und schwieg, aber in seiner Brust entzündete sich an der Nichtswürdigkeit dieses Menschen wieder das Fünkchen eines bessersn Selbstgefühls, das ihm allmählich Kraft und Vertrauen zurückgab.

»Herr«, sagte er mit fester Stimme, »ich kenne Sie nicht und weiß nicht, womit ich Sie gekränkt habe, dass Sie mich unter aller Menschlichkeit behandeln lassen. Sie sind ein vornehmer Mann, das sehe ich. Und wenn Fräulein von Gabel nicht gegen Sie handelte, wie Sie wünschten, so trage ich nicht die Schuld davon. Hören Sie die verzweifelte Bitte eines Mannes, der ein besseres Los verdient hat, lassen Sie mich totschlagen oder gönnen Sie mir täglich etwas frische Luft und nächtlich ein Strohlager! Wenn Sie den geringsten Glauben an eine ewige Vergeltung haben, so lassen Sie mich nicht vergeblich wimmern.«

»Ihr sollt es besser haben«, sagte Raben und ging triumphierend von dannen, denn der Adler, den er gefürchtet hatte, kroch vor ihm als Wurm im Staub. Noch denselben Tag erhielt Norcroß eine Pritsche mit etwas halb vermodertem Stroh und die Erlaubnis, täglich eine Viertelstunde, unter starker Bedeckung, vor den Kerker auf- und abgehen zu dürfen. Aber die Pritsche war so schlecht zusammengefügt, dass er die Nacht über sich an der Wand festhalten musste, aus Furcht, dass, wenn er sich umdrehte, sie zusammenbrechen würde.

Tags darauf wurde ein Diener in seinen Kerker geführt, welcher ihm zwanzig Dukaten mit einer Ouittung aushändigte, welche Letztere er von Norcroß unterschrieben zurück verlangte. Dazu brachte er ihm eine Bleifeder mit. Norcroß konnte unmöglich begreifen, von wem ihm diese Wohltat zukomme. Denn dass er von Rosamunde Palmerston Geld zur Unterstützung erhalten werde, daran konnte er nicht denken. Aber es war von ihr. Ihr erwachtes Gewissen hatte sie zu dieser Handlung der Milde vermocht. Seine Rührung war groß. Er behielt die Feder, welche ihm fast ebenso viel Vergnügen machte wie die Dukaten. Er kaufte sich Papier und schrieb allerlei, kaufte sich ganze Kleider und konnte einen Kerl bezahlen, der ihm das Gefängnis fäuberte und ihm selbst Haare, Bart und Nägel stutzte, sodass er wieder ein menschliches Ansehen erhielt.

Norcroß hatte Mut gewonnen und dachte daran, sich selbst zu befreien. All sein Sinnen und Denken ging nun darauf hin, und seine Schlauheit bemerkte die kleinsten Umstände, die ihm dienen konnten. So gewahrte er bei seinem täglichen kleinen Spaziergang, dass an der Seite seines Gefängnisses hin, welches zur ebenen Erde gelegen war, die Treppe zum zweiten Stockwerk des Hauses führte. An dieses Haus stieß unmittelbar und nur durch eine einzige Wand getrennt, die Kirche des Kastells.

Im Gefängniß meditierte Norcroß Tag und Nacht, wie er es anfangen möchte, durchzubrechen. Sein Fenster war klein und hoch an der Wand des Kerkers, sodass er nur mit Mühe dazu konnte. Überdies fand er, dass es mit dicken Eisenstangen verwahrt war.

Es war also nicht daran zu denken, dass er durch das Fenster konnte. Für weit möglicher hielt er es, ein Loch durch die Wand auf die Treppe zu graben. Von der Treppe gedachte er entweder ein zweites Loch gegen den freien Platz hinaus zu arbeiten oder die Treppe hinaufzulaufen bis unter das Dach und von hier auf das Gewölbe der Kirche durchzubrechen, oder auch auf das Dach zu steigen und im äußersten Fall vom Kirchturm herabzuspringen.

