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Die Tauscher 23

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 23

Fräulein Sara Levinsohn stieß einen spitzen Schrei des Entsetzens aus, als sie die Wohnungstür aufschloss. Es war schon heller Vormittag. Sie hatte sich bei der Polizei gemeldet, musste auf dem Revier eine lange Zeit warten, in steigender Nervosität, während hinter der Abtrennung telefoniert wurde und sie immer wieder die Blicke bemerkte, die sie trafen. Endlich durfte sie gehen, erledigte einige Einkäufe, machte einige Besuche und drückte nun die Wohnungstür auf. Und ihr kam ein Geruch entgegen, den sie kannte und den sie fürchtete. Es war der unverwechselbare scharfe Geruch von irgendeinem hochprozentigen Getränk, mit dem man ihrer Meinung nach bestenfalls Laborratten traktieren sollte.

Sie stellte ihre Taschen ab und ging zögernd weiter.

»Sind wir also mal wieder soweit?«, fragte sie leise und traurig, als sie Hammerstain auf dem Sofa sah. Silwester Hammerstain hob mühsam den Kopf und stierte sie aus glasigen Augen an. Neben seinem Fuß standen zwei leere Flaschen, in denen einmal Wodka gewesen war, der sich nun unübersehbar in Silwester Hammerstain befand. Er hob eine halb leere Flasche und nahm einen tiefen Schluck.

»Irgendwelche Einwände?«, grunzte er.

»Hätte das einen Sinn?«

»Eindeutig nein«, antwortete Hammerstain mit schwerer Stimme. Seine Zunge lag im Mund wie ein Schnitzel in der Fleischtheke und die Worte fanden nur mühsam ihren Weg.

»Wie in den guten alten Zeiten. Nur noch ein bisschen schlimmer«, sagte Sara Levinsohn sarkastisch. Ihr Gesicht schien zu zerfallen, sich aufzulösen unter der Wucht einer bitteren Enttäuschung. Sie überlegte kurz mit verkniffenem Ausdruck, dann schüttelte sie energisch den Kopf. »Das war´s dann, Herr Hammerstain. Betrachten Sie mich nicht länger als Ihre Assistentin. Ich gehe.«

»Ich schulde Ihnen drei Monatslöhne. Oder waren es sechs?«

»Wissen Sie was? Stecken Sie sich das Geld irgendwohin, wo es besonders dunkel ist. Und falls Sie es doch noch irgendwann einmal in die Finger bekommen sollten, kaufen Sie sich dafür was Hochprozentiges, denn Ihr Vorrat wird nicht lange halten.«

»War´s das jetzt?«

»Eigentlich nicht, aber warum soll ich meine Wut an Sie verschwenden. Da könnte ich ja genauso einen Brückenpfeiler anbrüllen. Sie wollten mir helfen, stattdessen saufen Sie sich den Rest Ihres Verstandes weg. Das ist Verrat. So was tut man nicht.«

In ihre Stimme mischte sich unter der Wut eine ganz kindliche Enttäuschung, die besser zu einem kleinen Mädchen gepasst hätte.

Hammerstain versuchte, sich aufzurichten und fiel dann wieder nach hinten.

»Was war mit den Bildern?«, brabbelte er.

»Was?«

»Es heißt noch immer Wie bitte und meine Frage ging danach, dass Sie herausfinden sollten, wer in irgendeiner Agentdings für die Fotografien zuständig …« Der Rest des Satzes verlor sich in unverständlichem Brabbeln. Hammerstain stierte die Levinsohn an.

Die seufzte, zog einen Zettel aus der Handtasche. »Der Name ist Klaus Waldmann. Er ist Chef der Bildredaktion, die die Zeitungen beliefert. Sowohl das Bild der startenden Rakete, als auch das von dem osmanischen Waffenhändler hat er mit den entsprechenden Unterschriften versehen und an die Redaktionen ausliefern lassen. Ich bezweifele zwar ernsthaft, dass Sie auch nur ein Viertel von dem mitbekommen haben, was ich sagte, aber mir ist das egal. Ich lege den Zettel hier auf den Schreibtisch, wo … wo Sie einen neuen Glasrand produziert haben. Egal – ein schönes Leben noch, Herr Hammerstain.«

Hammerstain rührte sich nicht, während die Levinsohn ihre Koffer packte und sie dann keuchend auf den Flur schleifte. Dort zögerte sie, stand mit gesenktem Kopf, Tränen liefen ihr über die Wangen, dann straffte sie sich, knallte die Tür zu, schloss sie beim ersten Mal nicht richtig und die Tür wurde noch einmal aufgerissen und mit Hingabe und einem saftigen Fluch ein weiteres Mal zugeknallt, die Schritte auf der Treppe verklangen und es wurde still in der Wohnung.

