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Die Tauscher 26

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 26

Sie fuhr auf die Zufahrt einer Hochstraße, bremste dann und bog ab, dass ihr Wägelchen das Hinterrad hob, als wollte es einen Hund imitieren. Hammerstain folgte, auf Kosten einer Straßenbahnvollbremsung, die mit Funken sprühenden Rädern über die Schienen kratzte, während die Fahrgäste purzelten oder sich irgendwo festkrallten.

Noch ein Krach, noch einer. Nach Hammerstains Zählung arbeiteten von der ursprünglichen Achtzahl gerade noch einmal die Hälfte der Zylinder und das Kompressorwarnlicht schien entschlossen, erst als letzter Teil des gesamten Systems zu versagen. Schlimmer war, dass Noira aufmerksam werden musste. In ihrem Rückspiegel, der eigentlich nur zur Kontrolle des Lippenstiftes dienen sollte, musste es aussehen, als würden kurz hinter ihr Bomben einschlagen.

Sie fuhren jetzt eine zweispurige Straße zwischen Häusern und Bahndamm entlang. Kopfsteinpflaster bedeckte die Fahrbahn, der Untergrund rüttelte den Wagen bis zur letzten Schraube durch, die Räder waren mehr in der Luft als auf dem Boden und Hammerstain musste das Lenkrad eisern festhalten, um diesem Tanz die gewünschte Richtung zu geben. Die Vibrationen erfassten ihn bis in die Haarspitzen, er musste die Zähne zusammenpressen, um sich nicht selbst auf die Zunge zu beißen. Ein Güterzug ratterte oben vorbei. Hammerstain schaute zu ihm hoch und sah das kleine Luftschiff mit der Aufschrift Polizei, das parallel zur Straße fuhr. Der schnelle Blick zeigte ihm die Schleppantenne, die wie ein langer schwarzer Fühler von der Kanzel nach unten hing und im Fahrtwind leicht pendelte. Aus den Fenstern starrten Köpfe hinter großen Ferngläsern.

Da vorne passierte etwas. Noira beschleunigte, dass ihr Auspuff die Straße blau vernebelte. Ein Kopf verschwand aus einem Wagenfenster, dann fuhr der Wagen auf die Straße. Noira überholte ihn, der andere Wagen blieb an ihr dran. Das war es also.

Hammerstain blickte in den Rückspiegel. Er war nicht einmal überrascht, dass er nun selbst verfolgt wurde. Dieses Auto hatte mit etwas Abstand zum anderen geparkt und die Sicherung gespielt. Keine übermäßig kreative Neuerung, aber eine effektive Taktik.

Der Wagen hinter ihm war ein Dreiachser mit drei Sitzreihen. Problematisch war nur, dass sich ein Mann aus der vorderen Sitzreihe, neben dem Fahrer, erhob und den Lauf seiner Maschinenpistole auf den Rahmen der Frontscheibe anlegte. Hammerstain versuchte ein Beschleunigungsmanöver, aber es blieb bei dem Versuch. Druck auf das Gaspedal bedeutete mehr mechanisches Rasseln, keine vermehrte Geschwindigkeit. Er zog den Kopf ein, peilte über die Motorhaube und hörte die Kugeln, die mit bösem Surren an ihm vorbeiflogen. Die Windschutzscheibe splitterte. Es hatte keinen Zweck. Die Sache musste zu einem Ende kommen. Hammerstain trat die Bremse, legte mit krachendem Getriebe einen kleineren Gang ein. Sein Wagen verzögerte abrupt, der Hintermann reagierte nicht schnell genug, rammte Hammerstain und zog dann seitlich an ihm vorbei. Für eine Sekunde sah Hammerstain den stehenden Mann, der seine Waffe mitschwenkte und versuchte, ihn vor das Visier zu bekommen. Dann riss er das Lenkrad herum und gab Gas. Sein Wagen traf den anderen auf Höhe der zweiten Hinterachse. Der Anprall warf den Wagen quer, im nächsten Augenblick überschlug er sich und wirbelte krachend gegen eine Hauswand.

