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Der Wolfmensch – Kapitel 1

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Erster Teil
Kapitel I

Die öffentliche Bekanntmachung

Langogne, eine kleine Stadt des ehemaligen Gévaudan, einer Provinz, welche gegenwärtig die Grenze der Departements Logère und Ardèche bildet, liegt mitten unter hohen Bergen und Wäldern, welche die Zugänge sehr schwierig machen. Obwohl sie zur Zeit, wo die Religionskriege die Cevennen verheerten und namentlich zur Zeit der Empörung der Camisarden nach dem Widerruf des Edikts von Nantes ein sehr streitig gemachter Posten war, so hat doch ihre Lage in einer unfruchtbaren, von Hilfsquellen und Verkehr entblößten Gegend sie stets verhindert, eine Entwicklung zu gewinnen. Selbst in der gegenwärtigen Zeit würde Langogne in jedem anderen Departement als in einem solchen, welches von großen Mittelpunkten der Bevölkerung ganz entblößt ist und dessen Hauptstadt weniger Bedeutung hat als gewisse Dörfer in der Umgebung von Paris, nur als ein elender Marktflecken erscheinen.

An einem Tag zu Beginn desHerbstes 1764 schien jedoch die kleine Zahl Einwohner, welche die Feldarbeit in der Stadt zurückgelassen hatte, in außerordentlicher Aufregung zu sein.

Der von einem Trommelschläger begleitete Gerichtsvoigt machte die Runde durch die Stadt, um seinen Untertanen eine Proklamation zu verkünden, welche lebhaftes Interesse erweckte. Der Beamte in seinem schwarzen Mäntelchen, mit einer umfangreichen Perücke und viereckigen Mütze auf dem Kopf, marschierte mit aller wünschenswerten Gravität einher und hielt ein zusammengerolltes Papier in der Hand. An jeder Ecke und überall, wo zwei Gassen sich kreuzten, wurde haltgemacht. Der Tambour schlug einen Wirbel und dann las der Herr Gerichtsvoigt, nachdem er unter tiefem Schweigen sein Papier aufgerollt hatte, mit näselnder Stimme das Aktenstück vor, welches er bekannt zu machen beauftragt war.

Diese Vorlesung fand in zwei Sprachen statt – erstens in französischer Sprache und dann in dem Patois der Umgegend. Dies war eine unumgänglich nötige Vorsichtsmaßregel, denn das Französische war damals in der dortigen Gegend noch nicht sehr verbreitet und der Gerichtsvoigt wäre Gefahr gelaufen, unter hundert seiner Zuhörer kaum von einem verstanden zu werden.

Der Gegenstand dieser feierlichen Proklamation, welche die Langognesen ebenso in Bewegung setzte, wie sie schon alle anderen Städte und Dörfer der Provinz in Bewegung gesetzt hatte, war folgender:

Seit mehreren Monaten war das Land durch ein wildes, reißendes Tier unsicher gemacht worden, welches, wie man glaubte, ein ungeheurer Wolf war, und welches man die Bestie des Gévaudan nannte.

Dieses Tier hatte schon eine große Anzahl Menschen gerissen, sowohl Männer als auch Frauen und Kinder. Jeder Tag brachte die Nachricht von einer seiner blutigen Räubereien. Familien wurden dezimiert, die Landsleute wagten nur noch bewaffnet und in größerer Anzahl sich auf ihre Feldarbeit zu begeben. Trotz dieser Vorsicht vermehrten sich die Unglückszahlen ohne Unterbrechung.

Jagden waren anbefohlen worden und sämtliche Jäger der Nachbarschaft hatten sich vereinigt, um dieses wütende Tier zu erlegen oder zu fangen. Man hatte Treibjagden in den Wäldern veranstaltet, in welchen es sich aufhielt, aber vergeblich.

Ebenso listig wie blutdürstig hatte es sich diesen eifrigen Nachstellungen zu entziehen gewusst, und noch am Abend dieser großen Jagden waren junge Hirten und einzelne Reisende gerade an den Orten, welche die Jäger vor wenigen Stunden verlassen hatten, in Stücke gerissen worden.

Dieser Zustand der Dinge hatte so allgemeine Klagen veranlasst und die Furcht, welche in der ganzen Gegend herrschte, war so groß, dass die Provinzialbehörde sich endlich auf ernste Weise gerührt hatte.

Die von dem Gerichtsvoigt verlesene Proklamation lautete dahin, dass von den Ständen des Languedoc dem, welcher die Bestie des Gévaudan erlegen würde, eine Summe von zweitausend Livres bewilligt worden sei.