Hammerstain stellte die Flasche zur Seite und machte sich fertig.

»Du hast vielleicht Nerven, Hammerstain«, stellte Traut fest.

»Können wir das Vorspiel praktischerweise überspringen und gleich zur Sache kommen?«

»Machst du dir eigentlich Gedanken darüber, wie ich dastehe, wenn man mich in meinem Büro findet, im trauten Gespräch mit einem gesuchten Ausbrecher aus der Klapsmühle?«, ließ Traut nicht locker.

»Da wir also doch die Langversion wählen, kann ich dir sagen, dass mich unten keiner der geschulten Staatsdiener als gesuchten Irren identifiziert hat. Die haben anderes zu tun. Punkt Zwei – falls uns hier einer bei unserer kuscheligen Zweisamkeit stören und mich erkennen sollte, dann war ich gerade dabei, mich zu stellen. Fazit: Das Risiko liegt auf meiner Seite.«

»Was an diesem Fazit gefällt mir nur so sehr?«, grummelte Traut, »so, Ende Vorspiel: Was willst du?«

»Meine Akte einsehen.«

»Langweilig. Lohnt nicht. Eine einzige Latte von Trunkenheitsdelikten, Sachbeschädigungen und versuchten Körperverletzungen. Im Grunde erbärmlich. Und daher passend für dich.«

Florian verzog keine Miene. »Ich meinte die Akte mit dem Fall, der mir angeblich die Sonderbehandlung vom Henker eingebracht hätte.«

»Angeblich? Mit absoluter Sicherheit, mein Lieber! Warum willst du sie sehen?« In Trauts Stimme schlich sich unter die dröhnende Jovialität ein Unterton von Misstrauen.

»Nennen wir es der Einfachheit halber Vergangenheitsbewältigung.«

»Schwachsinn! Hammerstain, wenn du mir …« Was Traut nicht aussprach, sollte sein drohender Zeigefinger deutlich machen.

»Ganz ruhig«, sagte Florian gelassen, »wir haben eine Abmachung und die gilt.«

»Dann solltest du wissen, dass dir die Zeit davonläuft. Oder vielmehr deiner Assistentin.«

»Ex.«

Traut grinste boshaft. »Tatsächlich? Ich nehme an, das Mädchen hat dir die Brocken hingeschmissen. Kluges Kind. Obwohl … nutzen wird es ihr nichts. Die Levinsohn ist schon tot, sie weiß es nur nicht.«

»Die Akte bitte.«

Traut nahm einen Ordner aus einem verschlossenen Schrank, suchte nach einer Archivnummer und brüllte diese dann über den Flur.

»Wird ein Weilchen dauern.«

»Dann erzähle mir in der Zwischenzeit, was du über Walter Hassel weißt.«

»Nichts, außer dass er tot ist, von mir nicht beweint wurde und dass du ihn wohl besser kanntest.«

»Es sind diese sentimentalen Züge, die die Berliner Polizei so sympathisch machen. Ich meine, vor seinem Abgang. Gab es da irgendetwas, was Wellen geschlagen hat?«

Traut zündete sich eine Zigarre an und schaute zu, wie die Luft in seinem Büro sich zu einem bläulichen, nicht mehr atembaren Dunst wandelte.

»Hammerstain, machst du dir eigentlich noch Illusionen? Was soll mich irgendein Hehler kümmern, egal ob tot – gut – oder lebendig – weniger gut. Weißt du was, wir haben hier eine Mordrate, die schon in normalen Zeiten zu einem Krieg passen würde. Und jetzt …«