Das Leben war ihm gleichgültig und er wollte es daraufhin wagen, den Hals zu brechen. Der schrecklichste aller möglichen Zustände war ihm seine elende Gefangenschaft.

Als er sich den zu machenden Weg ausgesonnen hatte, ersuchte er den Profos, ihm einen großen gekochten Hinterschinken zu kaufen. Die Geberin des Geldes hatte ausdrücklich befohlen, ihm an Essen und Trinken verabfolgen zu lassen, was er wünsche. Sie werde, wenn diese Summe aufgezehrt sei, für seinen weiteren Unterhalt Sorge tragen. Der Schinken kam. Niemand konnte daraus einen Verdacht schöpfen. Norcroß aß erst das Fleisch ab, dann machte er den Knochen, an welchem ihm vorzüglich lag, mit dem Messer scharf und spitz. Hierauf drehte er von dem Stroh, auf welchem er zu liegen pflegte, ein starkes Seil. Da er aber fürchtete, es mochte nicht haltbar genug sein, so zerriss er ein Bettlaken, welches ihm auf Betrieb seiner Wohltäterin gereicht worden war, und wand die Stücke um das Strohseil. Endlich brach er seine Pritsche aseinander, um das eine etwas spitze Bein derselben ebenfalls zu benutzen. Nach diesen vorläufigen Anstalten griff er abends rüstig und mit glühendem Mut zur Arbeit, als es auf dem nahen Kirchturm zehn Uhr schlug. Mit dem Schinkenbein, einer alten abgebrochenen und halb verrosteten Schere, die er bei seinem täglichen Spaziergang im Kot auf dem Hof gefunden und unbemerkt zu sich gesteckt hatte, und mit dem Bein der Pritsche durchbrach er in der Zeit von anderthalb Stunden furchtbar angestrengter Arbeit die Wand, welche aus mürbem feuchten Sandstein und Kalkgerülle bestand. Als er nur erst das kleinste Loch hatte, um mit der Hand durchzugreifen, so riss er mit Riesenkraft, die ihm seine Lage lieh, die Steine heraus und hatte das Loch bald so groß, dass er mit dem Körper durchschlüpfen konnte. Nun zog er seinen Überrock aus und kroch durch das Loch. Er war im bloßen Hemd, Beinkleidern und leinenen Strümpfen. Seinen Rockelor zerrte er durch das Loch nach. Nun war er zwar auf der Treppe, aber zu seinem Schrecken sah er hinter sich die Haustür, welche in stark bewohnte Kasernen ging, vor sich aber die Treppe auf eine zweite Tür. Die Dunkelheit der Nacht ließ ihn nicht viel erkennen. Er tappte und fühlte, dass auch diese Tür verschlossen sei. Sie musste er durchaus öffnen, wenn er zum zweiten Stockwerk hinauf wollte. Er fing also an, sich mit dem Rücken nach den Angeln zu, dagegen zu stemmen und aus Leibeskräften zu heben. Es glückte, die Tür sprang aus dem Schloss und fuhr ohne großes Geräusch auf. Er ging hindurch, betrachtete sich die Örtlichkeit und ermaß im Geist die mögliche Höhe von hier bis hinab in den Graben. Er fand es für das Geratendste, hier ein zweites Loch zu graben, und holte, kurz entschlossen, seine schlechten Werkzeuge herbei. Aber hier fand er eine weit schlimmere Arbeit. Diese Steine waren hart und dürr, der sie verbindende Kalk weit spröder. Doch Norcroß ließ sich durch nichts abschrecken. Mit der Zahl der Hindernisse stieg sein Mut. Die Mühe war unsäglich, ehe er nur ein kleines Loch hatte, denn das Schinkenbein hatte sich abgestumpft und mit der Schere vermochte er demselben nicht viel Schärfe wiederzugeben. Er vergoss Ströme von Schweiß und blutete unter den Nägeln hervor, aber er rastete nicht einen Augenblick und fühlte auch keine Schmerzen. Als die Turmglocke zwei Uhr schlug, war er bis an den äußersten Stein. Nun trat eine neue Schwierigkeit ein. Dieser Stein war nämlich von außen in die Mauer eingesetzt und konnte also nicht hineinwärts gezogen werden. Norcroß musste auf die Gefahr hin, ein nicht unbedeutendes Geräusch und die unweit auf dem Wall stehenden Wachposten aufmerksam zu machen, den Stein von innen hinaustreten. Er legte sich auf die Treppenstufen rücklings und trat mit voller Kraft drei bis viermal gegen den Stein, bis er hinausfuhr und in den Graben hinabstürzte. Den Kopf durch das Loch gesteckt, horchte der verwegene Mann aufmerksam hinaus, aber ruhig und lautlos lag die Nacht vor ihm, nur eintönig unterbrochen durch den regelmäßigen Pendelschlag der nahen Turmuhr.