Zu dieser Summe fügten die Syndikate von Mende und Viviers noch fünfhundert Livres hinzu, abgesehen von gewissen Privilegien und Abgabenbefreiungen, die dem Sieger oder den Siegern des Ungeheuers gewährt werden sollten.

Überdies forderte man alle Gutgesinnten auf, sich, bewaffnet oder nicht, den nächstfolgenden Tag auf dem einige Stunden von der Stadt liegenden Schloss Mercoire einzufinden, um an einer neuen Treibjagd teilzunehmen, welche von Herrn von Laroche-Boisseau, dem sogenannten Wolfsjägermeister der Provinz und einem der Barone des Gévaudan, kommandiert werden sollte.

Nachdem der Gerichtsvoigt, wie bereits bemerkt, die Straßen und Plätze der Stadt Langogne durchzogen hatte – was eben nicht sehr lange Zeit erforderte – verlas er seine Proklamation zum letzten Mal an dem äußersten Ende der Hauptstraße, einem Wirtshaus gegenüber, wo die Reisenden gezwungenermaßen einkehren mussten, weil es kein anderes gab. Als der Beamte mit seiner Aufgabe fertig war, verabschiedete er den Trommelschläger und begab sich ohne die Fragen der um ihn herum versammelten Personen, unter welchen sich ganz angesehene Bürger befanden, beantworten zu wollen, mit majestätischem Schritt zu seiner Wohnung zurück.

Seine Entfernung zerstreute jedoch die vor der Tür des Wirtshauses versammelten Zuhörer nicht, sondern man fuhr fort, sich eifrig über das Ereignis des Tages zu besprechen.

»Zweitausendfünfhundert Livres!«, wiederholte ein kleiner hagerer Mann, welcher der Schnittwarenhändler des Städtchens war. »Die Syndikate von Mende und die Stände von Languedoc tun wirklich sehr viel. Überdies versichert man, dass der König dieser Summe auch noch vier- oder fünftausend Livres aus seiner Privatkasse hinzufügen will. Da müsste man viele Ellen Leinwand und Band abmessen, um so viel Geld zu verdienen. Meiner Treu, wenn meine Frau es zugäbe, so nähme ich auch die alte Muskete meines Großvaters von der Wand und ginge morgen mit den anderen auf das Schloss Mercoire, um mein Glück zu versuchen.«

»In diesem Fall mag das Tier die Ohren nur steifhalten, Nachbar Guignard!«, sagte mit spöttischem Gelächter der Prokurator der Abtei Langogne. »Ich wollte gleich wetten, dass die kleine Mama Guignard ganz gern ihren Mann riskieren würde, wenn Ihr nämlich nur Lust hättet, Euch selbst zu riskieren. Wohlan, da Ihr so tapfer seid, warum geht Ihr nicht zu Herrn von Laroche-Boisseau, um ihn zu bitten, Euch an einen guten Posten zu stellen, wo Ihr Aussicht habt, diese Prämie zu verdienen?«

Der Schnittwarenhändler zog ein so klägliches Gesicht, dass die Umstehenden in ein lautes Gelächter ausbrachen.

»Die Wahrheit zu gestehen, Herr Prokurator«, entgegnete Guignard ängstlich und befangen. Die Muskete ist nicht mehr in ganz gutem Zustand, denn sie ist seit der Zeit Jean Cavaliers nicht wieder in Gebrauch genommen worden und ich zweifle, dass der Kesselflicker Zeit hat, sie bis morgen zu reparieren. Übrigens würde sich Herr von Laroche-Boisseau wohl hüten, gemeine Leute, wie wir sind, auf den ersten Platz zu lassen. Heutzutage ist alles für den Adel und Ihr werdet sehen, dass es einer von unseren reichen Edelleuten ist, welchen der Herr Baron dieses Geld verdienen lässt.«

»Und warum sollte er denn nicht versuchen, es selbst zu verdienen?«, hob der Prokurator mit seinem spöttischen Lächeln wieder an. »Er ist der geschickteste Jäger und der erfahrenste Schütze der ganzen Provinz. Warum sollte er anderen die Ehre und den Nutzen dieser Angelegenheit überlassen? Trotz seines Stolzes würde er diese zweitausendfünfhundert Livres nicht verschmähen, dafür stehe ich Euch. Es ist so ziemlich allgemein bekannt, dass es mit seinen Finanzen nicht besonders steht.«

Eine hübsche Brünette von sechsunddreißig Jahren, kokett gekleidet, mit einem goldenen Kreuz am Hals und Ringen an allen Fingern, unterbrach den Prokurator.