Trauts dicklicher Finger deutete auf eine Stadtkarte, die an einen der Schränke geklebt war. »Wusstest du, dass es keine aktuelle Karte von Groß-Berlin gibt? Weil sich die Stadt so schnell verändert, dass die Kartografen gar nicht mitkommen. Wir haben Straßen in unserem Register, die schon längst unter Industrieanlagen oder Wohnkasernen verschwunden sind. Und es gibt andere Straßen, von denen wir nichts wissen und an denen Dutzende von Häusern stehen, von denen wir auch nichts wissen und in denen Tausende von Menschen wohnen, deren Existenz uns unbekannt ist, weil sie nirgendwo registriert sind. Kein Mensch hat Ahnung, wie viele Einwohner diese Stadt hat. Es gibt offizielle Zahlen, von denen jeder weiß, dass sie ein Fall für die Mülltonne sind. Dann gibt es grobe Schätzungen, die siebenstellig höher ausfallen. Das sind die Sachen, die noch in den Zeitungen veröffentlich werden können. Die genaueren Schätzungen bleiben unter Verschluss, weil damit zugestanden würde, dass ein Viertel der Einwohner nicht registriert ist und dass es wahrscheinlich noch viel mehr sind. Eine Millionenstadt, die sich in einer Millionenstadt versteckt.«

»Sollte ich mal Zeit haben, werde ich die Stadtväter bedauern«, kommentierte Hammerstain.

»Jedes Mal, wenn irgendwo östlich der Grenze ein Getto abgefackelt wird, weißt du, was dann passiert? Ich sag´s dir: Die Lokomotivführer wundern sich, weil ihre Güterzüge nach jedem nächtlichen Halt schwerer werden. Und dann läuft der Zug hier ein, man findet noch ein paar Decken und Essensreste und manchmal kleben die Reste von einem unter den Wagen, der nachts eingeschlafen oder erfroren und auf die Gleise gekippt ist. Diejenigen, die die Pogrome oder die Säuberungen oder die Vertreibungen oder was auch immer überlebt haben, und die Fahrt auf den Güterzügen – und das sind immer noch sehr sehr viele – sickern einfach in die Stadt ein. Alles kein Problem, die Stadt schluckt alles. Da schlafen einfach nicht bloß drei Leute in einem Bett, sondern sechs und die Untermieter vermieten den Boden ihrer Kammer quadratmeterweise. Immer noch besser, als zu Hause totgeschlagen zu werden, sagen sich die Neuankömmlinge und natürlich gibt es immer irgendwo Verwandte, die weiterhelfen und irgendwie kommt man in dieser völlig durchgedrehten Stadt schon wieder auf einen grünen Zweig. So sieht das aus.«

»Polizisten sind Helden.«

»Spar dir deinen Sarkasmus, Hammerstain. Wenn nur Typen wie du rumlaufen würden, wäre das hier alles schon ein Schlachtfeld.«

»Ist es das nicht schon längst?«

»Schlimmer geht immer. Und bisher haben wir den Laden ganz gut im Griff gehabt.«

»Bisher bedeutet, bis Zucker abgetreten ist.«

Traut betrachtete finster die Spitze seiner Zigarre. »Wenn es nur das wäre«, murmelte er finster.

»Ist es nicht nur das?«

»Das alles geht zu schnell und es ist zu schmutzig. Bisher hatten die Ganoven zumindest noch einen Überlebensinstinkt. Jetzt scheinen sie nur noch wild darauf zu sein, sich gegenseitig zu massakrieren, auch wenn sie dabei selbst hopsgehen.«

»Du hättest mir diese Predigt nicht gehalten, wenn du nicht doch was über Walter Hassel wüsstest«, sagte Florian.

Traut schaute zu ihm hinüber. »Du bist ganz schön gerissen, weißt du das, Hammerstain?«

»Keine Schmeicheleien. Also?«

»Nicht viel. Es heißt, Hassel wäre manchen Leuten zu selbstständig geworden. Er machte selbst Geschäfte, statt abzuwarten, bis man ihm was brachte, was er verscherbeln sollte.«

»Und was für Geschäfte waren das?«, erkundigte sich Florian gespannt.