Das Rammmanöver hatte Hammerstains Wagen die Schönheit eines Kotflügels gekostet. Schlimmer war, dass ein geschlitztes Blechteil über den Reifen schmirgelte und ihm baldigst den Rest geben würde. Hammerstain zog den Kompressorhebel. Es schien, als würde der Motor explodieren, es klingelte, rasselte, knirschte und schepperte, schwarzer Rauch fauchte aus dem Auspuff und entzündete sich mit einem Knall an dem heißen Metall. Der schwere Wagen ähnelte in diesem Moment eher einer abstürzenden Flugmaschine oder einem schlecht gelaunten Kometen auf Erdkollisionskurs, aber er wurde schneller, schneller sogar als Hammerstain erhofft hatte.

Nach wenigen Sekunden hatte er die beiden Wagen vor sich erreicht. Das verschnürte Paket auf dem Rücksitz musste Sara Levinsohn sein. Und der Kerl auf dem Beifahrersitz war derjenige, der auf Hammerstain schießen sollte. Oder auf die Levinsohn.

Ihm blieben nur noch Sekunden. Hammerstain trieb seinen Wagen auf das Heck des anderen. Dann riss er am Steuer, der andere Wagen kam quer, überschlug sich aber nicht, sondern konnte sich mit jaulenden Reifen in eine schmalere Querstraße retten. Hammerstain bremste, schaltete krachend in den Rückwärtsgang und jagte um die Ecke. Bevor die beiden Männer überhaupt die Türen öffnen konnten, war das Heck der schweren Sportlimousine da, krachte gegen ihr Auto und nagelte es an die Hauswand.

Das sollte es gewesen sein. Hammerstain sprang auf die Straße. Als er das Pflaster berührte, schien ein Schalter umgelegt worden zu sein und ein Schmerz in seiner Schulter ließ ihn fast aufschreien.

Er lief zu dem Wagen. Die beiden Männer saßen eingeklemmt zwischen zackigem Blech und geborstener Frontscheibe und wirkten nicht so, als wollten sie in der Geschichte noch eine Rolle spielen. Die Levinsohn war vom Rücksitz verschwunden. In Panik riss Hammerstain die Tür auf. Da lag sie, sie war auf den Boden gerutscht und starrte ihn aus dunklen, angstvoll aufgerissenen Augen an. Sie war geknebelt und wie ein Rollbraten verschnürt, und Florian dachte, dass man so etwas eigentlich nur in Comics zu sehen bekommt.

Sara Levinsohn war vor Angst steif wie ein Brett und Hammerstain musste halb in den Wagen und sie herausheben und biss sich vor Schmerz die Lippen blutig.

Er trug die Levinsohn auf die andere Seite der Gasse, setzte sie ab und löste ihren Knebel, der sich als sicherlich teures seidenes Halstuch herausstellte. Dann fummelte er unsicher den Knoten auf, der das Seil hielt.

Hammerstain war nicht so optimistisch, Dank von Fräulein Levinsohn zu erwarten, aber das »Was war das denn jetzt?«, das sie hervorstieß kam dann doch unerwartet.

»Ich habe Ihnen das Leben gerettet«, bemühte er sich lahm um eine Rechtfertigung, »übrigens zum wiederholten Male.«

Die Ereignisse bewahrten ihn davor, die Antwort von Fräulein Levinsohn hören zu müssen.

Stattdessen hörte er das Brummen des Polizeiluftschiffes direkt über sich, Polizeisirenen und heranheulende Motoren. Zwei, drei Polizeimotorräder mit Beiwagen bremsten quietschend an der Einmündung und blockierten die andere Straße. Die Beamten gingen hinter ihren Maschinen in Deckung. Sie kümmerten sich nicht um die Nebengasse, in der Hammerstain stand, sondern richteten ihre Waffe in Richtung der freien Straße.

Hammerstain fühlte eine Welle von Schwäche durch seinen Körper ziehen. Der Boden schien zu schwanken, für einen Moment schien er selbst durchsichtig zu werden. Wie durch Watte hörte er Motorendröhnen, Reifenquietschen und dann Schüsse.

Irgendetwas – oder irgendwer – zwang ihn weiterzugehen. Er erreichte den grünen Sportwagen, dessen Motor noch immer im Leerlauf rasselte. Mühsam zog sich Hammerstain hoch, bediente den Hebel für das Handgas und legte einen Gang ein. Der Motor schien auszugehen, erholte sich dann aber und klang nun wie das asthmatische Husten eines altersschwachen Ackerschleppers. Aber der Wagen bewegte sich, kroch zentimeterweise über die Gasse und begann, sie zu blockieren.

