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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Freibeuter – Alte Bekannte

Der-Freibeuter-Dritter-TeilDer Freibeuter
Dritter Teil
Kapitel 13

An der westlichen Küste der Insel Seeland liegt unweit blühender Dörfer ein hohes, stattliches Gebäude von altertümlichem Ansehen. Es hat das Äußere eines Klosters aus den Zeiten der Kreuzzüge. Seine stufigen Giebeldächer, seine zackigen Spitzsäulen, seine gotischen Bögen und Verzierungen an den gewölbten Pforten und tiefen Fenstern, belehren den Wanderer bei näherer Besichtigung bald, dass ihn seine, vom ersten Anblick dieses Hauses hervorgerufene Vermutung nicht getäuscht hat. Er gewahrt noch das alte geschweifte Pförtlein in der hohen Mauer mit dem Glockenzug, er betrachtet mit Ehrfurcht die Basreliefs der Heiligenbilder zu beiden Seiten der Pforte, an welchen die Stürme der Zeit, freilich nicht ohne Spuren ihres Daseins hinterlassen zu haben, vorübergebraust sind. Im Hof wiederholen sich die teils gut, teils schlecht erhaltenen Gebilde der Gottesmutter und ihres Sohnes, der Heiligen in verschiedener Gruppierung. Zur Rechten sah man an dem unregelmäßig gebauten linken Flügel des Gebäudes die hohen Fenster, aus buntgemalten, runden Scheiben, Sternen usw. bestehend, der Kirche, während auf dem kleinen, aber hohen rechten Flügel und im Hauptgebäude mehrere Reihen Zellen neben- und übereinander hinliefen. Es war dies das alte St. Clarenkloster, einst von einer frommen Königin Dänemarks gestiftet, nach der Einführung der lutherischen Lehre in Dänemark, aber von der Gemahlin Christians des Vierten in ein Stift für unverheiratete adlige Damen verwandelt und reich dotiert. Die Gegend, in welcher das Stift lag, war keineswegs so einsam, wie sie wegen Mangel an Städten und Verkehr hätte scheinen können; denn nur eine kleine Strecke vom Kloster entfernt war eine stark frequentierte Überfahrt nach Fünen über den großen Belt, der hier, zwischen den beiden Inseln hindurch, seine schäumenden Wasser drängt. Alle Reisenden, die aus Schleswig und Jütland, zum Teil auch aus Holstein nach Kopenhagen, oder von da dorthin zurückgingen, passierten die Straße am Kloster vorüber zu den Schifferhütten, welche am Ufer in beträchtlicher Anzahl angebaut waren, um sich hinüberfahren zu lassen. Dadurch kamen viel Leben und Bewegung in die Umgegend, und es war gar nichts Seltenes, dass Reisende im Stift vorsprachen, um Verwandte, Bekannte und Freundinnen unter den Stiftsdamen aufzusuchen. Auch saßen diese an schönen Tagen meist auf dem eigens dazu hoch über die Mauer hinausgebauten Altan im Klostergarten und musterten mit Blick und Wort die vorüberziehenden Fremden.

Vier Jahre nach den zuletzt erzählten Begebenheiten schritt eines Frühlingstages in der Mittagsstunde ein rüstiger Mann auf der Straße von Kopenhagen her. Ein dichter Bart hatte sich ihm um Kinn und Lippen gekraust, ein französischer Strohhut schützte ihn vor der Sonne, aber nichtsdestoweniger war sein schönes Gesicht braun gebrannt. Seine einfache Kleidung zeigte einen Seemann an, obgleich er, bis auf die feine, um seine Hüften gebundene Schärpe, kein Abzeichen eines Seeoffiziers weiter trug. Als er in die Nähe des Klosters kam, mäßigte er seine Schritte und betrachtete zuweilen sogar mit Aufmerksamkeit das Äußere des Gebäudes, die Mauer des Gartens und die Umgebung. Je näher er kam, desto langsamer ging er. Es war, als zaudere sein Fuß gerade am Ziel, als scheue er sich, die Hand nach dem Kleinode auszustrecken, nach dessen Besitz er über Meere und Länder geeilt war, als bange ihm nun vor dem Augenblick, den er sich als Inbegriff höchster Erdenseligkeit geträumt hatte. Sinnend blieb er stehen, beide Hände auf den Reisestab gestützt, den er trug, und nur das lebendige Auge eilte von Giebel zu Giebel, von Fenster zu Fenster. Und doch schien es, als nehme er nicht sowohl Anteil an dem Klostergebäude selbst, als beschäftige sich vielmehr sein inneres Auge mit anderen Bildern, die, aus der Vergangenheit hervortretend, ihn mit der Hoffnung erfüllten, lang vergangene Freuden noch einmal zu genießen.

Endlich trat er an die Pforte, aber er zog nicht an der Glocke, vielmehr schweifte sein Auge die Straße weiter entlang bis zu den Schifferhütten der Überfahrt, und weiter hin über den Belt, und suchte am hohen Horizont die ferne, in Nebel gehüllte Insel Fünen. Es blieb demnach zweifelhaft, ob das Stift wirklich das Reiseziel des Wanderers war, oder aber, ob er, nur von einer flüchtigen Laune zu der Pforte hingezogen, seinen Stab späterhin noch weiter zu setzen gewillt war. Er lag im Kampf mit sich selbst und versank in tiefes Nachdenken. Sicherlich würde er noch lange darin verweilt und zur Öffnung der Pforte wahrscheinlich gar keine Anstalt gemacht haben, sondern nach einiger Zeit weiter des Wegs gezogen sein, wenn nicht plötzlich die Tür von innen geöffnet worden und eine freundliche Mädchengestalt herausgetreten wäre.

