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Aëlita – Teil 27

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Verzauberung

Losj setzte sich hinter Aëlita. Der Pilot, ein rothäutiger Knabe, hob das geflügelte Boot mit einem schwingenden Stoß zum Himmel empor.

Ein kalter Wind warf sich ihnen entgegen. Der schneeweiße Pelzmantel Aëlitas war durchtränkt von gewittriger Frische, von dem kalten Hauch der Berge. Aëlita wandte sich zu Losj um, ihre Wangen glühten.

»Ich habe den Vater gesehen. Er hat mir befohlen, dich und deinen Kameraden zu töten.« Ihre Zähne blitzten. Sie öffnete die kleine Faust. An ihrem Ring hing an einem Kettchen ein Flakon aus Stein. »Der Vater hat gesagt: ›Mögen sie ruhig einschlafen, sie haben einen glücklichen Tod verdient.‹«

Aëlitas graue Augen wurden feucht. Doch gleich darauf lachte sie und zog den Ring vom Finger. Losj griff nach ihrer Hand.

»Wirf es nicht fort« Er nahm ihr das winzige Flakon weg und steckte es in die Tasche. »Es soll dein Geschenk sein, Aëlita. Der dunkle Tropfen gibt Schlaf, gibt Ruhe. Jetzt bist du sowohl das Leben als auch der Tod.« Er beugte sich vor, bis er ihren Atem spürte. »Wenn die schreckliche Stunde der Einsamkeit naht, dann werde ich dich von Neuem in diesem Tropfen fühlen.«

In dem Bemühen, zu begreifen, hatte Aëlita die Augen geschlossen und sich mit dem Rücken an Losj gelehnt. Nein, es war doch alles so unbegreiflich. Der brausende Wind, Losjs heiße Brust hinter ihrem Rücken, seine Hand, die in dem weißen Fell auf ihrer Schulter lag. Ihrer beider Blut schien im selben Kreislauf zu pulsen, als ein einziger Körper flogen sie hinein in eine strahlende uralte Erinnerung. Nein, zu begreifen war das dennoch nicht!

Es verging eine Minute und noch ein wenig mehr. Das Boot befand sich jetzt über Tuskubs Landgut. Der Pilot drehte sich um. Aëlita und der Sohn des Himmels hatten merkwürdige Gesichter. In ihren leeren Augen leuchteten Sonnenpünktchen. Der Wind zauste an dem schneeigen Pelzwerk von Aëlitas Mantel. Ihre Augen blickten verzückt in den Ozean des himmlischen Lichts.

Der kleine Pilot steckte seine spitze Nase in den Mantelkragen und begann lautlos zu lachen. Dann legte er das Boot auf einen Flügel und landete, in steilem Fall die Luft durchschneidend, vor dem Haus.

Aëlita erwachte und begann ihren Pelzmantel aufzuknöpfen, aber ihre Finger glitten nur über die Vogelköpfe auf den großen Knöpfen. Losj hob sie aus dem Boot und stellte sie auf das Gras. Gebeugt blieb er vor ihr stehen.

Aëlita sagte zu dem kleinen Piloten: »Mach das geschlossene Boot fertig.«

Sie bemerkte weder Ichoschkas gerötete Augen noch das kürbisgelbe, angstverzerrte Gesicht des Hausmeisters. Lächelnd und zerstreut wandte sie sich nach Losj um und ging vor ihm her in das Innere des Hauses, in ihre Gemächer.

Losj erblickte zum ersten Mal Aëlitas Zimmer: niedrige goldene Gewölbe, Wände, die mit Schattenbildern bedeckt waren, ähnlich den Figürchen auf einem chinesischen Schirm. Er spürte den leicht bitteren, warmen Duft, der ihm ein Schwindelgefühl verursachte.

Aëlita sagte leise: »Setz dich.«
Losj setzte sich. Sie ließ sich zu seinen Füßen nieder, legte ihren Kopf auf seine Knie und die erhobenen Hände auf seine Brust und rührte sich nicht mehr.
Voller Zärtlichkeit blickte er auf ihr aschgraues, im Nacken hochgekämmtes Haar und hielt ihre Hände. Ihre Kehle begann zu beben. Losj beugte sich vor.