Fräulein Levinsohn befreite sich von ihren Fesseln, sie hüpfte auf der Stelle und zeigte eine unerwartete Fähigkeit, die Hüften zu bewegen, um das Seil zu lockern. Eigentlich hätte Hammerstain ihr helfen müssen, aber es sah so hübsch aus, dass er sich lieber auf das Zuschauen beschränkte.

In den Häusern wurden Fenster aufgerissen, Köpfe reckten sich neugierig nach draußen. Einige Fenster wurden rasch wieder geschlossen, bei anderen wurden in Erwartung eines betrachtenswerten Spektakels Kissen auf das Fensterbrett gelegt.

Das schrille Heulen konnte nur eines bedeuten. Ein Wagen mit Zweitakter. So wie Noira einen fuhr.

Und da war sie. Sie bremste schlingernd, offensichtlich hatte sie im letzten Moment erkannt, dass ihr Wägelchen aus Pappe und Plastik den Anprall gegen die schweren Motorräder nicht überstehen würde. Sie riss den Wagen in die Kurve, beschleunigte.

Das grüne Sportwagen-Wrack ratterte immer noch und machte die Durchfahrt schmaler und schmaler. Noira gab Gas, mit blauer Abgaswolke fegte der kleine Sportwagen heran. Sie zielte auf die Lücke. Sie zielte genau und sie hätte es geschafft. Beinahe, wenn nicht der gezackte Rest eines Kotflügels die Flanke ihres Wagens erwischt und bis zum Hinterreifen aufgeschlitzt hätte. Es gab einen lauten Knall, als der Reifen platzte. Noiras Wagen schleuderte mehrmals um die eigene Achse und prallte dann gegen die Rampe eines Lagerhauses. Noira lag bewegungslos über dem Lenkrad.

»Sie haben mein bestes Seidentuch beschmutzt«, beschwerte sich Fräulein Levinsohn bei Hammerstain.

»Was ist das überhaupt?«, fragte sie dann und betrachtete den Flecken.

»Blut«, sagte Hammerstain, »untypischerweise vergieße ich gerade mein eigenes Blut. Tut mir leid, ich habe ein Leck.«

Sara Levinsohn stieß einen erschrockenen Schrei aus, zog Hammerstain das Jackett von der Schulter und drückte dann jammernd ihr Seidentuch auf die Wunde.

»Keine Sekunde kann man sie aus den Augen lassen«, klagte sie.

Hammerstain bemerkte in diesem Moment zwei Dinge. Die Motorradpolizisten hatten ihre Deckung verlassen und winkten zwei schwere Limousinen in die Seitenstraße. Und aus der Motorhaube des Sportwägelchens züngelten erste Flammen.

Hammerstain schob die Levinsohn sanft zur Seite und ging mit steifen Schritten auf Noira zu. Noch immer lag sie reglos über dem Lenkrad, ein dünner Blutfaden lief wie eine Schlange über das perfekte Weiß ihrer Haut. Hammerstain beugte sich über sie, er konnte die Hitze schon spüren und die roten Flammen erkennen, die den Motorraum erfüllten.

Er hob Noira aus dem Sitz. Ihr Kopf pendelte kraftlos nach hinten. Hammerstain musste sie in Sicherheit bringen und wankte zur Seite. Plötzlich schlang sich ihr Arm um seinen Hals und ihre freie Hand drückte auf seine Wunde, dass ihm der Schmerz die Sinne raubte. Er ging in die Knie, Noira landete wie eine Tangotänzerin, die von ihrem Partner hochgehoben worden war. »Du wirst es nie kapieren«, flüsterte sie dem hockenden Hammerstain zu, »aber gut, dass es solche wie dich gibt. Geiselnahme ist zwar unelegant, aber wenn es sein muss …!«

Damit schritt sie auf die vor Schreck erstarrte Sara Levinsohn zu und riss sie am Handgelenk mit sich. Hammerstain befand sich in einer roten Blase von Schmerz, er war eingeschlossen, gefangen und musste hilflos zusehen.

Und so sah Hammerstain zu, wie Fräulein Levinsohn von Noira von Schwarz mitgezerrt wurde. Und dann riss die Levinsohn ihrerseits und wirbelte die völlig verblüffte Noira um die eigene Achse. Fräulein Levinsohn ballte ihr kleines Fäustchen und knallte es mit aller Kraft in Noiras Gesicht. Die schrie auf und ließ Fräulein Levinsohn los. Was wiederum für Fräulein Levinsohn ein Angebot war, das sie nicht ablehnen wollte. Sie holte Schwung, in dem sie ihren Arm aus der Schulter mehrmals herumwirbelte, und landete dann einen Volltreffer auf Noiras Kinn. Noira verdrehte die schönen Augen und sank in sich zusammen.