»Pfui doch, Monsieur Blindet!«, rief sie mit geläufiger Zunge. »Wie könnt Ihr in meiner Gegenwart so von einem schönen und galanten Edelmann sprechen, welcher stets in meinem Gasthaus einkehrt, wenn er nach Langogne kommt? Wenn Herr von Laroche-Boisseau nun auch Schulden hat, was schadet das weiter? Sind Edelleute von so hohem Stand wie er nicht verbunden, Schulden zu haben, um ihren Rang zu behaupten? Vielleicht aber würde es keine große Mühe kosten, die Ursache dieser Schmähreden zu erraten. Trotz eures Wunsches hat er sich nicht dazu verstanden, Euch zu seinem Anwalt anzunehmen, sondern seine Angelegenheiten lieber dem alten Pfennigfuchser Legris anvertraut. Andererseits betrachtet Ihr, seitdem Ihr Prokurator des Klosters geworden seid, Euch als beinahe mit zur Kirche gehörig. Und diese Laroche-Boisseaus gelten für heimliche Protestanten. Ich weiß nicht, was an der Sache ist, aber behaupten kann ich, dass der Herr Baron freitags noch niemals bei mir Fleischspeisen genossen hat. Gewöhnlich begnügt er sich zum Frühstück mit einem Eierkuchen, Forellen und einer Flasche von meinem alten Saint-Peray. Er ist ein Herr von höflichem, freundlichem Wesen, der für seine Wirtin stets ein liebenswürdiges Wort in Bereitschaft hat …«

»Und stets bereit ist, seine Zeche mit einem Kuss zu bezahlen, nicht wahr, Madame Richard?«, setzte der boshafte Prokurator hinzu.

Die schöne Gastwirtin errötete bis in das Weiße ihrer Augen hinein.

»Ihr seid eine böse Zunge, Monsieur Blindet«, entgegnete sie mit verlegenem Lächeln. »Aber ich bitte Euch um des Himmels willen, sprecht nicht so laut, denn man weiß nicht, wer Euch hören kann. Herr von Laroche-Boisseau wird nämlich heute auf seinem Weg zum Schloss Mercoire unsere Stadt passieren und ohne Zweifel bei mir einkehren, um sich zu erfrischen und seine Pferde ausruhen zu lassen. Eure Verleumdungen könnten ihm Schaden bringen. Ihr wisst«, setzte sie in gedämpftem Ton hinzu, »dass von seiner Heirat mit Mademoiselle von Barjac, der reichen und schönen Schlossherrin von Mercoire, gesprochen wird.«

»Man sagt es allerdings, aber ich glaube es nicht, im Gegenteil …«

Hier sprachen die beiden so leise, dass es nicht mehr möglich war, sie zu verstehen. Dagegen wurde die Diskussion unter den anderen Personen der Gruppe um so lauter und lebhafter.

»Jawohl, ist es ein Wolf, oder ist es keiner?«, fragte der Küfer der Stadt mit verblüffter Miene. »Die Stände müssen es wissen, aber die Proklamation sagt nichts davon. Sie spricht bloß von einem Tier, welches man die Bestie des Gévaudan nennt. Eine solche Bezeichnung aber scheint mir durchaus nicht klar zu sein, denn es fehlt in unserer Gegend überhaupt nicht an Bestien.«

Der gute Mann hatte keineswegs die Absicht gehabt, eine witzige Anspielung zu machen und wunderte sich daher nicht wenig über die lange und geräuschvolle Heiterkeit, welche durch seine Worte erweckt wurde.

»Die Bemerkung des guten Vater Grivet ist durchaus nicht so unbegründet, wie vielleicht mancher glaubt«, sagte der Schreiber des Notars mit gelehrter Miene. »Der richtigen Prozedur zufolge hätten die Stände die Gattung des zu vernichtenden Tieres genauer definieren sollen. Hierin aber lag gerade die Schwierigkeit, denn ich selbst, der ich doch zweimal bei den über diesen Gegenstand angestellten Erörterungen als Protokollant fungiert habe, wäre noch jetzt in großer Verlegenheit, wenn ich sagen sollte, ob der Urheber dieser blutigen Räubereien ein menschliches Wesen oder ein Tier sei.«

»Wie meint Ihr das? Erklärt Euch, Monsieur Florisel!«, rief man von allen Seiten.