Sie sagte: »Langweilst du dich vielleicht mit mir? Verzeih. Ich verstehe noch nicht zu lieben. Ich bin so verwirrt. Ich sagte zu Icha: ›Stell recht viel Blumen in das Speisezimmer und lass die Ulla ihm vorspielen, wenn er allein bleibt!‹«
Aëlita stützte sich mit den Ellbogen auf Losjs Knie. Ihr Gesicht hatte einen schwärmerischen Ausdruck. »Hast du zugehört? Hast du verstanden? Hast du an mich gedacht?«
»Du siehst und weißt«, sagte Losj, »dass ich vor Unruhe den Verstand verliere, wenn ich dich nicht sehe. Und wenn ich dich sehe, ist meine Unruhe noch schrecklicher. Mir kommt es jetzt vor, als hätte mich die Sehnsucht nach dir durch den Sternenraum getrieben.«
Aëlita seufzte tief auf. Ihr Gesicht schien glücklich zu sein. »Der Vater hat mir ein Gift gegeben, aber ich sah es – er vertraut mir nicht. Er sagte: ›Ich werde dich und ihn töten.‹ Es bleibt uns nicht mehr lange zu leben. Doch du fühlst: Wir haben endlose, glückselige Minuten vor uns.«
Sie stockte und sah, wie Losjs Augen in kalter Entschlossenheit aufloderten, seine Lippen pressten sich eigensinnig aufeinander.
»Gut«, sagte er, »ich werde kämpfen.«
Aëlita rückte näher an ihn heran und flüsterte: »Du bist der Riese aus den Träumen meiner Kindheit. Dein Gesicht ist herrlich schön. Du bist stark, Sohn des Himmels. Du bist mannhaft und gut. Deine Arme sind von Eisen, deine Knie von Stein. Dein Blick ist tödlich. Von deinem Blick verspüren die Frauen ein Beben im Herzen.«
Kraftlos legte Aëlita ihren Kopf auf seine Schulter. Ihr Murmeln wurde undeutlich und war kaum zu vernehmen. Losj strich ihr das Haar aus dem Gesicht.
»Was ist mit dir?«
Da umschlang sie heftig seinen Hals, wie ein Kind. Große Tränen traten aus ihren Augen und liefen über ihr schmales Gesicht.
»Ich verstehe nicht zu lieben«, sagte sie, »ich habe das nie gekannt … Habe Mitleid mit mir, verschmähe mich nicht. Ich werde dir interessante Geschichten erzählen. Ich erzähle dir von schrecklichen Kometen, von der Schlacht der Luftschiffe, vom Untergang des schönen Landes jenseits der Berge. Es wird dich nicht langweilen, mich zu lieben. Mich hat noch nie jemand lieb gehabt. Als du das erste Mal kamst, da habe ich gedacht: Ich habe ihn in der Kindheit gesehen, das ist mein lieber Riese. Ich wünschte, dass du mich auf die Arme nähmest und mich forttrügest von hier. Hier ist es düster, hoffnungslos, hier ist der Tod, nichts als Tod. Die Sonne wärmt nur kärglich. Das Eis an den Polen taut nicht mehr auf. Die Meere trocknen aus. Endlose Wüsten und kupferroter Sand bedecken den Tuma … Die Erde, die grüne Erde … bringe mich weit fort auf die Erde. Ich möchte die grünen Berge sehen, das strömende Wasser, die Wolken, fette Tiere, Riesen … Ich will nicht sterben.«
Aëlita zerfloss in Tränen. Sie erschien Losj jetzt ganz und gar wie ein kleines Mädchen. Es war komisch und zugleich rührend, wenn sie von Riesen sprach und dabei die Hände zusammenschlug.
Losj küsste sie auf die verweinten Augen. Sie wurde still. Ihr Mündchen war geschwollen. Verliebt schaute sie von unten her hinauf zu dem Sohn des Himmels wie auf einen Riesen aus dem Märchen.
Plötzlich erscholl in der Dämmerung des Raumes ein leises Pfeifen, und sogleich flammte in dem Oval über dem Toilettentisch ein wolkiges Licht auf. Auf der Scheibe erschien Tuskubs aufmerksam und forschend blickender Kopf.
»Bist du hier?«, fragte er.
Aëlita sprang wie eine Katze auf den Teppich und lief zu dem Spiegel. »Ich bin hier, Vater.«
»Leben die Söhne des Himmels noch?«
»Nein, Vater, ich habe ihnen das Gift gegeben, sie sind tot.«
Aëlita sprach kalt und schroff. Sie stand mit dem Rücken zu Losj und verdeckte den Sehschirm.
»Was willst du noch von mir, Vater?«
Tuskub schwieg. Aëlitas Schultern begannen sich zu heben, ihr Kopf fiel hintenüber. Tuskubs grimmige Stimme brüllte: »Du lügst! Der Sohn des Himmels ist in der Stadt. Er steht an der Spitze des Aufruhrs!«
Aëlita wankte. Der Kopf des Vaters verschwand.