Die dunkle Tiefe unter seinem Blick gähnte ihn schauerlich an. Zum ersten Mal grauste ihn vor dem Gedanken, sich hier hinabzulassen. Aber sogleich bestrafte er sein Herz für die Feigheit und entschloss sich, eher zu sterben, als sich aufs Neue greifen zu lassen. Hurtig machte er das Loch geräumiger, band innen das Strohseil an dem Treppenbalken fest und hing es hinaus. Den Rockelor ließ er an dem Haus gerade hinabgleiten, damit, wenn der Strick zerrisse, er nicht allzuhart fallen mochte, zog dann die Beinkleider aus, legte sie zusammen und band sie, wie eine Schlafmütze um den Kopf, um sich vor einer Kopfkontusion zu schützen. Einen Dukaten und fünfunddreißig Stilberstücke, die er von dem erhaltenen Geld noch übrig hatte, wickelte er sich in die Haare und band das Geld mit seinen langen Locken fest. Hierauf kroch er, mit den Beinen zuerst, im bloßen Hemd durch das Loch und ließ sich schnell, aber vorsichtig, am Strick hinabgleiten, indem er sich mit den Fußzehen an der Wand hinabhalf.

Der Strick hielt glücklich, und der Flüchtling kam auf die Erde zu stehen. Schnell warf er den Rockelor über, nahm die Beinkleider unter den Arm, und lief mit Windeseile hochklopfenden Herzens quer über den großen Platz, um an den Graben des Kastells zu gelangen.

Kaum war er fünfzig Schritte von der Kirche entfernt, als ihn eine Schildwache mit »Wer da!« anrief.

Schrecken und Angst legten ihm die Antwort »Offizier!« in den Mund. Der Soldat schien damit zufrieden. Norcroß verdoppelte seine Schritte. Wie eine Katze lief er den Wall hinauf und gelangte auf der anderen Seite bis an die Mauer des Walls. Jetzt warf er den Rockelor von sich, gebrauchte die Beinkleider wieder als Kopfbedeckung, wickelte das Hemd dicht um die Lenden und sprang in den wassergefüllten Graben hinab. Dieser war seicht, und der mutige Springer fiel weich in den Schlamm, aus welchem er sich mit leichter Mühe losarbeitete und durchwatete bis an das gegenseitige Ufer, dem Ende des Kastells gegenüber. In wilder Hast rannte er nun über die Strecke Landes bis an das Ufer des Meeres. Die Wellen des Sundes rauschten dumpf vorüber. Einen Augenblick besann sich der Flüchtling, dann war sein tollkühner Entschluss gefasst. Er bedachte kurz: »Kleider hast du nicht, also bist du jedem verdächtig, der dir zu Lande begegnet. In höchstens zwei Stunden bricht der Tag an. Deine Flucht wird auf dem Kastell bemerkt, die Trommeln werden gerührt, die Kanonen gelöst, und ehe du ein paar Stunden Wegs nach Helsingoer zu gelaufen bist, weiß man es sechs Meilen weit, dass ein Gefangener geflohen ist. Zum Verbergen ist nirgend eine Gelegenheit. Endlich bist du der schlechteste Fußgänger, wohl aber der beste Schwimmer. Auf dem Wasser hat dir das Glück sich immer lachender gezeigt als auf dem Land. Es ist auch besser, du verlässt dänischen Grund und Boden so schnell wie möglich. Zehn Wochen hast du in einem Grab geschmachtet, jetzt willst du dich dem Meer in die Arme werfen. Es ist gewiss mitleidiger als die Menschen. Denn entweder zieht es dich hinab in seinem Tiefe – so ist dir geholfen und du hast ein Grab, wie es einem Seemann gebührt – oder es trägt dich glücklich hinüber zu der Insel Ween, und du bist gerettet.«