Der Schreiber schien sich über den Eindruck, den er hervorgerufen hatte, nicht wenig zu freuen, und betrachtete seine Zuhörer einen nach dem andern mit dreistem Blick.

»Nun so hört an«, begann er nach einer Pause wieder. »Das erste Mal handelte es sich um Guillaume Paturot, den Sohn des Meiers von Combeville. Guillaume, welcher sechzehn Jahre alt war, kam allein mit zehn Talern in der Tasche von dem Jahrmarkt in Mende zurück, als er abends gegen zehn Uhr auf dem Weg durch den Wald von Villaret von der Bestie angefallen worden zu sein scheint. Den nächstfolgenden Frühmorgen fand man den unglücklichen Guillaume halb aufgefressen in einem Hohlweg liegen. Der Stellvertreter des Propstes, welcher die Untersuchung leitete, konstatierte, dass der Körper allerdings Spuren von Klauen und Zähnen an sich trug, aber es stellte sich heraus, dass die Klauen weiter und die Zähne im Gegenteil dichter beisammenstanden, als bei irgendeinem Tier unserer Wälder. Übrigens war auch, obwohl die Kleider des armen Knaben beinahe unversehrt waren, das Geld, welches er bei sich gehabt, verschwunden. Da nun kein mir bekanntes reißendes Tier imstande ist, Drei- und Sechslivrestaler zu fressen, so sage ich, dass die Sache ganz außerordentlich erscheint.«

Die Zuhörer schienen derlben Meinung zu sein. Der Prokurator aber, welcher soeben seine quasi vertrauliche Unterredung mit Madame Richard abgebrochen hatte, um die Erzählung des Schreibers Florisel mit anzuhören, schüttelte verächtlich den Kopf.

»Also das ist Eure Meinung, Ihr leichtgläubiger junger Mensch?«, rief er. »Wenn Ihr einmal in gerichtlichen Angelegenheiten größere Erfahrung haben werdet, so werdet Ihr wissen, dass ein schmutziger Beamter stets die einfachsten und natürlichsten Erklärungen aufsuchen muss, weil sie fast immer wahr sind. So zum Beispiel wäre es wohl in dem vorliegenden Fall unmöglich, dass ein Vorübergehender die Taschen des Toten durchsucht hätte, ehe Ihr zur Stelle kamt? Was mich betrifft, so wollte ich darauf wetten, dass gerade der, welcher die Leiche zuerst entdeckt und darüber bei dem Gericht Anzeige gemacht, diese kluge Vorsicht gebraucht hatte.«

Diese von dem alten Praktiker in Gegenwart so vieler ungesehener Leute erteilte Lektion brachte Meister Florisel ein wenig aus der Fassung, dennoch hob er bald mit Ironie wieder an: »Ihr seid ein gescheiter Mann, Monsieur Blindet, und es ist zu beklagen, dass die Propstei nicht oft zu Euch ihre Zuflucht nimmt, denn Euch würde kein Übeltäter entrinnen, möchte es nun ein zweibeiniger oder ein vierbeiniger sein. Da Ihr aber so viel Scharfsinn besitzt, so erklärt mir doch auch die Ereignisse, welche den Gegenstand der zweiten Untersuchung ausmachten, an welcher ich teilgenommen habe. Diesmal hatte der Herr Gerichtsvoigt von Châteauneuf es übernommen, das Protokoll zu führen. Es handelte sich um ein Kind von vier Jahren, welches seine Mutter, die Meierin von Gabriac, allein in der Wiege liegen gelassen, während sie auf das Feld ging. Die Meierei liegt einsam am Saum des Waldes. Als die Mutter nach einer Abwesenheit von ungefähr einer Stunde wiederkam, fand sie ihr Kind tot und zerrissen einige Schritte vor der Wiege. Das Unbegreiflichste aber bei allem diesem ist, dass sie uns hoch und teuer geschworen hat, sie habe, als sie fortgegangen sei, die Tür des Hauses zugeklinkt, und bei ihrer Rückkehr sei die Tür noch auf dieselbe Weise verschlossen gewesen. Der Herr Gerichtsvoigt hat wohl zwanzigmal dieselbe Frage an sie gerichtet und zwanzigmal dieselbe Antwort erhalten. Wenn es daher ein Wolf ist, der auf diese Weise das Land verwüstet, so muss man zugeben, dass dieser Wolf das kleine Talent besitzt, die Türen öffnen und wieder schließen zu können. Was meint Ihr dazu, Herr Prokurator?«

Die Neugier war unter den Zuhörern auf den höchsten Grad gestiegen und man wendete sich gegen Blindet, um seine Meinungen über dessen rätselhaften Fall zu hören. Der Prokurator selbst kratzte sich unter seiner umfangreichen Hanfperücke hinter dem Ohr.