Fräulein Levinsohn massierte mit verzerrtem Mund ihre rechte Hand. Trotzdem war sie enthusiastisch.

»Ich wusste gar nicht, dass Leute verprügeln so einen Spaß machen kann. Jetzt verstehe ich erst, was Sie daran so toll finden. Ich glaube, ich könnte es öfter machen.«

»Gewöhnen Sie sich besser nicht an das Gefühl«, stöhnte Hammerstain und kam mühevoll zurück in die Senkrechte.

»Eine Frau mit Verständnis für männliche Freizeitbeschäftigungen.« Die ironische Stimme gehörte Traut. Der Kommissar drückte sich zwischen dem grünen Rennmonstrum und dem Wrack des ersten Wagens durch. Zwei Männer in langen schwarzen Ledermänteln, die angesichts der Sommerhitze die schwachsinnigste Kleidung von allen waren, folgten ihm. In den Händen hielten sie Pistolen.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie einen solchen Schlag am Leib haben«, meinte Hammerstain bewundernd zu Fräulein Levinsohn, »ein waffenscheinpflichtiges Mundwerk ja. Aber mit den Fäusten?«

»Ich bin die Urururenkelin eines ruthenischen Pferdehändlers, haben Sie das nicht in meiner Bewerbung gelesen?«

»Ich habe Ihre Bewerbung als Assistentin gar nicht durchgelesen«, gestand Hammerstain.

»Ich hatte es auch nicht hingeschrieben.«

»Wie konnten Sie mir eine solche Tatsache verschweigen?«

»Sie hätten es ja sowieso nicht gelesen«, beendete Fräulein Levinsohn gewohnt energisch die Diskussion.

»Du hast es dir ja mal wieder ganz auf deine Weise gemütlich gemacht«, erklärte Traut, immer noch in ironischem Ton, nach einem ausführlichen Rundblick. Noiras Wagen stand inzwischen in hellen Flammen.

»Die wollte mich entführen. Ein zweites Mal«, erklärte Sara Levinsohn und deutete auf Noira. Die beiden Männer in den Ledermänteln knieten sich neben Noira, die Motorradpolizisten winkten einen weiteren Polizeiwagen in die Gasse.

Noiras Lider flatterten. Sie schlug die Augen auf. Die beiden Beamten hoben sie hoch. Bevor sie auch nur wieder sicher auf den Beinen stand, waren ihre Hände auf dem Rücken und in Handschellen, die ebenso massiv wie unbequem aussahen.

Florian zögerte einen kurzen Moment, dann tupfte er ihr mit dem Taschentuch das Blut von Nase und Lippe.

Sie lächelte ihn an, ein Lächeln, das wegen ihrer geschwollenen Lippe etwas schief geriet.

»Überraschend«, sagte sie, »aus irgendeinem Grund konnte ich dich früher ausrechnen wie eins plus eins. Aber seit Kurzem bietest du immer wieder neue Überraschungen:« Sie schaute Sara Levinsohn an. »Wenn ich diesen Zinken im Gesicht hätte, dann würde es mir auch Vergnügen machen, Menschen mit hübschen Normalnasen zu schlagen.«

»Darf ich vorstellen – meine Ex-Frau«, sagte Hammerstain zu Fräulein Levinsohn. Die stand nur da und wirkte wie versteinert.

»Wieso Ex?«, fragte Noira und schaffte es auch jetzt noch, kokett zu sein.

»Ein versuchter Kopfschuss sollte die offiziellen Scheidungspapiere völlig ersetzen.«

»Der Kopfschuss war geplant. Aber dass ich nicht richtig getroffen habe, zeigt doch, dass ich in dem Moment von Sentimentalitäten abgelenkt war.«

»Auch in einem Herz von Eis gibt es ein Kühlfach für Gefühle«, sagte Hammerstain und musste sich um einen besonders sarkastischen Ton bemühen.

»Ich habe nie mein Ziel verfehlt«, erklärte Noira, »außer bei diesem einen Mal.«

Traut war hinzugetreten. Ein Wink mit seinen Augen und die beiden Beamten nahmen Noira in die Mitte und führten sie ab.

»Ein Arzt wäre angebracht«, sagte Traut zu Hammerstain.

