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Aëlita – Teil 26

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Losj bleibt allein

»Revolution, Mstislaw Sergejewitsch. Die ganze Stadt steht Kopf. Ist das ein Spaß!« Gussew stand in der Bibliothek. In seinen gewöhnlich schläfrigen Augen sprangen lustige Fünkchen, seine Nase hatte sich gehoben, sein Schnurrbart sträubte sich. Die Hände hatte er tief hinter den Riemen seines Gürtels geschoben.

»Ich habe schon alles im Boot verstaut: Proviant, Granaten. Auch so eins von ihren kleinen Gewehren hab ich mir besorgt. Machen Sie sich rasch fertig, legen Sie das Buch hin, fliegen wir!«

Losj saß mit untergeschlagenen Beinen in einer Sofaecke und blickte mit nichts sehenden Augen auf Gussew. Bereits zwei Stunden wartete er auf Aëlita, die um diese Zeit zu kommen pflegte. Mehr als einmal war er zur Tür gegangen, hatte gehorcht – in den Zimmern Aëlitas blieb alles still. Er setzte sich in die Ecke des Sofas und wartete darauf, dass ihre Schritte erklingen würden. Er wusste: Ihre leichten Tritte würden in ihm wie ein himmlischer Donner widerhallen. Und sie würde eintreten wie immer, schöner und erstaunlicher, als er es erwartete, würde unter den erleuchteten oberen Fenstern durch den Raum gehen. Ihr schwarzes Kleid würde über den spiegelblanken Fußboden gleiten. Und in ihm würde alles beben. Das Weltall seiner Seele würde erbeben und erstarren wie vor einem Gewitter.

»Haben Sie etwa Fieber, Mstislaw Sergejewitsch? Warum starren Sie mich so an? Ich sage: Fliegen wir, alles ist fertig. Ich will Sie zum Marskommissar erklären. Eine einfache Sache.«

Losj senkte den Kopf, so fest hatten sich Gussews Augen in ihn hineingebohrt. »Was geht in der Stadt vor?«
»Der Teufel soll daraus klug werden. Das Volk ist in Massen auf den Straßen, überall ein Gebrüll. Die Fenster werden eingeschlagen.«
»Fliegen Sie hin, Alexej Iwanowitsch, nur kommen Sie noch heute Nacht zurück. Ich verspreche Ihnen, Sie in allem, was Sie wollen, zu unterstützen. Veranstalten Sie eine Revolution, ernennen Sie mich zum Kommissar. Wenn es notwendig sein sollte, erschießen Sie mich. Aber heute, ich flehe Sie an, lassen Sie mich in Ruhe. Einverstanden?«
»Schon gut«, sagte Gussew, »es ist ein Elend. Alle Unordnung kommt von ihnen, die Fliegen mögen sie tottrampeln – und wenn man in den siebenten Himmel fliegt, dann ist dort ein Weib. Pfui Teufel! Ich komme um Mitternacht wieder. Ichoschka wird aufpassen, dass ich nicht angezeigt werde.«
Gussew ging davon. Losj nahm das Buch wieder auf und dachte: Womit wird das enden? Wird das Ungewitter der Liebe vorübergehen? Nein, ich entrinne ihm nicht. War er froh über dieses Gefühl der angespannten tödlichen Erwartung, dass sich ihm jeden Augenblick, jetzt gleich ein unvorstellbares Licht auftun würde? Es war keine Freude, keine Traurigkeit, kein Traum, kein Dürsten und keine Linderung … Das, was er verspürte, wenn Aëlita neben ihm war, das war einzig die Aufnahme des Lebens in die eisige Einsamkeit seines Körpers. Das Leben kam zu ihm über den spiegelblanken Fußboden, unter den leuchtenden Fenstern. Doch das war auch nur ein Traum.
Mochte geschehen, wonach ihn dürstete. Und das Leben würde in ihr, in Aëlita erstehen. Und sie würde erfüllt sein von dem Werden eines Wesens, von dem zuckenden Fleisch. Sein Schicksal war aufs Neue die Sehnsucht, die Einsamkeit.
Noch niemals hatte Losj mit solcher Klarheit das hoffnungslose Dürsten nach Liebe verspürt, noch nie diesen Betrug der Liebe so begriffen, dieses furchtbare, unmerkliche Sich-verlieren-Müssen an die Frau – den Fluch des männlichen Wesens. Die Arme ausbreiten, die Hände ausstrecken von Stern zu Stern – warten und die Frau aufnehmen. Und sie wird alles nehmen und wird leben. Du aber, der Liebhaber, der Vater – du bist ein Schatten, der die Arme ausbreitet von Stern zu Stern.