Traut blies den Zigarrenrauch aus. »Zum Beispiel, Sachen besorgen. Hassel hatte so was wie eine kleine Armee – Schuhputzer, Zeitungsjungen, Dienstpersonal. Wenn er wollte, konnte er leicht herausfinden, wer was wo besaß, sammelte oder hortete. Hassel verkaufte die Informationen oder organisierte den Besitzerwechsel, falls sein Kunde die Sachen nicht legal erwerben wollte.«

»Ein Mann mit vielen Talenten«, sagte Florian und dachte an den Schuhputzerjungen. Als Traut schwieg, sagte Florian: »Komm schon, das war doch noch nicht alles.«

»Und wenn doch?«

»Lügst du.«

Traut stieß zugleich Rauch und lachende Geräusche aus. »Du riechst zwar wieder nach Fusel wie in deinen besten Zeiten, aber du bist ganz schön auf Zack. Was macht dich so sicher?«

»Dieser Spielplatz heißt Mordkommission. Und du kümmerst dich nicht darum, wenn ein berüchtigter Hehler kalt gemacht wird. Also beziehst du deine Kenntnisse aus einem anderen Fall, in den Hassel verwickelt war.«

»Absolut nicht übel, Hammerstain. Kommst du etwa wieder langsam in Form? Also – ich habe die Akte über Hassel im Zusammenhang mit dem Tod eines Universitätsprofessors mal zu Gesicht bekommen. Die beiden könnten eine Verbindung gehabt haben. Wohl eher eine Geschäftsbeziehung.«

»Und was war mit dem Professor?«

Traut nannte einen Namen und erklärte, dass der Fall in eine andere Abteilung abgeschoben worden sei.

Es klopfte und ein gehetzter Bürobote warf eine Akte auf Trauts Tisch. Der rührte sich nicht, mit Ausnahme einer einladenden Handbewegung in Richtung Hammerstain.

Florian schaute auf den abgeschabten verstaubten Aktenordner und fühlte sein Herz klopfen. Er zögerte und er hätte noch länger gezögert, wenn er nicht Trauts spöttisches Grunzen vernommen hätte.

Florian schlug den Pappdeckel auf. Auf der ersten Seite, in einer gelblichen Zellophanhülle war eine Fotografie. Florian griff an seine Schläfe. Auf dem Foto war er selbst abgebildet, auf dem Boden liegend, mit einer großen Blutlache neben dem Kopf.

»Die alte Regel Erst fotografieren, dann behandeln, gilt noch immer«, sagte Hammerstain.

»Die Kollegen hielten dich für tot. Sie hätten dich ohne Umweg auf den Autopsietisch gebracht, wenn nicht einem Liebhaber von Kleinigkeiten ein Blutbläschen auf deiner Lippe aufgefallen wäre, das sich bewegte.«

In der nächsten halben Stunde las Florian die Akte durch, die seine Akte sein sollte. Sein Puls hatte sich wieder beruhigt, die Sätze, die er las, schienen keinen Zusammenhang mehr mit ihm zu haben.

»Zuletzt wurde ich in Begleitung eines Mannes und einer Frau gesehen«, las Florian vor, »den Mann habe ich angeblich erschossen. Aber was ist mit der Frau?«

»Angeblich?«, knurrte Traut, »deine Waffe, deine Fingerabdrücke, du lagst der Leiche gegenüber. Es war ein Duell, du hast überlebt. Und da der Staat keinen Spaß versteht, wärst du dafür aufs Schafott gestiegen. Wenn da nicht ein alter korrupter Beamter einige Unterlagen hätte verschwinden lassen. Das, was du hier siehst, ist die vollständige Akte. Die Staatsanwaltschaft hatte sie nicht vollständig.«

»Dann hätte sie auch gelesen, dass ich meinem Opfer eine Stichwunde beigebracht habe, bevor ich es erschoss.«

»Du wolltest ihn leise töten, Hammerstain, hat aber nicht geklappt, also musstest du zur Waffe greifen und in dem Moment konnte der Schwerverletzte seine Knarre auch noch hochziehen. Und hätte er nur drei Zentimeter weiter rechts getroffen, sähe meine Welt heute besser aus.«

»Wart es ab«, sagte Florian, »vielleicht ändert sich deine Einschätzung. Ist dir aufgefallen, dass die Stichwunde bei dem Opfer von demselben Werkzeug verursacht wurde, wie der Einstich, der Zucker in die Hölle katapultierte?«

Traut verschluckte sich, hustete Rauch und riss die Akte an sich.