Und als er dies gedacht hatte, warf er sich an dem öden Meerstrand in den Sand, erhob seinen Blick, faltete seine Hände und betete inbrünstig und heiß zu den Sternen hinauf, die einzeln, aber freundlich, durch das zerrissene Gewölk hindurchschimmerten. Er dankte für die Rettung bis jetzt, er flehte Gott um fernere Rettung oder einen gnädigen Tod an. Sein Leib glühte fieberisch von der ungeheuren Anstrengung, der Angst und Eile der Flucht. Schneidend strich die kalte Morgenluft über das Meer her. Norcroß warf noch einen Blick nach oben und sprang dann vom Ufer hinab in die Brandung. Das Wasser war eiskalt. Er glaubte, das Blut würde ihm erstarren. Doch mutig fing er an mit Händen und Füßen zu arbeiten. Er tauchte aus der Tiefe empor und begann das Werk. Aber jetzt schien es, als habe das Element, dem er stets treu gedient hatte, sich gegen ihn verschworen. Ein Sturm brauste von Nordost herab ihm entgegen and brachte das Wasser in Gährung. Die Wellen erhoben und rollten dem kühnen Schwimmer zu. Der Wind blies ihm heftig ins Gesicht. Da glaubte er sich verloren und ergab sich in sein Geschick. Aber er gelobte sich, alle Kräfte anzuspannen, und er kämpfte über zwei Stunden lang mit unbegreiflichen, fast übermenschlichen Kräften. Des Tages Licht ging über ihm matt und weinerlich auf. Schon hatte er zwei Drittel der Entfernung zurückgelegt, da fing die Flamme allmählich an zusammenzufallen, er verspürte eine Abnahme der Kräfte. In diesem Augenblick entdeckte er ein Fischerboot mit vier Männern und rief ihnen zu, so stark er vermochte.

Sie gewahrten seiner auch bald, ruderten auf ihn zu und zogen ihn aus dem Wasser. Es waren Fischer, die auf ihr Tagewerk ausfuhren. Da sie aber sahen, dass der Gerettete keine Kleider anhatte, schöpften sie Verdacht gegen ihn und erklärten ihm rund heraus, sie wollten sich seinetwegen keine verdrießlichen Händel zuziehen und müssten ihn wieder in das Meer werfen. Norcroß legte sich aufs Bitten und erweichte wenigestens das Herz eines dieser Männer.

Dieser sagte zu den anderen: »Wisst ihrr was! Wir wollen nicht unmenschlich an diesem Mann handeln. Mag er sein, wer er will, und wohl auch etwas verbrochen haben, weshalb er nackt und bloß flüchten muss. Wir wollen ihn nahe an die Küste von Ween führen und ihn dann an die Insel schwimmen lassen. Wir wollen ihn nicht kennen und nicht von ihm gekannt sein!«

Norcroß schenkte vor Freude und Dankbarkeit den Leuten das in seine Haare gebundene Geld. Sie gaben ihm dafür ein Stück Brot und einen Schluck Branntwein, wodurch er sich stärkte, sodass er, ungefähr fünfzig Schritt vom Ufer der Insel, auf ihr Begehr wieder ins Wasser springen und dem Ufer zuschwimmen konnte. Doch wurde es ihm noch sehr erschwert, ehe er auf die Füße zu stehen kam, indem die See gewaltige Wellenstöße an das Land anschleuderte. Endlich kam er aufs Trockene. Jetzt nahm er die Füße wieder allein in Anspruch und lief bis an die nächsten Häuser. Die Bauern stutzten über den Mann im triefenden Hemd ohne alle weitere Bekleidung und liefen neugierig zusammen. Er aber bat sie flehentlich um einige alte Kleider, indem er vorgab, von Kaperern ausgeplündert und ins Meer geworfen worden zu sein.