»Ich möchte nicht gern glauben«, hob er ernsthaft an, »dass ein Wolf Instinkt genug habe, um eine zugeklinkte Tür zu öffnen, obwohl wir alle Hunde und Katzen gesehen haben, welche dieses selbe Manöver ausführen. Ich will daher auch nicht sagen, dass das durch das Geschrei des Kindes angelockte wilde Thier sich an der Wand des Hauses in die Höhe gerichtet und durch seine zufällig auf den Drücker fallendePfote die Tür geöffnet habe. Lieber will ich glauben, dass die Meierin sich geirrt hat und dass sie, um ihren Mangel an Achtsamkeit zu entschuldigen, …«

»Ich sage noch einmal, sie hat uns hoch und teuer geschworen, dass sie sich keine Nachlässigkeit zum Vorwurf zu machen gehabt habe. Doch nehmen wir einmal an, dass sie in der Tat, ohne es selbst zu wissen, die Tür offen gelassen habe. Wie kommt es dann, dass diese Tür bei ihrer Rückkehr richtig und fest zugeklinkt gewesen ist?«

»O, dazu hat es vielleicht bloß eines Windstoßes bedurft!«

»Diese Herren und diese Damen werden darüber urteilen«, sagte der Schreiber, indem er sich zu den Zuhörern wendete, welche in der Tat die Erklärungen des Prokurators nicht zufriedenstellend zu finden schienen. »Was mich betrifft, so beharre ich trotz meines Respektes vor der höheren Einsicht und der überwiegenden Erfahrung des Monsieur Blindet auf meiner Meinung, dass die Bestie des Gévaudan vielleicht nicht das ist, was man glaubt.«

Dies wurde in einem orakelmäßigen Ton gesagt, welcher auf die Zuhörer großen Eindruck machte. Es trat ein augenblickliches Schweigen ein.

»Aber was ist sie nach Eurer Meinung denn, Monsieur Florisel?«, fragte die hübsche Wirtin. »Herr von Laroche-Boisseau versichert, es sei ein Wolf, und er, sollte ich meinen, müsste sich darauf verstehen.«

»Ich habe es sagen hören, er sei ein Luchs – ein Tier, welches durch eine Mauer sehen kann«, sagte der Küfer.

»Und ich, es sei ein aus einer Menagerie in Montpellier entsprungener Löwe«, setzte der Schnittwarenhändler hinzu.

»Ich«, hob der Prokurator mit affektierter Kaltblütigkeit wieder an, »ich möchte lieber glauben, es sei ein Elefant. Der Elefant kann, wie Ihr wisst, mit seinem Rüssel allerlei Kunststückchen ausführen, und auf diese Weise würde es sich erklären, dass das fragliche Tier die Türen öffnet und schließt, wie Monsieur Florisel uns mitgeteilt hat.«

Ein lautes, allgemeines Gelächter folgte auf diese Worte. Nur Madame Richard nahm diesen Scherz von der ernsten Seite.

»Nun, wenn es auch ein Elefant wäre«, sagte sie naiv, »Herr von Laroche-Boisseau, der ein so gewandter Jäger ist, würde auch mit ihm fertig werden, dafür stehe ich Euch.«

Florisel hatte sich mittlerweile über den Spott des Prokurators nicht wenig geärgert und antwortete, indem er sich auf die Lippen biss.

»Es steht einem jeden frei, die stattgehabten Unglücksfälle einem Luchs, einem Löwen oder auch sogar einem Elefanten zuzuschreiben, wie es Monsieur Blindet mit seinem gewohnten Scharfsinn tut. Was mich betrifft, so behaupte ich, und wenn ich auch mit meiner Meinung ganz allein stehen sollte, dass die angebliche Bestie des Gévaudan …«

»Na, zum Donnerwetter, es ist ein Wolf!«, rief eine raue Stimme aus den hintersten Reihen der Gruppe. »Ich weiß es ganz genau, denn ich habe ihn gesehen und zwar erst gestern Abend.«

Dieser neue Teilnehmer an dem Gespräch, ein großer, kräftig gewachsener Landmann, schien in diesem Augenblick aus einem benachbarten Ort anzukommen. In der einen Hand trug er seine Jacke und seine Holzschuhe, in der anderen einen langen Stock, an dessen Ende ein altes Messer befestigt war, sodass dadurch eine plumpe Lanze gebildet wurde. Dicht hinter ihm folgte ein ungeheuer großer Hund mit roter, heraushängender Zunge und einem mit eisernen Stacheln versehenen Halsband, welcher ein sehr zuverlässiger Reisegefährte sein musste.