»Natürlich ist es mir nicht aufgefallen«, gestand er nach einer Weile, »diese Akte steht im Archiv und ihr Sinn besteht darin, von niemandem mehr herausgeholt zu werden.«

»Nun weißt du es.«

»Tut nichts zur Sache, Hammerstain. Das ist Zufall.«

Florian griff sich die Akte noch einmal. »Man hat das Stichwerkzeug nicht gefunden.«

»Der Tatort war wie ein Schlachthaus. Möglicherweise hast du diese Waffe durch das Fenster in den Kanal geworfen. Egal, der tödliche Schuss kam aus einer Pistole und die hast du abgefeuert. Das reichte.«

Die Pistole war abgebildet, Florian betrachtete sie genau und horchte, ob sich irgendein Echo der Erinnerung regte. Er öffnete und schloss den Mund, wie ein Fisch auf dem Trockenen.

»Das ist eine Ordonnanzwaffe«, sagte er dann, »die Offizierspistole in bestimmten Infanterieeinheiten.«

»Na und?«, kam es ungerührt von Traut.

»Hier ist keine Registriernummer aufgeführt.«

»Dann gab es keine.«

»Bei jeder Ordonnanzwaffe gibt es eine Fabrikationsnummer und die Kennung der militärischen Einheit. Die Bürohengste hier und in Wien achten streng darauf.«

Traut beugte sich vor. »Wenn sie nicht aufgeführt ist, dann gab es keine, klar? Zumindest das ist sicher, denn ich selbst habe die Pistole untersucht. War ja auch ein eher seltenes Stück – Knieverschluss, 12er-Magazin mit großem Kaliber und Befestigung für einen Anschlagkolben. Wer mit so einem Geschütz in der Stadt herumläuft und nicht auf dem Manöverfeld, hat sowieso einen Schuss.«

Traut fand sich so witzig, dass er vor sich hin kicherte.

»Wurde das Feld mit der Registrierung abgeschliffen?«, hörte sich Florian fragen. Er sprach tonlos, als würde er ein auswendig gelerntes Gedicht in einer Sprache, die er gar nicht kannte, aufsagen.

»Das Feld existierte nicht. Ich habe mir nämlich auch die Mühe gemacht, die Waffe unseren Spezialisten vorzulegen. Die sagten übrigens dasselbe wie du, wenn ich mich recht erinnere. Das Feld sollte an der rechten Seite des Griffes sein. Aber es war niemals da. Nirgendwo war irgendetwas abgeschmirgelt worden. Nichts.«

»Seltsam.«

»Es war deine Knarre, Hammerstain.«

»Trotzdem seltsam. Oder gerade deshalb.«

»Hammerstain, du hast mir kurz vor dieser Sache einen Gefallen getan. Du hättest mich reinreiten können und ich wäre als Kaufhausdetektiv geendet. Hast du aber nicht. Aber bilde dir keine Schwachheiten ein. Wenn ich absolut sicher gewesen wäre, dass du diesen Mann getötet hast, dann hätte ich dich notfalls mit Tritten zum Schafott getrieben, klar.«

»Hast du aber nicht.«

»Nein.«

»Weil du dir nicht sicher warst.«

»Ja.«

»Und in dem Moment erwachte in dir die Dankbarkeit für Hammerstain.«

»Könnte man so sagen. Jedenfalls war die ganze Sache nicht koscher. Und letztlich – der Typ, den du umgenietet hattest, war kein Engel. Der hatte es verdient.«

»Wer war es?«

»Irgendein Pistolenschwinger von Zuckers Lohnliste, der angeblich bei der Polizei auspacken wollte.«

»Wie unangenehm für Zucker.«

Traut schüttelte angewidert den Kopf. »Zucker war unangreifbar. Außer man heißt Levinsohn und sticht ihn ab. In dem Fall nutzt es auch nichts, dass man Dreiviertel der Polizei und die Hälfte der Justiz gekauft hat.«

Florian blätterte seine Akte noch einmal durch.

»Was passierte dann mit mir?«

»Willst du mich veräppeln, Hammerstain?«

»Ich möchte es einfach aus berufenem Mund hören.«

»Du hattest neben der Schusswunde innere Verletzungen. Du kamst in ein Krankenhaus und nach einem Jahr oder so, einschließlich Kuraufenthalt, wurdest du wieder auf die Menschheit losgelassen. Die Ermittlungen wurden schon nach einem halben Jahr eingestellt – wegen nicht ausreichender Verdachtsmomente.«

Hammerstain stand auf. Seine Arme hingen kraftlos von den Schultern. »Ich wäre dir dankbar, wenn du diese Akte ganz tief im Archiv vergraben würdest«, sagte er.