»Demnächst. Vorher …« Hammerstain zog etwas mühsam ein Paket hervor, dass er unter dem Jackett halb in den Hosenbund gesteckt hatte. Er reichte es Traut.

»Das ist ein Tonband. Hör es dir an.«

Dann griff Hammerstain in seine Hemdtasche und reichte dem erstaunten Traut auch das Zigarettenetui. Der obere Deckel war durchlöchert, der untere hatte eine Delle.

»Nimm das als Beweisstück – Ergebnis der Spezialwaffe, die Noira von Schwarz so gerne einsetzt: ein Tritt in die Herzgegend mit ihren ebenso eleganten wie tödlichen Absätzen.«

Trauts Blicke wanderten versonnen zwischen dem Etui, Hammerstain und der Levinsohn hin und her. Dann deutete sein Kopf in Richtung der beiden Polizeilimousinen. »Das eine ist ein Funkwagen. Da ist ein Tonbandgerät drin. Ich werde mir das Band sofort anhören.« Damit stampfte er zu der zweiten Limousine und warf sich auf den Rücksitz.

Fräulein Levinsohn stand währenddessen hilflos herum. Sie beobachtete Hammerstain, der jetzt einen Umschlag unter dem Hemd hervorzog.

»Sie sind eine wahre Wundertüte«, kommentierte sie.

»In mir steckt mehr als man glaubt und sieht«, bestätigte Florian. Hammerstain überreichte ihr den Umschlag. »Das war es doch, was Sie seit drei Jahren haben wollten«, sagte er.

Langsam und zögernd nahm Fräulein Levinsohn den braunen, dicken Umschlag. In ihren Augen war ein feuchter Schimmer. Sie zögerte kurz, dann ging sie zu dem brennenden Wagenwrack.

»Nicht einmal meinen Namen hat er richtig geschrieben«, flüsterte sie und deutete auf den Namenszug auf dem Umschlag. Levinson stand da.

Hammerstain schaute ihr zu, wie sie den Umschlag öffnete, den Inhalt herausholte und dann einzeln in die lodernden Flammen warf. Es war ein Paket mit Briefen und einige Fotografien. Er konnte nicht alle Motive erkennen, aber auf dem einen Bild war die Levinsohn neben einem Mann abgebildet und auf ihrem Gesicht war ein Lächeln, das Hammerstain bei ihr noch nie gesehen hatte. Als das letzte Blatt zu schwarzer Asche geworden war, blieb sie in derselben Haltung stehen und blickte in die Flammen.

»Woher wussten Sie es?«, fragte sie tonlos.

»Ich kann Menschen beobachten«, sagte Florian, »und Ihr Verhalten im Hotel, als Ihr …Ihr …«

»Er war mein Verlobter«, erklärte die Levinsohn mit kratziger Stimme.

»Als also Ihr damaliger Verlobter mit den offensichtlich angeheirateten Kindern auftauchte, und Sie sich förmlich in Luft auflösen wollten, begann es bei mir zu klingeln. Da kamen einige Dinge zusammen, die Sinn ergaben.«

»Zum Beispiel?«

»Dass Sie bei mir auftauchten, weil Sie angeblich eine Doktorarbeit im Fach urbane Ethnografie schreiben und Studien betreiben wollten. Dass Sie offensichtlich eine Expertin für Zucker und seine Aktivitäten wurden. Dass ein Leutnant der kaiserlichen berittenen Hofgarde, der einen üblen Leumund und einen Haufen Schulden hat, plötzlich genügend Geld hat, um sich ernsthaft um die Hand einer mehr als reichen Fabrikantenwitwe bemühen zu können.«

»Woher wissen Sie das?«, schnappte Fräulein Levinsohn. Sie fuhr sich mit beiden Handrücken über die Wangen und trotzdem rannen die Tränen.

»Ein paar Anrufe in die Reichshauptstadt«, sagte Hammerstain trocken, »ich erinnerte mich an einige alte Bekannte und die waren tatsächlich erfreut, von mir zu hören.«

»Er hat mich abserviert. Einfach so, von jetzt auf gleich, als würde er eine lästige Fliege wegschnippen«, murmelte Fräulein Levinsohn.