Florisel, der sich über diese Unterbrechung gerade in dem Augenblick, wo er seine persönlichen Ansichten über die Landplage aussprechen wollte, ärgerte, fragte in verächtlichem Ton, indem er zugleich den Reisenden musterte.

»Ihr habt die Bestie des Gévaudan gesehen? Und wer seid Ihr, Freund, dass Ihr Euch so ohne Weiteres in unsere Unterhaltung einmischt?«

»Entschuldigt, mein werter Herr«, entgegnete der Landmann in uneingeschüchtertem Ton, »ich bin Jean Godart, der Hirte des Fräuleins von Barjac da drüben in Mercoire. Ich bin von meiner Herrin zu dem Herrn Gerichtsvoigt gesendet worden, um die guten Leute von Langogne aufzufordern, dass sie nicht verfehlen mögen, sich zu der morgigen Treibjagd einzustellen, denn es ist wirklich die größte Eile nötig. Gestern gegen Abend, wie ich Euch sagte, hatte sich die Bestie auf Jeannette geworfen, die eben ihre Truthühner nach Hause treiben wollte, und hatte das arme Mädchen schon ein ganzes Stück weit fortgeschleppt, als ich auf ihr Geschrei herbeieilte. Mein Hund hier packte den Wolf sogleich, was außerordentlich ist, denn alle anderen Hunde reißen aus, wenn sie ihn sehen. Medor aber lässt sich nicht gleich bange machen, und wir beide befreiten Jeannette. Sie ist noch jetzt fast von Sinnen vor Furcht, wird aber mit einigen kleinen Risswunden wegkommen.«

Diese so bestimmte Aussage machte den mehr oder weniger zulässigen Voraussetzungen, welche noch vor wenigen Minuten Geltung hatten, sofort ein Ende. Der Schreiber Florisel schien dadurch ganz missgestimmt zu werden.

»Und wisst Ihr gewiss, wisst Ihr ganz gewiss«, hob er wieder an, »dass dieses Tier ein Wolf war?«

»Und ob ich es gewiss weiß!«, entgegnete Jean Godart. »Ich habe ihn so gesehen, wie ich Euch sehe, mein schöner Herr! Ich habe ihm sogar eine Handvoll Haare ausgerauft, während er sich mit meinem wackeren Medor herumbalgte. Jawohl, es ist ein Wolf, aber mit Verlaub so groß wie unser Esel. Er ist grau von Farbe und ich habe auf seinem Fell die Klinge meines Messers stumpfgestoßen, ohne ihm jedoch eine Wunde beibringen zu können. Er trug Jeannette, die doch ein tüchtiges Stück Mädchen ist, fort, wie ich ein zweijähriges Kind forttragen würde, und schleuderte Medor mit einem Ruck seines Kopfes zwanzig Schritte weit von sich. Meiner Treu, ich weiß wirklich nicht, wie die Sache noch abgelaufen wäre, wenn uns nicht die Leute aus dem Gehöft zu Hilfe gekommen wären, was den Wolf bewog, sich in den Wald zurückzuziehen.

Doch ich bitte um Entschuldigung, geehrte Gesellschaft«, hob der Bauer wieder an, »ich muss nun machen, dass ich mich meines Auftrages bei dem Herrn Gerichtsvoigt entledige, denn ich möchte bald wieder zum Schloss zurückkehren. Nach meiner Meinung wird es heute Abend in dem Wald von Mercoire, wo das Tier sich einquartiert hat, nicht recht geheuer sein.«

Nachdem Jean Godart dies gesagt hatte, pfiff er seinem Hund und entfernte sich.

Sein Weggang geschah so eilig, dass er mitten unter dem Geräusch nicht eine neue Stimme hörte, welche mit dem Ausdruck des Entsetzens rief: »Die Bestie ist in dem Wald von Mercoire? Dann schütze uns die Heilige Jungfrau! Und wir sollen diesen Wald passieren, um uns zu Fräulein von Barjac zu begeben?«

Das vorstehende Gespräch hatte in dem Patois des Landes stattgefunden. Diese letztere Bemerkung dagegen war in französischer Sprache erfolgt. Überrascht durch diese Seltsamkeit drehten die Sprechenden sich um und gewahrten erst jetzt zwei Reisende, welche auf Maultieren sitzend sich ohne gesehen zu werden der Gruppe genähert und gehört hatten, was hier gesprochen ward.