Aëlita hatte recht. Er hatte viel zu viel erfahren in dieser Zeit, zu sehr hatte sich sein Bewusstsein geweitet. Durch seinen Körper floss noch heißes Blut, er war noch ganz erfüllt von den unruhigen Sporen des Lebens – er war ein Sohn der Erde. Aber sein Verstand war ihm um tausend Jahre vorausgeeilt. Hier, auf diesem fremden Boden hatte er erfahren, was er noch nicht zu wissen brauchte. Sein Verstand hatte sich aufgetan und klaffte nun als eine eisige Wüste. Was hatte ihm sein Verstand eröffnet? Eine Wüste – und dort, hinter ihren Grenzen, neue Geheimnisse.

Zwinge einen Vogel, der mit geschlossenen Augen im heißen Strahl der Sonne zart und verzückt sein Lied singt, auch nur einen winzigen Tropfen der menschlichen Weisheit zu verstehen, und der Vogel wird tot zur Erde fallen.

Von draußen drang das langgezogene Pfeifen des davonfliegenden Bootes durch das Fenster. Gleich danach steckte Icha den Kopf durch die Tür der Bibliothek.

»Sohn des Himmels, kommen Sie zum Mittagessen?«

Losj begab sich eilig in das Speisezimmer, einen weißen runden Raum, in dem er in diesen Tagen zusammen mit Aëlita zu Mittag gegessen hatte. Hier war es heiß. Die Blumen in den hohen Vasen vor den Säulen verbreiteten einen schweren, erstickenden Duft. Icha wandte ihre von Tränen geröteten Augen ab und sagte: »Sie werden allein speisen, Sohn des Himmels.« Bei diesen Worten legte sie weiße Blumen auf Aëlitas Gedeck.

Losjs Gesicht verdunkelte sich. Düster setzte er sich an den Tisch. Das Essen rührte er nicht an, zerkrümelte nur etwas Brot und trank einige Gläser Wein. Von der über dem Tisch befindlichen Kuppel aus Spiegelglas herab ertönte, wie gewöhnlich während des Mittagessens, eine leichte Musik. Losj presste die Kiefer zusammen.

Aus der Wölbung der Kuppel erklangen zwei Stimmen – ein Streich- und ein Blasinstrument. Sie vereinigten und verflochten sich und sangen vom Unerfüllbaren. Bei den hohen verklingenden Tönen gingen sie auseinander, die tiefen aber flehten, wie aus dem Grab, mit sehnsüchtigen Stimmen, bewegt riefen sie einander an und sangen aufs Neue von Wiederbegegnung, sich nahe kommend und kreisend, wie in einem alten, alten Walzer.

Losj saß und presste den schmalen Pokal in der Faust zusammen. Icha stellte sich hinter eine Säule, nahm den Rocksaum hoch und verbarg darin ihr Gesicht. Ihre Schultern bebten. Da warf Losj die Serviette hin und erhob sich. Die schmachtende Musik, der schwüle Duft der Blumen, der würzige Wein – all das war ganz umsonst.

Er trat auf Icha zu. »Kann ich Aëlita sehen?«

Ohne den Rocksaum vom Gesicht zu nehmen, schüttelte Icha ihr rotes Haar. Losj packte sie an den Schultern. »Was ist passiert? Ist sie krank? Ich muss sie sehen.«

Icha entschlüpft unter Losjs Ellbogen und lief davon.

Auf dem Boden, neben der Säule, lag eine von Tränen nasse Fotografie, die Ichoschka hatte fallenlassen. Es war ein Bild von Gussew in voller Kriegsausrüstung: Tuchhelm, Riemen über der Brust, die eine Hand am Säbelgriff, in der anderen ein Revolver, hinter ihm explodierende Granaten; die Unterschrift lautete: »Der reizenden Ichoschka zur unvergesslichen Erinnerung.«

Losj schleuderte die Fotografie weg, verließ das Haus und schritt über die Wiese dem Wäldchen zu. Er machte, ohne es zu merken, riesige Sprünge und murmelte: »Sie will mich nicht sehen – dann nicht, meinetwegen. Da gerät man in eine andere Welt, macht unerhörte Anstrengungen …, um in der Sofaecke zu sitzen und zu warten: Wann denn, wann endlich kommt die Frau herein … Wahnsinn! Besessenheit! Gussew hat recht. Das ist ein Fieber. ›Mir ist was Süßes in die Nase gestiegen.‹ Warten, wie auf das Ende der Welt … auf einen zärtlichen Blick … Zum Teufel mit allem! …«

Diese Gedanken waren grausam und verletzend. Losj schrie auf, wie von einem Zahnschmerz. Seine Kräfte nicht ermessend, sprang er meterhoch in die Luft und konnte sich beim Fallen kaum auf den Beinen halten. Sein weißes Haar flatterte. Er hasste sich selber mit ingrimmigem Hass.

