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Die Gespenster – Erster Teil – Vierunddreißigste Erzählung

Die-GespensterDie Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Erster Teil

Vierunddreißigste Erzählung

Von einer Erscheinung, die den Geisterseher billig zum Glauben an Gespenster hätte bekehren sollen, und dennoch nicht bekehrte

Ich ging eines Abends, da es finster geworden war, aus dem Haus des Herrn Leutnants Wagner zu Brandenburg in meine Wohnung, nach der Saldernschen Schule zurück. Es war der 23. Oktober des Jahres 1779. Beim Eintritt in den Schulhof rief ich, der Verabredung gemäß, Herrn Pfennigk, welcher eine Treppe hoch wohnte, und mir diesen Abend auf meiner Stube Gesellschaft zu leisten versprochen hatte.

Da er eben am Schreibtisch beschäftigt war, so bekam ich zur Antwort: »In fünf Minuten werde ich kommen.«

Die Stimme, die ich, bei ihrer Auszeichnung vor vielen anderen, deutlich als die seine erkannte, kam unverkennbar von oben herab, wo ich sein Licht brennen sah. Nichtsdestoweniger erblickte ich in dem nämlichen Augenblick den Gerufenen selbst schon unten vor mir. Mein Gesicht war dem linken Flügel des Schulgebäudes, in welchem er wohnte, zugekehrt, und ich stand der Wand so nahe, dass ich nur die Hand ausstrecken durfte, um ihn zu berühren.

»Ja es möglich«, rief ich verwunderungsvoll aus. »Sie sind schon hier! Ich glaubte Sie oben antworten zu hören.«

Er schwieg, stand unbeweglich, und lächelte. Wenigstens glaubte ich, ein Lächeln wahrzunehmen, da mir der Schimmer weniger Sterne nicht gestattete, seine Gesichtszüge vollkommen deutlich zu beobachten. Ich begriff nicht, warum er schwieg, streckte daher die Hand nach ihm aus, griff gerade durch das unkörperliche Etwas, welches sein Bild in meine Augen warf, hindurch, und berührte – nichts als die weiße Wand.

Da ich, durchaus unbefangen, noch an kein den beschränkten Kräften des Menschen unbegreifliches Spiel der Natur dachte, so glaubte ich, mein Freund wolle aus bloßer Spielerei sich meiner Berührung entziehen. Was mich in dieser Meinung bestärkte, war, dass ich ihn in dem Augenblick des Missgriffs an der nämlichen Wand zur Rechten nur einen Schritt von mir entfernt erblickte.

Ich griff zum zweiten Mal nach ihm und verfehlte ihn wieder. Jetzt stand er mir zur Linken, wie dicht an die Wand gedrückt.

»Sie sind heute unbegreiflich schnell und behende«, sagte ich.

Er schwieg. Dies abermalige Schweigen wunderte mich zwar, allein noch weit auffallender waren mir die ihm nachgerühmten Eigenschaften, welche ich noch nie in einem solchen Grad an ihm bemerkt hatte.

Es begann eine Art von Wetteifer, wer von uns beiden der Schnellere sein würde. Ich sprang rasch auf ihn zu, griff mit beiden ausgebreiteten Händen nach ihm. Aber die Erscheinung entrückte sich meinem Gefühl zum dritten Mal und entschlüpfte mir zur Linken, in den kleinen Eingangsabschlag zur sechsten Klasse, der aufwärts keine Tür hat. Die innere Klassentür selbst, zu welcher er führt, wurde von dem Lehrer, Herrn Schröder, außer der Schulzeit beständig verschlossen gehalten. Das wusste ich. Mein behender Freund konnte mir also hier weiter nicht entwischen. Ich kündigte ihm das an, wie einer, der seines Sieges gewiss ist, da der Abschlag selbst nur so breit ist, dass ich seine Seitenwände mit beiden Händen berühren konnte, und da ich mich ohnehin mit gesperrten Füßen in denselben vorwärts bewegte. So war es einem körperlichen Wesen in der Tat unmöglich, mir abermals zu entwischen, ohne mich zu berühren.