Der Erste dieser Reisenden war ein reformierter Benediktiner in der schwarzweißen Tracht seines Ordens. Seine zurückgeschlagene Kapuze ließ sein in Form eines Kranzes geschnittenes Haar und einen intelligenten Kopf sehen, der durch zwei gleichzeitig glänzende und sanfte Augen belebt wurde.

Er war höchstens fünfundvierzig Jahre alt, aber eine beginnende Wohlbeleibtheit – die Folge einer sitzenden Lebensweise und vielleicht auch einer Vorliebe für gute Speisen und Getränke, der Lieblingssünde der damaligen Kirchendiener – rundete seine Formen und tat der vollkommenen Regelmäßigkeit seines blühenden Antlitzes Eintrag. Übrigens verrieten die Feinheit seiner Kleidung, das Geschirr seines Maultieres, der kanonische Luxus seiner ganzen Ausstattung mehr als einen schlichten Mönch, und in der hat war das silberne Kreuz, welches an einem breiten Band auf seiner Brust hing, das Zeichen eines hochgestellten, kirchlichen Würdenträgers.

Sein Begleiter, ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren, schwarz, einfach, aber doch mit einer gewissen Eleganz gekleidet, hatte langes, blondes, zu einen Zopf zusammengebundenes Haar ohne Puder und Frisur, was dem damals herrschenden Gebrauch entgegen war. Er trug keinen Degen, aber der Degen begann damals schon auf nicht mehr hinreichende Weise die Edelleute zu charakterisieren, denn die bescheidensten Beamten glaubten sich berechtigt, dieses Symbol des Adels sich anzumaßen.

Seine Züge waren schön und ausdrucksvoll und seinem Blick fehlte es, wenn er sich belebte, nicht an Dreistigkeit. Schlank und gut gewachsen musste er in allen körperlichen Übungen Vorzügliches leisten.

Dennoch aber schien der Unbekannte diese äußeren Vorzüge selbst nicht zu kennen. Die Zartheit seines Gesichtes führte auf die Vermutung, dass Studien und Nachdenken seine Mußestunden mehr beschäftigt hätten, als die gewohnten Spiele und Vergnügungen der Jugend. Etwas Bescheidenes und Zurückhaltendes erriet in ihm den erst seit Kurzem der Disziplin einer strengen Erziehung entronnenen Jüngling. Aber an gewissen raschen und sozusagen unwillkürlichen Bewegungen, an einem gewissen Runzeln der Stirn, an gewissen festen Intonationen der Stimme erriet man auch den energischen und intelligenten Mann, welcher nicht verfehlen konnte, sich bei der ersten günstigen Gelegenheit zu offenbaren.

Mittlerweile ahmte dieser junge Reiter mit einer Unterwürfigkeit, die ihren Grund ohne Zweifel in langer Gewohnheit hatte, alle Bewegungen des Mönches nach, für welchen er eben so viel Zuneigung als Rücksicht an den Tag legte. Er hatte haltgemacht, als der geistliche Herr haltmachte, und hatte ebenso wie dieser die von Jean Godart nach Langogne gebrachte beunruhigende Neuigkeit mit angehört. Dabei aber schien er die Furcht seines älteren Gefährten keineswegs zu teilen und ein ironisches, aber dabei durchaus nicht etwa verächtliches Lächeln umspielte seine Lippen, die von einem sprießenden Bart beschattet wurden.

Kaum hatten die guten Bürger von Langogne die beiden Reisenden erblickt, als auch Hüte und Mützen sogleich verschwanden wie auf einen Zauberschlag. Ein ehrerbietiges Schweigen herrschte unter der soeben noch geräuschvollen und lebendigen Versammlung.

Die schöne Gastwirtin, Madame Richard, war die Erste, welche ihre Geistesgegenwart wiedergewann.

