Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Aëlita – Teil 28

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Das uralte Lied

Aëlita, Ichoschka und Losj flogen in einem Boot mit vier Flügeln den Bergen von Lysiasira zu. Unaufhörlich arbeitete der Empfänger elektromagnetischer Wellen: der Mast mit den Drahtenden. Aëlita beugte sich über einen winzigen Sehschirm, horchte und blickte aufmerksam hinein.

Es war schwer, sich zurechtzufinden in den verzweifelten Telefonogrammen, den flehenden Rufen, Schreien und besorgten Anfragen, die durch die Magnetfelder des Mars flogen und wirbelten. Immerhin ertönte, ohne auszusetzen, die murmelnde stählerne Stimme Tuskubs, die dieses Chaos durchschnitt und es beherrschte. Über die Scheibe des kleinen Spiegels glitten die Schatten der aufgestörten Welt.

Ein paar Mal hatte Aëlitas Ohr in diesem Durcheinander von Tönen eine seltsame, lang gezogene Stimme aufgefangen, die brüllte: »… Genossen, hört nicht auf die Flüsterer … wir brauchen keinerlei Zugeständnisse … zu den Waffen, Genossen, die letzte Stunde ist angebrochen … alle Macht den Sow… Sow… Sow …«

Aëlita wandte sich zu Ichoschka um: »Dein Freund ist kühn und wagemutig, er ist ein wahrhafter Sohn des Himmels, hab keine Angst um ihn.«

Ichoschka stampfte wie ein Zicklein mit den Füßen auf und schüttelte ihren roten Schopf. Aëlita war es gelungen, festzustellen, dass ihre Flucht unbemerkt geblieben war. Sie nahm die Hörer von den Ohren. Mit den Fingern rieb sie das beschlagene Bullauge ab.

»Sieh«, sagte sie zu Losj, »hinter uns her fliegen Ich!« Das Boot schwebte in ungeheurer Höhe über dem Mars. An den Seiten des Bootes flogen im blendenden Lichtschein zwei sich windende, mit braunem Fell bedeckte Tiere mit Hautflügeln, gleich riesigen Fledermäusen. Das Fell war stellenweise abgewetzt. Ihre runden Köpfe mit dem gezahnten flachen Schnabel waren den Guckfenstern zugewandt. Da erblickte einer von ihnen Losj, näherte sich und stieß mit dem aufgesperrten Rachen gegen die Scheibe. Losj fuhr mit dem Kopf zurück. Aëlita lachte.

Sie hatten Azora hinter sich gelassen. Unter ihnen lagen jetzt die Felsgrate von Lysiasira. Das Boot ging nun in die Tiefe, überflog den See Soam und landete auf einer weiträumigen Felsplatte, die über einem Abgrund hing.

Losj und der Pilot brachten das Boot in eine Höhle, hoben sich die Körbe auf die Schultern und folgten den Frauen über eine kaum wahrzunehmende und völlig abgetretene uralte Felsentreppe hinunter in die Schlucht. Aëlita ging leicht und schnell voran. Von Zeit zu Zeit hielt sie sich an einem Felsvorsprung fest und schaute sich aufmerksam nach Losj um. Unter seinen riesigen Füßen flogen Steine in die Tiefe und weckten das Echo im Abgrund.

»Hier kam der Magazitl heruntergestiegen, der den Stab mit dem darangebundenen Gespinst in der Hand trug«, sagte Aëlita.

»Gleich wirst du die Stellen sehen, wo die Kreise der heiligen Feuer gebrannt haben.« Von der Mitte des Abgrunds führte die Treppe in den Felsen hinein, in einen schmalen Tunnel. Aus seinem Dunkel wehte es kalt und feucht. Gebückt und mit den Schultern über die Steine schurrend, konnte Losj sich nur mit Mühe zwischen den glattpolierten Wänden vorwärtsbewegen. Tastend fand er Aëlitas Schulter und spürte sogleich ihren Atem an seinen Lippen.

»Liebste«, flüsterte er auf Russisch.

Der Tunnel endete in einer halb erleuchteten Höhle. Überall schimmerten Basaltsäulen. Im Hintergrund flogen leichte Dampfwolken in die Höhe. Wasser rieselte, eintönig fielen Tropfen von den im Hintergrund kaum erkennbaren Gewölben.

Aëlita schritt voraus. Der Schatten ihres schwarzen Mantels mit der spitzen Kapuze glitt über einen See, und manchmal verschwand sie hinter den Dampfwolken. Sie rief aus dem Dunkeln »Vorsichtig!« und erschien plötzlich auf dem schmalen, steilen Bogen einer uralten Brücke. Losj fühlte, wie das Brückengewölbe unter seinen Füßen zitterte, doch er blickte nur auf den leichten, im Dämmerlicht vor ihm hergleitenden Mantel.

Es fing an heller zu werden. Über ihren Köpfen blinkten Kristalle. Die Höhle schloss mit einem Kolonnadengang von niedrigen Pfeilern aus Stein. Dahinter bot sich die Aussicht auf die von der Abendsonne überfluteten Felsgrate und die Gletschermühlen von Lysiasira.