Und was geschah dessen ungeachtet? Ich gelangte so bis an die innere, fest verschlossene Klassentür und erwischte – niemanden! Mich überfielen plötzlich ein fürchterliches Grausen und ein so schauderhaftes Entsetzen, wie ich es noch nie empfunden hatte. In einem und dem nämlichen Augenblick prallte ich zurück aus dem Eingangsabschlag, schrie laut au, und stürzte, halb von Sinnen, dem Herrn Prediger Fischer auf den Leib, der gerade vor dem Eingang vorbeiging, um den Herrn Rektor Sauberzweig zu besuchen.

Sein Ausruf »Um des Himmels willen, was gibt es hier?« war mir im höchsten Grad willkommen. Ich hatte doch nun, außer der im doppelten Sinn unbegreiflichen geistigen Erscheinung auch wieder ein lebendes Wesen aus der Körperwelt um mich. Wir bemühten uns, die Truggestalt wieder zu finden; allein sie war verschwunden. Wir spürten den mancherlei Quellen eines mir vielleicht gespielten Betruges mit allem Fleiß nach, entdeckten aber deren keine.

Indem wir uns noch ernstlich hiermit beschäftigten, verließ der leibhafte Herr Pfennigk sein Studierzimmer, wie wir an dem Zuwerfen und Verschließen der Stubentür deutlich hörten, und kam polternd von der Treppe herab. Er hatte mich laut reden gehört, und war sehr verwundert, da ich ihm sagte, dass es sein unkörperlicher Repräsentant gewesen sei, womit ich Greif gespielt hätte.

Es fragt sich, was war diese sonderbare Erscheinung? Etwa das Trugbild einer lebhaften, schaffenden Einbildungskraft, das Possenspiel der Furcht und vorgefasster Meinungen?

Beides ist möglich, obwohl die Fantasie mir bis dahin niemals und auch seitdem nie wieder auf eine ähnliche Art mitgespielt hat. Auch hatte ich diese allmächtige Schöpferin durch keine Art von Erhitzung in eine besondere Wirksamkeit gesetzt.

Was endlich die im reiferen Alter so oft irreleitenden Eindrücke aus der gemisshandelten Kindheit betrifft, so habe ich das Glück gehabt, als Kind so behandelt zu sein, dass mir kein Schreckbild der Gespensterfurcht, kein Popanz des Wahnglaubens aus jenen Jahren anklebte. Kurz, ich bin eitel genug, zu glauben, dass man nicht leicht unbefangener, vorurteilsloser das erzählte Abentheuer bestehen konnte. Denn der Gedanke, dass ich weder den wirklichen Herrn Pfennigk noch überhaupt einen irdischen Körper vor mir hatte und verfolgte, fiel mir da erst ein, wie ich am Ende des Eingangabschlages war, ohne irgendein mir dreimal entwischtes körperliches Etwas darin anzutreffen.

Wenn gaukelnde Einbildungen keinen Selbstbetrug veranlassten, vielleicht war es ein verborgener Künstler, dessen gaukelndes Blendwerk zu Irrtümern und Trugschlüssen verleitete?

Auch das ist möglich. Allein zur Steuer der Wahrheit muss ich bekennen, dass unsere ernstlichsten Untersuchungen, die wir vorurteilslos und ohne Aufschub anstellten, nichts von der Art entdeckt haben.

»So wäre also jene Erscheinung eine wirkliche Geistgestalt ein wirklich spukhaftes Etwas gewesen, zu dessen Darstellung die uns bekannten ordentlichen Kräfte der Natur nicht hinreichen?«

Ich antworte fragend: Welchen denkbaren Zweck könnte eine solche Erscheinung haben erreichen wollen? Zwecklos handelt aber der Herr aller Geister nie! Zwar erkennen wir im Reich der Wirklichkeiten die Zwecke des Weltregierers nur selten erschöpfend und gänzlich. Allein jederzeit werden wir sie wenigstens ahnden und ihnen einigermaßen auf die Spur kommen. Nicht so im gegenwärtigen Fall.