»Ah, das ist ja der ehrwürdige Pater Bonaventura, der Prior der Abtei von Frontenac«, sagte sie, indem sie den Mönch auf die freundlichste und höflichste Weise begrüßte. »Und auch Monsieur Leonce, der Neffe des hochwürdigen Herrn!« Hier erfolgte eine abermalige Begrüßung, welche der junge Mann errötend zurückgab. »Seid willkommen in unserer Stadt, mein hochwürdiger Vater und schenkt uns euren Segen.«

»Ich gebe ihn Euch, meine Tochter, Euch und allen Christen, die uns hören«, entgegnete der Mönch in zerstreutem Ton. »Aber guter Gott, Madame Richard, habe ich nicht soeben erzählen hören, dadd dieses verwünschte Tier, die Bestie von Gévaudan …«

»Ach, hochwürdiger Herr«, unterbrach ihn die Wirtin in ihrem einschmeichelndsten Ton, »Ihr werdet doch nicht Langogne passieren, ohne einen Augenblick bei mir auszuruhen? Eure Gegenwart wird meinem Haus Glück bringen. Wenn Ihr, wie ich glaube, nach Mercoire wollt, so könnt Ihr es nicht vermeiden, irgendwo unterwegs einzukehren, und hier ist es besser als sonst wo.«

»Ich möchte es allerdings gern, meine Tochter«, antwortete der Pater Bonaventura, »aber Ihr habt soeben gehört, dass wir uns wegen des Weges durch den Wald nicht verspäten dürfen.«

»O, das Schloss werdet Ihr jedenfalls noch vor Einbruch der Nacht erreichen. Steigt daher nur ab und ich werde Euch einen Imbiss vorsetzen, der Euch nicht missfallen wird. Ihr wisst, dass es mir zuweilen gelingt, Euch nach eurem Geschmack zu bedienen.«

Der Prior schien sich gewaltig versucht zu fühlen.

»Ja, ja, Ihr seid unnachahmlich, das gebe ich zu, besonders, was Tauben mit Champignons und Eierkuchen mit Forellen betrifft, meine werte Frau. Aber jetzt ist nicht der geeignete Augenblick, uns einem vielleicht tadelnswerten sinnlichen Genuss hinzugeben. Was sagst du dazu, Leonce?«, fragte er, sich zu seinem Neffen wendend. »Sollen wir bei Madame Richard absteigen?«

»Ich flehe zu Befehl, mein Onkel«, entgegnete Leonce bescheiden. »Wir reiten nun schon über vier Stunden in dem Gebirge und Ihr habt in der Abtei ein nur sehr unbedeutendes Frühstück zu Euch genommen. Ihr müsst notwendig Nahrung und Ruhe bedürfen. Andererseits könnte auch unseren Maultieren eine kurze Rast nicht schaden.«

»Nun gut, so sei es«, hob der Prior wieder an, dessen Appetit heimlich gegen die Einflüsterungen der Furcht kämpfte. »Wir wollen hier einen Augenblick haltmachen. Hört Ihr wohl, Madame Richard? Nur einen Augenblick. Deshalb lasst uns nicht lange schmachten – die geringste Kleinigkeit wird hinreichen, unsere erschöpften Kräfte wieder zu beleben. Es ist sehr zu beklagen, dass wir auf diese Weise die Sklaven unseres erbärmlichen Körpers sind.«

Die schöne Wirtin warf auf die Umstehenden einen Blick des Stolzes und der Freude.

»Verlasst Euch auf mich, hochwürdiger Herr«, rief sie. »Welches Glück für mein Haus! Kommt, kommt! Alles ist bereit. Dank sei dem Himmel, man überrascht mich, was meinen Keller und meine Küche betrifft, nicht so leicht.«

Sie ergriff den Zügel des Maultieres, auf welchem der Prior saß, und führte es triumphierend in die Herberge hinein, während Leonce mit gleichgültiger Miene folgte.

»Hm!«, sagte der Prokurator in seinem gewöhnlichen spöttischen Ton, »ich beklage die armen Teufel, welche binnen hier und vierundzwanzig Stunden bei der Witwe Richard einkehren. Sie werden weiter nichts zu essen bekommen als die Erzählung von den Heldentaten des guten Paters.«

Niemand aber hatte diese Bemerkung des satirischen Blindet gehört.

Sobald die Neugierigen die Reisenden im Inneren der Herberge hatten verschwinden sehen, zerstreuten sie sich, um überall zu verkünden, dass der Prior von Frontenac soeben in Langogne angekommen war, dass er mit seinem Neffen bei der Witwe Richard abgestiegen sei, dass sie sich beide zum Schloss Mercoire begeben würden. Auf diese Angaben hin baute man in der kleinen Stadt eine Menge unabsehbare Vermuthungen, mit welchen wir aber den Leser verschonen wollen.