»Kleider wird Euch die gnädige Frau schon geben«, sagten die Bauern. Mit diesen Worten führten sie ihn auf das Gutshaus. Dort wohnte die Gemahlin des Oberstlieutenants von Landsstierna, Kommandanten von Helsingburg, welche zu ihrem Vergnügen hier auf ihrer Besitzung lebte, während ihr Gemahl nach Stockholm auf den Reichstag gereist war. Ein Diener brachte der Dame die Nachricht von dem üblen Zustand eines geplünderten Schweden, der draußen stehe und auf ihre Gnade warte. Sie ließ ihm von den Kleidern ihres Mannes reichen, ließ ihn speifen und befahl, dass man ihm ein Nachtlager gebe und des anderen Morgens ihn in einem Boot nach Helsingburg übersetze, wohin er begehrte. Als sich Norcroß am anderen Tag für die Gnade bedankte, steckte ihm der Diener einige Taler in die Hand, und mit leichtem Herzen trat der Flüchtling nach einigen Stunden glücklich an die schoonische Küsten getrosten Mutes ging er in eine Herberge und ließ sich eine Flasche Madeiramalvasier geben, um sich nach den überstandenen Leiden gütlich zu tun. In derselben Herberge kehrten später ein Zöllner von Fredrichshall und ein Bürger von Kopenhagen ein, welche von Norwegen herabkamen und nach Kopenhagen wollten. Diese Leute taten weiter nichts, als während der Mahlzeit, die Norcroß mit ihnen gemeinschaftlich genoss, von der Frömmigkeit, Gnade, sanften Regierung usw. ihres Königs zu reden. Norcroß hörte erst schweigend zu, trank aber heftig seinen Wein, bis ihm dieser zu Kopf gestiegen war. Da platzte er endlich heraus und ein Strom giftiger Reden über die dänische Regierung, den König, den Kronprinzen, die Räte ergoss sich aus seinem Munde. Nebenbei fiel ihm des Dänenkönigs Verbündeter, der König von Großbritannien ein, und seine Galle sprudelte auch über diesen Namen. Er nannte den britischen König einen Stehler, den Dänenkönig den Hehler, und bediente sich in der Wut, in welche ihn das Geschwätz der beiden dänischen Untertanen und der zu hastig genossene starke Wein versetzt hatten, der unanständigsten Redensarten. Der Bürger erinnerte ihn, er solle bedenken, was er spräche, von gekrönten Häuptern dürfe man nicht also despektierlich reden. Ein König habe immer recht, er möge tun, was er wolle. Ein anderes Menschenkind dürfe sich darüber nicht zu äußern unterstehen. Diese Erinnerung goss Öl in die Flamme. Norcroß wurde wütender und schwur Stein und Bein, er wolle den König und den Kronprinzen von Dänemark noch aus Kopenhagen oder aus Friedrichsburg, aus ihren Schlössern herausstehlen und davonführen, und ihnen auf offenem Meer die Rache für das, was sie ihn hätten erdulden lassen, zu kosten geben.

»Bei Gott! Was ich vor zehn Jahren unterlassen habe, will ich noch ausführen.«

»So seid Ihr der berüchtigte Freibeuter John Norcroß!«, rief der Friedrichshaller Zöllner und fuhr entsetzt vom Stuhl empor.

Der Kopenhagener Bürger hatte sich die Ohren zugehalten, um die entsetzlichen Reden nicht zu hören, welche ihm grässlicher dünkten als die ärgsten Gotteslästerungen.