»Und er hat Ihre Briefe und die Fotografien an den Meistbietenden verkauft, um aus der Sache finanziellen Gewinn zu schlagen.«

»Er verkaufte an Zucker«, nickte Fräulein Levinsohn, »ich wusste es zuerst nicht. Ich dachte einfach dieser … dieser Leutnant wäre nur ein mieser, oberflächlicher Kerl und ich ein romantischer Volltrottel. Stimmt ja auch. Aber dann meldete sich Zucker bei mir und erklärte, dass wir nun Geschäftspartner seien.«

»Aber Sie waren gar nicht das Hauptziel.«

»Nein, das war mein Bruder. Zucker hatte vor, die Levinsohn-Bank für seine Zwecke zu nutzen. Geldwäsche, Kursmanipulationen, was weiß ich. Er konnte meinen Bruder erpressen.«

»Mit der Drohung, der Öffentlichkeit klarzumachen, dass die Familie Levinsohn pleite ist.«

Fräulein Levinsohn entdeckte in Hammerstains Schulterwunde ein erneutes Tätigkeitsfeld und opferte nun endgültig ihr Seidentuch.

»Es ist etwas kompliziert«, erklärte sie, »die Verlobung platzte, als dieser Leutnant herausfand, dass eine Heirat ihm nicht die erhoffte Mitgift einbringen würde. Die Familie Levinsohn leiht seit Generationen den Herrschern, den Fürsten und dem Adel Geld. Und zahlen die hohen Herrschaften ihre Schulden? Nein, stattdessen bekommt man ein Landschloss irgendwo in der Pampa oder einen Palast in der Stadt. Beide haben einen berühmten Namen, sind aber kaum mehr als Ruinen und so muss der Bankier investieren, um diese Ruinen wieder in einen Zustand zu versetzen, der vorzeigbar ist. Das macht sich gut, man kann wichtige Leute einladen, die sich vier Wochen einquartieren, in Saus und Braus leben und sich dann dankend verabschieden. Wissen Sie was? Wir sind nicht pleite. Wir haben nur kein Geld. Wir haben nur noch unseren guten Namen und den hatte Zucker in der Hand. Mein Großvater war ein Hallodri und Schürzenjäger, mein Vater ein Künstler, aber kein Bankier. Mein Bruder beginnt, die Bank wieder aufzubauen. Darum muss er die Fassade auf jeden Fall aufrechterhalten. Er muss ein großzügiger Mäzen sein, auch wenn seine Familie mit weniger Geld auskommen muss, als ein kleiner Angestellter verdient. Er muss Stiftungen unterstützen und vor allem die zahlreichen Güter und Stadtpaläste in Schuss halten und ein entsprechendes Gesellschaftsleben führen. Er darf nicht etwa vermieten und erst recht nichts verkaufen. Denn sofort wären die Gerüchte da: Die Levinsohns brauchen Geld. Und das würde der Bank Probleme bringen.«

»Sie haben also die ganze Zeit versucht, an die Unterlagen zu kommen, um Ihren Bruder zu schützen.«

Fräulein Levinsohn zuckte die Achseln. »Ich weiß, das war von mir nicht … ich hätte offen sein sollen.«

»Besser nicht. Zucker hatte Sie in der Hand.«

»Hatte er.«

Schnaufend kam Traut heran. Hammerstain ließ sich nicht stören.

»Also konnte er Sie zwingen, für ihn einen Flugauftrag zu erledigen.«

Sara Levinsohn stand mit hängenden Schultern zwischen den beiden Männern. Tränen liefen ihr über die Wangen, tropften auf ihre Bluse und färbten den Stoff dunkel. Sie wirkte wie eine Wachsfigur, die in der Hitze schmolz.

Sie seufzte tief und nickte. »Er hatte mir gesagt, es ginge um einige Dokumente aus dem Tresor dieses Immobilienmaklers. Also wurde ein zweiter Sitz zwischen das Fahrwerk des Drehflüglers geschweißt. Zucker hatte ein paar Schränker an der Hand, die das in ein paar Minuten erledigten. Ich brachte einen Mann auf das Dach, wartete kurze Zeit und flog mit ihm wieder zurück. Wir mussten abwarten, bis Gewitter herrschte. Erst am nächsten Tag erfuhr ich aus der Zeitung, dass … dass …«

Traut hob die Augenbrauen. »Der Immobilien-Mord«, sagte er, »ich hatte mich schon immer gefragt, wie der Täter in das Büro gekommen ist.«

»Nun wissen wir es, aber man muss ja nicht alles in den Akten erwähnen«, sagte Hammerstain.