Jenseits der Kolonnaden lag eine breite, mit rostigem Moos bewachsene Felsenterrasse. Ihre Ränder fielen steil ab. Kaum erkennbare Treppchen und Pfade führten hinauf in die Höhlenstadt. Mitten auf der Terrasse lag, bis zur Hälfte in den Boden eingesunken und vom Moos überwuchert, die Heilige Schwelle. Das war ein großer Sarkophag aus massivem Gold. Grob ausgeführte Darstellungen von Tieren und Vögeln bedeckten ihn auf allen vier Seiten. Obenauf ruhte die Gestalt eines schlafenden Marsianers – die eine Hand war unter den Kopf geschoben, die andere drückte eine Ulla an die Brust. Steinbrocken des zerfallenden Kolonnadenganges umgaben diese merkwürdige Skulptur.

Aëlita ließ sich vor der Schwelle auf die Knie nieder und küsste das Bildnis des Schlafenden auf die Stelle, wo das Herz ist. Als sie sich erhob, trug ihr Gesicht einen versonnenen und sanften Ausdruck. Icha kniete ebenfalls nieder, umschlang die Füße des Schlafenden und schmiegte sich mit dem Gesicht an sie.

Links von dem Sarkophag, im Felsen, umgeben von halb verwischten Aufschriften, war eine kleine goldene, dreieckige Tür zu sehen. Losj kratzte das Moos ab und öffnete sie mit Mühe. Das war die uralte Wohnung des Hüters der Schwelle: eine kleine dunkle Höhle mit steinernen Bänken, einem Herd und einer Ruhestatt, die aus dem Granit herausgehauen waren. Hierher wurden die Körbe gebracht. Icha bedeckte den Boden mit einer Matte und machte für Aëlita ein Lager zurecht, goss Öl in ein von der Decke herabhängendes Lämpchen und zündete es an. Der junge Pilot ging fort, um das Boot zu bewachen.

Aëlita und Losj saßen an Rand des Abgrunds. Die Sonne versank allmählich hinter den spitzen Gipfeln. Die scharf umrissenen langen Schatten der Berge brachen sich an den jäh abfallenden Schluchten. Düster, unfruchtbar und wild war dieses Gebiet, wohin sich einstmals der alte Stamm der Aolen vor den Magazitlen, den Menschen, gerettet hatte.

»Einst waren diese Berge von Wachstum bedeckt«, sagte Aëlita, »hier weideten die Herden der Chaschi, und in den Schluchten rauschten Wasserfälle. Der Tuma stirbt. Der Kreis von langen, langen Jahrtausenden schließt sich. Vielleicht sind wir die Letzten. Wenn wir davongehen, wird der Tuma leer sein.«

Aëlita schwieg eine Weile. Die Sonne war hinter dem unweit gelegenen Drachenkamm der Felsen versunken. Eine blutigrote zornige Lohe schlug hoch hinauf bis in das violette Dunkel.

»Aber mein Herz spricht anders.« Aëlita erhob sich und schritt am Abgrund entlang. Sie suchte trockene Zweige und Büschel von trockenem Moos zusammen und legte sie in den hochgehobenen Saum ihres Mantels. Dann kehrte sie zu Losj zurück, schichtete alles zu einem Haufen, holte die Leuchte aus der Höhle, kniete nieder und zündete die Zweige an. Das Feuer begann knisternd zu lodern.
Jetzt zog Aëlita unter ihren Mantel eine kleine Ulla hervor und begann die Saiten zu schlagen, indem sie sich mit den Ellbogen auf das eine hochgestellte Knie stützte. Die Saiten erklangen und ihr Ton war zart wie Bienengesumme. Aëlita hob den Kopf zu den im Dunkel der Nacht hervortretenden Sternen und sang halblaut, mit tiefer, trauriger Stimme:

Suche trockene Gräser, den Mist von Tieren und abgebrochene Zweige,
Lege sie fleißig zusammen,
Schlage Stein gegen Stein, Frau, Lenkerin zweier Seelen.
Schlage heraus den Funken und entzünde den Scheiterhaufen.
Setze dich an das Feuer und strecke die Hände zur Flamme.
Dein Gatte sitzt auf der anderen Seite der tanzenden Feuerzungen.
Durch die Wolken des zu den Sternen aufsteigenden Rauches
Schauen die Augen des Mannes in das Dunkel deines Schoßes,
auf den Grund der Seele.
Seine Augen sind heller als die Sterne, heißer als das Feuer,
Kühner als die phosphoreszierenden Augen des Tscha.
Wisse: Die Sonne wird zur erloschenen Kohle,
Es werden verschwinden die Sterne vom Himmel,
Es wird verlöschen der böse Talzetl über der Welt
Du aber, Frau, sitzt am Feuer der Unsterblichkeit, streckst die Hände zu ihm aus
Und lauschest den Stimmen derer, die darauf warten, dass sie zum Leben erwachen dürfen,
Auf die Stimmen im Dunkel deines Schoßes.

Das Feuer war dem Verlöschen nahe. Aëlita ließ die Ulla in den Schoß sinken und blickte auf die Kohlen – sie übergossen ihr Gesicht mit rötlicher Glut.

»Nach dem uralten Brauch«, sprach sie streng, »wird eine Frau, die einem Mann das Lied der Ulla gesungen hat, seine Gattin.«