Traut grinste ihn an. »Mal sehen. Tatsache ist, dass diese Akte ab jetzt mein Privatbesitz ist. Unser völlig überarbeiteter Bürobote hat die Akte aus dem Archiv geholt, aber er hat darüber keinerlei Unterlagen angefertigt, nichts abgezeichnet, nichts abzeichnen lassen und morgen wird er sich an keine der tausend Ordner, die er durch die Flure geschleppt hat, genau erinnern können. Ja, Hammerstain, auch hier sickert langsam das Chaos ein, warum sollte man es nicht nutzen.«

»Und was machst du mit der Akte?«

»Keine Ahnung. Vielleicht eine Versicherung, falls du ein Duell mit mir vorhast. Oder eine Belohnung, falls du mir den versprochenen Gefallen tust. Was unwahrscheinlich ist, denn morgen tritt der Reichssicherheitsgerichtshof zusammen und wird die sofortige Wiederverhaftung deiner Assistentin verfügen. Dir bleibt nicht viel Zeit.«

»Mir bleibt sowieso nicht viel Zeit«, hörte sich Florian sagen und ging.

»Mir hast du jedenfalls Zeit gestohlen«, hörte er Traut noch rufen.

»Nichts im Vergleich zu der Zeit, die mir gestohlen wurde«, brüllte Hammerstain wütend zurück.

Er schlurfte zum Paternoster und fuhr hinunter. Er wunderte sich, dass der Boden unter ihm nicht nachgab, nicht watteweich wurde. Er befand sich in einem Traum, irgendwie hatte er es versäumt aufzuwachen und doch stieß er sich an der Wirklichkeit, als hätte sie Kanten wie geborstenes Glas.

Hammerstain setzte sich auf die Bank einer Straßenbahnhaltestelle und beobachtete die unter Sirenengeheul ausfahrenden Mannschaftswagen, die berittenen Polizisten, die in Zweiergruppen lostrabten und die Einsatzwagen, die von der Straße in den Hof des Präsidiums einbogen, auf der Rückbank meist eine tobende Person, die mit den Füßen gegen die Fenster trat.

Hammerstain hätte so sitzen bleiben können, als wäre er angewachsen. Es gab keinen Anlass aufzustehen. Es gab nicht einmal Grund weiterzuatmen.

Florian raffte sich auf und stieg in die Straßenbahn, die die Haltestelle Universität anfuhr.

Er fand mit einiger Mühe den Verwaltungstrakt und dort fragte und schmeichelte er sich durch, bis er erfuhr, in welcher Fakultät der ermordete Wissenschaftler gearbeitet hatte. Jener Wissenschaftler, den Traut in Zusammenhang mit Hassel erwähnt hatte.

»Sie haben Glück«, sagte die allzu blonde Blondine hinter dem Tisch und versuchte sich an einem halben Lächeln, »die Fakultät liegt im Hauptgebäude.«

Hinter dem Begriff Hauptgebäude verbarg sich ein Monstrum von Bauwerk, das um einen hoch aufragenden, klotzigen Turm gelagert war. Der Zentralturm hatte den Charme eines Holzpflocks, der in eine Vampirbrust gerammt war.

Es gab vierundfünfzig Stockwerke, eine unbekannte Anzahl von Innenhöfen, Treppenhäusern und Lichtschächten. Florian kam sich vor, als wäre er geschrumpft, als er die Gänge mit den Vorlesungssälen durchquerte.

Schließlich fand er den Eingang zur gesuchten Fakultät und ging an Korridoren vorbei, die zum Institut für theoretische Kabbalistik oder zur Abteilung für esoterischen Physikalismus führten. In der Bibliothek, die mit zahlreichen Nischen ausgestattet war, in denen jeweils ein Schreibtisch und ein Stuhl standen, fand er einen der stellvertretenden Fakultätsleiter. Der junge Mann mit dem Borstenhaarschnitt und der unreinen Gesichtshaut schien Florians Auftauchen als angenehme Unterbrechung zu empfinden. Er hievte seine Körpermasse auf die Schreibtischplatte und nötigte Florian, auf dem Stuhl Platz zu nehmen.