»Kennt Ihr den Namen?«, jubelte Norcroß wild auf. »Ich bin’s! Bin der gefürchtete Freibeuter. Und das erschreckt Euch so, dass Ihr zusammenfahrt und aufschreit. Aber wartet, ich will Euch noch zeigen, was Norcroß vermag.«

»Woher kommt Ihr denn eigentlich?«, fragte der Zöllner, als er sich ein wenig erholt und überzeugt hatte, dass der berüchtigte Freibeuter nicht wie ein Menschenfresser aussehe. Und Norcroß erzählte mit schwerer Zunge, wie er aus dem Gefängnis in Friedrichshafen entsprungen sei.

»Und weshalb seid Ihr denn arretiert worden?«

»Weiß ich’s? Ich ging zum König nach Friedrichsburg, um meine Dienste anzubieten, da haben sie mich durch den Stadtkommandanten festnehmen und in ein abscheuliches Loch legen lassen. Die Schurken! Aber ich gedenk’s ihnen noch, so wahr ich John Norcroß heiße. Ganz Dänemark soll über mich noch rebellisch werden.«

Er tobte zum Gräuel seiner Zuhörer noch eine kurze Zeit so fort, dann aber wurde er von Müdigkeit und dem Weingeist übermannt, dass er in einen tiefen Schlaf fiel und zu Bett getragen werden musste.

Am anderen Morgen trat er verlegen in die Kammer des Zöllners und Bürgers und bat, sie möchten doch ja kein Aufhebens von dem machen, was er gestern Abend geredet hatte; es sei alles in der Trunkenheit geschehen. Er versuchte die Leute zu rühren und durch schlaue, verstellte Reden für sich zu gewinnen, gleichsam als ahne er, welche schlimme Folgen seine Unvorsichtigkeit für ihn haben werde. Der Bürger verstopfte ihm sein Ohr; der Zöllner fertigte ihn kurz ab und sagte: »In vino veritas.« Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre Norcroß von ihm vor die Tür geworfen worden.

Denselben Tag noch reisten die Beiden ab, und als sie nach Kopenhagen kamen, war ihr erster Gang zum Stadtkommandanten, Grafen Schoneck, bei welchem sie sofort Anzeige machten, wo sie den Kaperkapitän Norcroß getroffen und welche verbrecherische Äußerungen sie von ihm vernommen hätten.

Der Graf ließ alles sogleich zu Protokoll bringen und übersandte das Aktenstück ohne Säumen dem König. Hof und Stadt gerieten in Schrecken. König und Kronprinz glaubten sich schon in den Händen des grässlichen Freibeuters, und eine Furcht kam über sie. Schnell wurde der Stadtadjutant, Kapitän Barford, mit einem Brief des Königs an den Vizekommandanten, Lieutenant Crassov in Helsingburg abgeschickt, worin der Letztere dringend ersucht wurde, den aus dem Kastell entwischten John Norcroß sogleich wieder gefänglich einzuziehen. Der Zöllner und Bürger aber wurden auf das Schloss zum Geheimrat von Raben gerufen, wo sie ihre Aussage noch einmal wiederholen mussten. Der Kronprinz saß hinter einer spanischen Wand und schauderte über die Worte des Freibeuters.