»Die Akten sind geschlossen und bleiben es«, versicherte Traut, »wäre ja schön blöd, wenn es mich kümmern würde, wenn ein Gauner den anderen ausknipst. Wir haben wichtigere Dinge zu erledigen.«

»Stichwort.«

»Ja«, Traut grinste, »sieht so aus, als hätte sich deine finanzielle Situation schlagartig verbessert, Hammerstain.«

»Habe ich in der Lotterie gewonnen?«, fragte Hammerstain verblüfft.

»Das nicht. Aber die Summe der ausgesetzten Belohnungen dürfte mehr als drei Lotteriegewinne ausmachen.« Und als Traut den völlig verständnislosen Blick Hammerstains bemerkte, fuhr er fort: »Die gigantische Belohnung für die Aufklärung des Zucker-Falles war natürlich nur ein Trick der Behörden. In Wirklichkeit sollte morgen der Prozess vor dem Reichssicherheitsgericht beginnen. Aber das sollte nicht an die Öffentlichkeit dringen. Also wird diese Riesensumme ausgelobt, als eine Art Tarnung. Dass es eine andere Täterin gibt, war nicht geplant. Aber egal, die Belohnung muss ausgezahlt werden. Und noch einige kleinere Summen, sozusagen für den Beifang.«

Fräulein Levinsohn hatte sich Hammerstains Einstecktuch gesichert, trocknete erst die Augen und blies sich dann geräuschvoll die Nase frei.

»Na fein«, sagte sie, »somit ist der Staat für den bei der Aufklärung des Falles entstandenen Sachschaden zuständig. Und Sie können mir endlich mein ausstehendes Gehalt bezahlen, plus die Miete und alles andere, was ich Ihnen ausgelegt habe.«

»Nicht zu vergessen, die großzügige Unterstützung für die Abzahlung meines Privathauses und für ein paar Geschenke für meine Frau und Kinder«, mischte sich Traut ein.

In Hammerstains entsetztes Gesicht grinste er: »Was willst du, Hammerstain. Wir sind die Guten. Wir müssen zusammenhalten.«

»Er muss in ein Krankenhaus«, stellte Fräulein Levinsohn jetzt fest. Traut schickte sie zu den anderen Beamten, um einen Wagen zu organisieren. Hammerstain ging langsam neben Traut zum Ende der Gasse.

Traut klopfte auf das Blech der grünen Sportlimousine, die Hammerstain bis an diesen Ort gebracht hatte. »Das wird ein ganz schöner Papierkram«, sagte er gutmütig, »aber es lohnt sich. Das Tonband wird diese Noira von Schwarz festnageln. Ich habe übrigens auch deinen Anruf aus dem Büro auf Band.«

»Und? Hast du deine Leute zu Spellberg geschickt?«

»Was denkst du, Hammerstain! Für so was brauche ich einen richterlichen Durchsuchungsbefehl.« Traut wurde von einem lautlosen Lachen geschüttelt, als hätte er einen köstlichen Witz gemacht. »Zum Glück gibt es noch den übergesetzlichen Notstand. Ich liebe die Notstandsgesetze. Sie erleichtern das Leben enorm. Spellberg war übrigens gerade dabei, Unterlagen zu vernichten. Was wir gesichert haben, dürfte ihn allerdings mindestens zwanzigmal lebenslänglich ins Zuchthaus bringen.«

»Die Levinsohn ist also aus der Sache raus?«

Traut warf Hammerstain einen spöttischen Blick zu. »Das war es, stimmt ´s. Es ging dir nur um die Levinsohn. Hammerstain, aus dir soll einer schlau werden. Aber sie ist raus. Ich habe schon alles in die Wege geleitet.«

Traut blieb stehen und betrachtete die Gasse mit den zerstörten Wagen. Das Pflaster war von Trümmern übersät. Von der Seite kamen aufgeregte Stimmen. Traut winkte den Beamten zu: »Lasst die Presse durch. In fünf Minuten gebe ich eine Erklärung ab.«

»Oh, wir arbeiten an unserer Karriere«, schmunzelte Hammerstain.