»Dorkas – also so nannten wir ihn immer, er hieß natürlich Ritter Eduard von Dorkas – war ein ziemlicher Einzelgänger. Wissen Sie …« Der junge Wissenschaftler schlenkerte mit den Beinen und Hammerstain bemerkte leicht angewidert, dass er zwei verschiedene Socken trug. »… Wir pflegen einen regen Austausch von Ideen und Forschungsergebnissen. Das gehört sozusagen zum Geschäft. Wir haben einen Jour fixe und Stammtische und vierteljährliche Versammlungen und gemeinsame Wochenenden. Aber Dorkas hielt sich aus allem raus. Das hatte schon für Ärger gesorgt.«

»Wie war er?«

Der andere hob die Schultern. »Als Wissenschaftler? Eine Koryphäe. Als Mensch? Unangenehm. Na ja, das ist vielleicht ein zu starkes Wort. Aber er war abweisend, schroff, wenig mitteilsam, kein bisschen kooperativ, vergraulte Studenten, verschliss Assistenten und dann«, der Wissenschaftler grinste; »ist er auch noch so boshaft und lässt sich ermorden und lässt auf diese Weise sechs Doktoranden mit ihren Arbeiten allein, für die es nirgendwo im Reich einen anderen Betreuer gibt.«

»Was war sein Fachgebiet?«

»Theoretische Transdimensionalität. Er hatte eine Theorie, die er Zeitschnitt nannte und mit der er die bisherigen Vorstellungen von dimensionaler Verschränkung zusammenfassen und auf eine praktische Ebene heben wollte.«

Der stellvertretende Fakultätsvorsteher schaute Florian auffordernd an, als wäre jetzt zumindest ein Lachanfall Pflicht.

»Professor Grünwang arbeitet in einer ähnlichen Richtung«, antwortete Florian zögernd.

Die dicken Wissenschaftlerwaden setzten sich wieder in Bewegung. »Seltsam, dass Sie Grünwang kennen. Aber der ist Praktiker an einem privat unterstützen Institut. Und er wird genauso scheitern wie alle anderen.«

»Ist das so?«

Der junge Mann hob belehrend den Zeigefinger. »Die Zeit-Dimensionsschranke ist ein Grundpfeiler der universalen Weltenharmonie und damit unüberwindbar. Lesen Sie meine Dissertation!«

»Bei Gelegenheit«, wich Florian aus, »aber Dorkas war also anderer Meinung?«

»Er interpretierte einige Formeln anders und änderte die Zusammenhänge, bis alles passte. Trotzdem nahm ihn keiner ernst, als er hier über die praktischen Konsequenzen des Zeitschnitts sprach. Nun ja, er wurde mehr oder weniger ausgelacht, das war natürlich nicht nett und hat der Stacheligkeit seines Charakter sicherlich auch noch weiter Auftrieb gegeben.«

»Weswegen wurde er ausgelacht?«

»Nun ja«, der andere knetete die Finger und starrte gegen die Deckenlampen, »da war zum Beispiel der Punkt, an dem schon alles scheitern würde. Dorkas rechnete mit einer absurden Menge an Energie, die innerhalb kürzester Zeit zur Verfügung stehen musste. Das mag sich vielleicht als Formel auf dem Papier hübsch anschauen, ist aber technisch völlig unmöglich. Die Zuhörer fühlten sich schlichtweg zum Narren gehalten.«

»Aber Dorkas blieb stur?«

»Stur klingt irgendwie negativ. Sagen wir lieber überzeugt. Er suchte nach Beweisen, dass der Zeitschnitt durchführbar war und sogar schon durchgeführt wurde. Das nahm natürlich keiner ernst, obwohl Dorkas behauptete, er hätte den Beweis und würde ihn vorlegen.«

»Verstehe ich das richtig, dass Dorkas nach Beweisen für die praktische Durchführung einer Theorie suchte, die er selbst gerade erst entwickelt hatte?«, fragte Florian verblüfft.

Sein Gesprächspartner hob lächelnd die Arme. »Dies hier ist die Fakultät für paralogische Wissenschaften. Hier geht es immer etwas komplizierter zu. Allerdings kommt nicht jeder mit den geistigen Anforderungen unserer Disziplin zurecht. Wir haben eine bedauerlich hohe Zahl an Studienabbrechern und leider muss man eingestehen, dass auch erstrangige Forscher aus unseren Reihen zu Patienten des Doktor Spellberg und seiner Wohlfühlklinik wurden.«

»Auch Dorkas?«

»Keine Ahnung. Aber eher nein. Dorkas war viel zu eigensinnig für eine Spellberg-Kur. Der hätte sich nie einer psychischen Ameliorationsbehandlung unterzogen. Gut getan hätte es ihm. Kurz vor seinem Ableben wirkte er gehetzt und fürchterlich nervös.«