Um Norcroß war indessen in Helsingburg viel Begehr.Kaum hatte das Volk von seiner Ankunft und wunderbaren Rettung vernommen, als es haufenweise zuströmte, um ihn zu sehen. Die Herberge, wo er lag, war gestopft voll Menschen. Man hielt ihn frei, man beschenkte ihn mit Geld, und vorzüglich waren die Seeleute stolz auf ihn; die Soldaten liebten ihn. Der Lieutenant Crassov, Vizekommandant von Helsingburg, hielt es für Pflicht, die Ankunft des berühmten Freibeuters nach Stockholm an den König und den Reichstag zu melden. Aber tags darauf erhielt er schon den Brief des Königs von Dänemark und ließ Norcroß gefänglich einziehen und vor sich bringen. Norcroß leugnete kein Wort von dem, was er im Weinrausch gefsprochen hatte, ja er hatte die Kühnheit, dem Lieutenant ins Gesicht zu behaupten, jene Reden seien nichts als pure Wahrheit gewesen. Und wenn er, der Lieutenant, ihn deshalb gefangen setzen und vielleicht gar den Dänen ausliefern wolle, so solle seine Macht dazu nicht groß genug sein, denn er werde jedenfalls entfliehen, entweder mit oder ohne seinen Körper. Mit dem toten Leichnam möge man nachher anfangen, was man wolle. Norcroß hatte gute Vertröstungen von den Soldaten. Als er einige Tage auf der Hauptwache gesessen und sich in Essen und Trinken wohlgetan hatte, war er eines Morgens verschwunden, und kein Mensch wollte wissen, wie es zugegangen sei.

Seine Freunde hatten ihm geraten, nach Stockholm zu gehen und die Gnade des Königs anzuflehen. Zu Fuß wanderte er fort. In Engelholm fand er einen Mann, der ihm Geld gab und eine große Strecke Wegs fahren ließ. So viel hatten die Leute Respekt vor dem Namen Norcroß. So kam er wieder in die Hauptstadt Schwedens. Der Ruf war ihm schon vorausgegangen, und Menschenmassen kamen herbei, ihn zu sehen. Man sagte ihm, dass der König befohlen habe, ihm in Helsingburg eine beträchtliche Summe auf Rechnung der Schatzkammer auszuzahlen. Rechtsgelehrte boten ihm an, den Lieutenant Crassov in Helsingburg vom Dienst zu bringen, wenn er einen Process gegen denselben anfangen wollte. Aber er lehnte dies ab, und hatte nur das eine im Auge, sich eine Anstellung bei der Flotte zu erbitten, um Frau und Kind kommen zu lassen und fernerhin ein ruhiges Leben zu führen. Er fand eine Menge Freunde und Unterstützung des schriftlichen Gesuchs, welches er beim König einreichte; aber zugleich erhoben sich auch seine mächtigen Gegner beim König gegen eine solche Anstellung des Freibeuters. Und so hatte er denn nach drei Monaten weiter nichts erzielt, als dass ihm der königliche Kabinettssekretär Törner eine ansehnliche Summe Reisegeld auszahlte, jedoch mit der Weisung, das schwedische Reich ungesäumt zu verlassen und nie wieder zu betreten. Solche Furcht hatte man auch in Stockholm vor ihm.

Er war eine öffentliche Person geworden. Man erzählte sich von ihm an allen Orten, in jedem Haus die wunderlichsten, oft fabelhaftesten Dinge. Jeder wollte etwas Außerordentliches von ihm mitteilen, und so wurden Märchen auf Märchen von ihm erfunden. Seine Freunde übertrieben sein Lob, seine Feinde seinen Tadel. Alles drängte sich ihm zu, um ihm zu raten, und nahm Anteil an ihm. So riet man ihm auch, wieder in russische Dienste zu gehen. Man verwendete sich für ihn bei dem russischen Gesandten Gallowin in Stockholm. Als Norcroß selbst kam, wurde er von demselben sehr gnädig aufgenommen und dem eben in Stockholm anwesenden außerordentlichen russischen Botschafter Dolgoruki zugeführt. Dieser wollte einen solchen berühmten und erfahrenen Mann nicht fahren lassen und versprach ihm russische Dienste; aber es lag kein russisches Schiff da, und Norcroß erhielt zehn russische Dukaten Wartegeld.

Von der anderen Seite drängte ihn die Polizei. Er erhielt einen schwedischen Pass aus der Stadtkanzlei und musste mit einem Schiff, welches nach Ystad ging, absegeln. Von da ließ er sich später, ohne einen bestimmten Plan zu haben, mitten im Winter nach Stralsund hinüberfahren.