»Du erinnerst dich an unser Geschäft?«

»Absolut.«

»Siehst du, und nachdem du wirklich nicht schlecht gearbeitet hast, muss ich jetzt auch noch ein wenig tun. Soll ich für die Wochenschauaufnahmen einen Hut aufsetzen?«

»Hut und Sonnenbrille«, riet Florian, »das gibt so etwas Geheimnisvolles – Geheimagent und so.«

Traut ließ sich diese Ausrüstungsstücke bringen. »Es war übrigens sehr raffiniert, dass du dich bei den Kontrollstellen gemeldet hast. Auf deine spezielle, sehr deutliche Art. So wusste ich, wohin ich das Luftschiff schicken musste.«

»Ich frage mich, ob es gut war, so viel Staub aufzuwirbeln«, zweifelte Florian, aber Traut winkte ab. »Genau das hat diese Stadt gebraucht«, sagte er, »die Polizei greift durch. Und sie hat Ergebnisse. Das wollen die Leute doch. Dafür purzeln sie auch gerne mal durch den Straßenbahnwagen.«

Hammerstain sah, wie eine Polizeilimousine zurücksetzte und dann mit Blaulicht lospreschte. Auf dem Rücksitz war kurz Noiras rotes Kleid zu erkennen.

»Bist du sicher, dass sie wirklich im Präsidium ankommt?«, fragte er.

Traut grinste. »Die beiden Lederlümmel sind absolut loyal.«

»Wie kannst du so sicher sein?«

»Weil ich die Kerle persönlich besteche. Man braucht halt einige gute Leute, denen man vertrauen kann. Das hat sich seit der Steinzeit nicht geändert.«

»Wo kommt sie hin?«

»Morgen bringe ich sie und Spellberg in die Spandauer Festung. Sicherer geht´s nicht.«

»Du solltest sie beide in einem Wagen transportieren lassen«, sagte Hammerstain, »und du solltest den Transport in der Presse ankündigen.«

»Und ich sollte irrsinnig werden. Was soll das?«

»Wenn der Transport so durchgeführt wird, wird die halbe Unterwelt versuchen, sie auf dem Weg zu befreien. Die beiden sind ja nicht irgendwer. Sie haben ihre Leute und sie haben Feinde, die sie ebenfalls in die Finger bekommen wollen. Wenn du unauffällig eine kleine Armee in der Hinterhand hältst, wird es zwar eine Straßenschlacht von epischen Ausmaßen geben, aber du bist mit einem Schlag ein Problem los. Und hast dich noch einmal als die harte Hand von Berlin präsentiert. Das mögen die Leute.«

Fräulein Levinsohn kam angetrippelt, angesichts der Pressemeute, die sich mit Mikrofonen, Fotoapparaten und einer großen Filmkamera in Position brachte, zog sie merklich den Kopf ein. »Ich habe einen Wagen«, verkündete sie.

»Man sieht sich«, sagte Traut und wendete sich an die Journalisten.

»Sie sind gar nicht mehr betrunken«, stellte Fräulein Levinsohn fest. Sie knetete ihre Finger. »Na ja, die Feststellung kommt inzwischen ein wenig spät.«

»Ich war nie betrunken. Das sollte Sie einfach aus der Schusslinie bringen.«

»Der Wodkageruch aus dem Waschbecken hätte mich misstrauisch machen sollen«, überlegte die Levinsohn.

»Das nächste Mal kippe ich den Fusel in die Kloschüssel. Wo hat Noira Sie übrigens geschnappt?«

»Vor Ihrer Wohnung. Ich hatte etwas vergessen.«

»So ein Zufall«, grinste Hammerstain. Fräulein Levinsohn antwortete nicht. »Ich habe Ihre Geldbörse noch in der Tasche. Es fehlt nichts.«

»Und woher haben Sie den Feuerzauber vor dem Zuckerhaus bezahlt? Das waren doch Sie.«

»Ich hatte unentdeckte Reserven. Und irgendwie musste ich doch an den Privattresor von Zucker kommen. Bevor irgendeiner seiner Erben an die Zeugnisse einer romantischen Affäre von Fräulein Levinsohn kommt und mit den Ergüssen eines reinen Herzens Unfug treibt.«

»Habe ich mich eigentlich bei Ihnen bedankt?«

Hammerstain schüttelte den Kopf. »Das wäre auch untypisch für Sie gewesen.«

»Wahrscheinlich«, bestätigte die Levinsohn. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, hauchte Hammerstain einen Kuss auf die Wange und dabei lächelte sie auf diese bisher unbekannte Art, die er auf einem der Fotos gesehen hatte. Sie deutete auf eine große schwarze Limousine. »Den Wagen können wir nehmen.«

»Ich fahre«, sagte Florian.

»Das können Sie aber so was von vergessen!«