Jetzt hatte er den See erreicht. Das Wasser war wie ein Spiegel. Auf seiner schwarzblauen Oberfläche lagen flammende Garben von Sonnenstrahlen. Es war schwül. Losj setzte sich auf einen Stein und umfasste seinen Kopf.

Aus der durchsichtigen Tiefe des Sees schwammen langsam purpurrote runde Fische in die Höhe, sie bewegten die langen stachligen Flossen und blickten Losj mit ihren wässrigen Augen gleichgültig an.

»Hört es, ihr Fische …, ihr glotzäugigen, dummen Fische«, sagte Losj mit halblauter Stimme, »ich bin ruhig, ich spreche bei vollem Bewusstsein. Mich quält die Neugierde und brennt mich, sie in die Arme zu nehmen, wenn sie eintritt in ihrem schwarzen Kleid. Zu hören, wie ihr Herz schlagen wird … Sie selbst wird sich mit einer langsamen Bewegung an mich lehnen … Ich werde zusehen, wie es in ihren Augen wild aufglimmt … Seht, Fische, ich stocke, ich breche ab, ich denke nicht weiter, ich will nicht. Genug. Das Fädchen ist gerissen – Schluss. Morgen geht es in die Stadt. Kampf – schön! Der Tod – schön. Nur keine Musik, keine Blumen, keine arglistige Verführung. Ich will keine Schwüle mehr. Die Zauberkugel auf ihrer Handfläche – zum Teufel damit, zum Teufel, das ist alles Betrug, das sind Phantome!«

Losj stand auf, nahm einen großen Stein und schleuderte ihn mitten hinein in den Schwarm der Fische. Sein Kopf schmerzte. Das Licht blendete schneidend die Augen. In der Ferne, hinter dem Wäldchen, erhob sich eisfunkelnd der spitze Grat eines Berggipfels. ›Ich muss von der eisigen Luft trinken.‹ Losj blickte mit zugekniffenen Augen auf den diamantenen Berg und schlug, durch das himmelblaue Gestrüpp gehend, die Richtung dorthin ein.

Das Wäldchen war zu Ende, vor ihm lag eine öde hügelige Hochebene. Der vereiste Berggipfel ragte weit hinter ihrem Rand auf. Unterwegs stieß er überall auf Schlacke und Steinschutt, überall gähnten die Öffnungen von verlassenen Schächten. Losj beschloss eigensinnig, mit den Zähnen ein Stück diesem in der Ferne schimmernden Schnee zu kosten.

Abseits, in einer kleinen Talmulde, erhob sich eine Staubwolke. Der heiße Wind trug ihm den Lärm von Stimmen zu. Von der Höhe eines Hügels erblickte Losj große Menge Marsianer, die sich durch das trockene Bett Kanals bewegten. Sie trugen lange Stangen, an deren Messer gebunden waren, Schaufeln sowie Hämmer zum Kleinern von Erz. Sie bewegten sich mühsam vorwärts, teilten ihre Waffen und brüllten wild. Raubvögel folgten in der Luft über den braunen Wolken.
Losj erinnerte sich an das, was Gussew vorhin über Ereignisse gesagt hatte. Er dachte: ›Also: Lebe, kämpfe, und geh unter. Aber das Herz, das unglückliche, gehrende, halte an der Kette.‹

Die Menge verschwand hinter den Hügeln. Losj schritt aus, erregt von der Bewegung, von seinem Kampf, und plötzlich blieb er stehen, warf den Kopf in den Nacken. In der blauen Höhe schwebte niedergehend ein geflügeltes Boot. Jetzt blitzte es auf in der Sonne, beschrieb einen Kreis, senkte sich, immer niedriger, glitt über seinen Kopf hinweg und landete.

Im Boot erhob sich jemand, eingehüllt in einen Pelz, der so weiß war wie der Schnee. Aus dem Pelz, unter einem ledernen Helm hervor, blickten die erregten Augen Aëlitas auf Losj. Sein Herz begann ungestüm zu schlagen. Er näherte sich dem Boot. Aëlita schlug den von ihrem Atem feucht gewordenen Pelzkragen zurück. Mit dunkel gewordenen Augen schaute Losj in ihr Gesicht. Sie sagte: »Ich bin gekommen, dich zu holen. Ich war in der Stadt. Wir müssen fliehen. Ich sterbe vor Sehnsucht nach dir.«

Losj presste mit den Händen die Bordwand des Bootes, mit Mühe nur holte er Atem.