»Hat er Unterlagen hinterlassen?«

»Ja«, der andere kratzte sich am ausrasierten Nacken, »das ist schon etwas peinlich. Wir haben keine gefunden. Da ist nichts mehr, außer den Notizen, die wir bei seinen raren Vorträgen gemacht haben. Zumindest als wissenschaftliches Kuriosum hätte ich es gerne im Fakultätsarchiv gehabt.«

Florian verabschiedete sich. Er ging langsam zum Treppenhaus, erneut vorbei am Institut für theoretische Kabbalistik, aus dem ein Gewirr lauter Stimmen erklang. Dann tauchte er wieder in die sommerliche Trägheit der Universität ein, mit den kleinen Grüppchen palavernder Studenten, deren Stimmen die Gänge füllten.

Er irrte lange durch das riesige Gebäude, fand schließlich, indem er einfach einer Gruppe folgte, den Haupteingang und setzte sich auf die Treppe, die zur Straße hinabführte. Der Turm in seinem Rücken warf einen riesigen Schatten auf die Häuser der Nachbarschaft, sodass hinter manchen Fenstern Licht brannte.

Schatten. Und Licht.

»Ist Ihnen nicht gut?«

Hammerstain schaute überrascht auf. »Ich meine nur, weil Sie hier seit zwei Stunden sitzen. Als wir zum Seminar gingen und jetzt sind Sie immer noch da.« Die beiden dicklichen jungen Frauen schauten Hammerstain an, als würden sie ihm mit ihren Blicken über das Gesicht wischen. Er stand auf und reckte sich.

»Mir geht es bestens. Nur mein Sitzfleisch hat gelitten. Und vielen Dank für die Nachfrage.«

Die beiden verschwanden kichernd und eilten zur ankommenden Straßenbahn. Hammerstain schaute ihnen nach und das war wahrscheinlich die größte Aufmerksamkeit, die diesen umfangreichen Hinterteilen jemals geschenkt werden würde.

Hammerstain steckte das zur Hälfte zerrissene Foto ein, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Mit steifen Schritten ging er zur Straße hinunter. Er musste ein Telefon finden. Aus irgendeinem Grund machte es ihn wütend, dass dies so kompliziert war. Man müsste jemanden anrufen können, einfach so, ohne Umstände, aber das war ein völlig absurder Wunsch. Eine pure Fantasie.

Es dauerte eine Weile, bis er eine der öffentlichen Telefonstellen der Reichspost fand. In dem stickigen Raum reihte sich eine Telefonzelle an die andere, in der Mitte stand ein Tisch mit zerfledderten Telefonbüchern. Eine Aufsicht saß auf einem erhöhten Podest und döste. Manchmal fragte jemand nach passenden Münzen, dann bekam er einen strafenden Blick für diese Belästigung und anschließend das Wechselgeld zugeschoben.

Hammerstain wühlte sich durch das Telefonbuch mit der Nummer 50 – in dem Teilnehmer von Yz bis Zzy aufgeführt waren. Aus den Telefonzellen drangen Stimmen in allen Sprachen, manche schienen durch schiere Lautstärke die Entfernung zum Gesprächspartner überbrücken zu wollen.

Eine Zelle wurde frei, Hammerstain warf einen kurzen Blick auf die anderen Wartenden und trat dann in einen atemberaubenden Mief nach Rauch, Schweiß und Knoblauchausdünstungen.

Er bekam das Amt, verlangte die Nummer und horchte auf das Freizeichen.

Als sich eine Stimme mit der routinierten, bedeutungslosen Freundlichkeit der Telefonistin meldete, verlangte Hammerstain nach Noira.

»Wen bitte, der Herr?«

»Noira. Noira von Schwarz.«

Die Telefonistin schnappte hörbar nach Luft und rettete sich in ein übermäßig lautes Rascheln von Unterlagen.

»Frau von Schwarz hat eine hausinterne Nummer, ist aber nicht erreichbar.«

Mit nichts anderem hatte Silwester Hammerstain gerechnet.

»Danke für Ihre Mühe«, sagte er, »falls Noira eintreffen sollte, sagen Sie Ihr bitte, dass Ihr Ehemann angerufen hat.«