Ich merkte mir genau Tag und Stunde jener Erscheinung, um in der Folge zu sehen, ob sie von irgendeinem merkwürdigen Ereignis, welches mich anginge, eine Vorbedeutung sein sollte. Allein ich konnte mit allen Erkundigungen deren keines in Erfahrung bringen. Weder Verwandter noch Bekannter war mir um diese Zeit verstorben oder auch nur sehr krank gewesen. Weder Freundin noch Freund hatte gerade damals vorzüglich lebhaft an mich gedacht. Selbst Herr Pfennigk, dessen Trugbild mich zum Besten hatte, war mit seinen Gedanken während der Erscheinung nicht bei mir gewesen, sondern vollendete ruhig die angefangene Arbeit. Ja, was noch mehr ist, die zweckloseste aller Erscheinungen erreichte selbst nicht einmal den etwaigen Zweck, mich – den unbelehrbarsten Gespensterfeind zum Glauben an übernatürliche Erscheinungen zu bekehren. Und wenn ich selbst bestimmt sein sollte, in der Folge noch viel ähnliche, rätselhafte Erfahrungen zu machen, so werden sie sämtlich mich dennoch nicht überzeugen, dass ein Gott, der die Liebe ist, den unbegreiflichen Wesen, die wir Geister nennen, die Macht gegeben haben sollte, mich ohne irgendeine aufzufindende Ursache so fürchterlich zu erschrecken und mit mir ein so ganz zweckloses Possenspiel zu treiben. Dies ist mein Glaubensbekenntnis! Ich hoffe als Laie ln der Gottesgelehrtheit, dass es den Grundsätzen der echten Christusreligion, die uns vor allen Dingen auf ein unbegrenztes Vertrauen zum Gott der Liebe hinweist, vollkommen angemessen sein wird.

Ich hörte noch lange nicht auf, der wahren Quelle jener Erscheinung mit allem Fleiß nachzuspüren, und hatte nach Verlauf von zwei Monaten endlich das unbeschreibliche Vergnügen, das größte Rätsel meiner Lebenserfahrungen enträtselt und alles Unbegreifliche in dem erzählten Abenteuer plötzlich verschwinden zu sehen.

Einer der damaligen Lehrer der Saldernschen Schule, Herr Kantor Albrecht, besaß einen kleinen Apparat zu physischen Belustigungen, von denen er indessen keinen öffentlichen Gebrauch machte. Unter anderem hatte er eine Zauberlaterne. Einer der Studierenden, Hr. K., der viel bei ihm aus- und einging und etwas malen konnte, ließ sich gelüsten, ohne die Erlaubnis ihres Eigentümers ganz im Geheimen einmal Gebrauch von dieser Laterne zu machen. Er hatte bereits eine mit durchsichtigen Farben auf Glas gemalte Geistgestalt vorrätig. Da er bei meiner mit Herrn Pfennigk gelassenen Verabredung gegenwärtig gewesen war, so gab er dem Gemälde in aller Geschwindigkeit noch einige Ähnlichkeit mit der Gestalt des Letzteren. So vorbereitet ging er mit seiner Zauberlaterne um die Zeit, wo er meine Rückkehr auf dem Schulhof vermuten konnte, in die Herrn Pfennigks Wohnung gegenüber gelegene Erste Klasse und ließ von da aus das Trugbild an die weiße Wand der Sechsten fallen.

Solange er es mit mir allein, der ich ihm den Rücken zukehrte, zu tun hatte, war er unbesorgt. Allein in dem nämlichen Augenblick, in welchem er einen Dritten, den Herrn Prediger Fischer, in den Schulhof eintreten sah, löschte er das Licht seiner Zauberlaterne aus, und machte behende das Fenster der Klasse zu, in welcher er eingeschlossen war. Da der Schulwärter, welcher den Schlüssel zu dieser Klasse hatte, erst nach Verlauf einer Stunde aufzutreiben war, so kam das Nachsuchen daselbst zu spät, weil Hr. K. längst Gelegenheit genommen hatte, samt seiner Laterne durch eines der hinter sich wieder herangedrückten Fenster zu entwischen.

Das durchsichtige Glasgemälde hatte in der Tat nur wenig, ja fast gar keine Ähnlichkeit mit Herrn Pfennigk. Ich habe mir daher seitdem in ähnlichen Fällen das größte Misstrauen gegen die Erzbetrügerin – die Einbildungskraft – zum Gesetz gemacht.