»Was steht Ihr hier, Mann?«, fragte die Jung­frau, mehr in schwedischer als dänischer Mundart. »Wollt Ihr zu einer der Stiftsdamen oder habt Ihr ein anderes Begehr?«

Der Klang dieser Stimme kam dem Wanderer bekannt vor. Er suchte und fand mit scharfem Blick auch in dem Gesicht der Fragerin Züge, deren er sich erinnern zu müssen glaubte. Aber er konnte nicht damit fertig werden und antwortete: »Wohnt hier ein Fräulein aus Kopenhagen, namens Friederike von Gabel?«

»Jesus Christus! Ihr seid es ja, Herr Kapitän Norcroß!«, rief das Mädchen und schlug die Hände zusammen. »Kennt Ihr mich denn nicht mehr, gnädiger Herr?«

»Ich habe dich wohl schon gesehen, dich auch reden hören, aber doch weiß ich nicht, wer du bist.«

»Ei, denkt nur an Euer Gefängnis auf dem Stockbau in Stockholm, an Euren alten Kerkermeister und dessen Tochter.«

»Ach, du bist Jane, das arme Kind. Wie aber, um des Himmels willen, kommst du aus Stockholm hier in diesen Winkel der Insel Seeland?«

»Ei, hat Euch denn Eure Frau nichts von mir erzählt?«

»Doch, doch, liebes Kind! Wie war es doch? Du kamst zu ihr, nachdem ich entflohen war, und sie behielt dich einige Zeit bei sich.«

»Ei freilich! Mein Vater hatte mich ja fortgejagt und mir streng befohlen, ich solle ihm nicht wieder vor die Augen kommen. Da fiel mir in meiner Herzensangst nichts weiter ein, als zu Eurer Frau zu laufen und sie um Hilfe anzuflehen. Da erfuhr ich denn auch, wer eigentlich Juel war und weshalb er sich in unser Haus gedrängt hatte, der Schelm! Aber lieb hatte er mich doch und ich bin ihm auch treu geblieben. Nun seht, als ich einige Zeit bei Eurer Frau gedient hatte, da kam ein vornehmes Fräulein aus Kopenhagen nach Stockholm – sie hatte wohl mancherlei da zu beschicken – sie zu besuchen und kennenzulernen. Eure Frau kannte sie schon dem Namen nach, denn es war das Fräulein von Gabel. Sie wurden recht gute Freundinnen. Aber was erzähle ich Euch bekannte Dinge? Eure Frau hat Euch gewiss das alles umständlicher mitgeteilt, als ich es zu tun vermag.«

»Ja, ich weiß es, liebe Jane. Das Fräulein blieb drei Wochen in Stockholm.«

»Und als sie abreiste, nahm sie mich mit sich, als ihre Dienerin; denn sie hatte großes Wohlgefallen an mir gefunden und wollte nicht, dass ich Euretwillen Übels leiden sollte. Ihr gingt auch gern mit ihr und hatte sie lieb. Was hatte ich denn auch in Stockholm zu verlieren? Juel war fort, und ich dachte mir, dass er niemals mehr nach Schweden reisen werde. Es hat mich nicht gereut, denn ich habe es gut bei dem Fräulein. Nach Jahr und Tag, als ihr Vater, der Herr Vizestatthalter, gestorben war, trat das Fräulein hier in den Stift als Ordensdame und nahm mich mit sich. Seht, Herr Kapitän, so bin ich hierher gekommen.«

»Und wie befindet sich das Fräulein?«, fragte Norcroß mit zitternder Stimme.

»Sie lebt still und zurückgezogen. Nur zu gewissen Zeiten, meist alle vier Wochen, hat sie ihren bösen Tag, da ist sie gerade wie toll. Entweder schließt sie sich den ganzen Tag in ihr Zimmer ein, aber dann hört man sie laut schreien und toben, sie wirft Tische und Stühle umher und schlägt um sich, als habe sie es mit dem bösen Feind zu tun und wolle sich denselben vom Leib abhalten, oder sie läuft am Ufer des Belts auf und ab, und niemand darf ihr in den Weg kommen, sonst traktiert sie die Leute mit Prügeln, die, weil das Fräulein gar stark ist, eben keinem gut schmecken. In diesem wahnwitzigen Zustand hört man sie oft Euren Namen rufen.«

»Meinen Namen?«, sprach Norcroß erschrocken, und als das Mädchen bejahend nickte, fuhr er mit gefalteten Händen fort: »Dass sich Gott ihrer und meiner erbarme! Das ist es, was mich mit Geisterstimmen hierher ruft, was mich mit unsichtbaren, aber furchtbar starken Ketten hierher zieht.«

»Die übrigen Tage«, fuhr June fort, »ist sie ganz vernünftig, unterhält sich mit den anderen Stiftsdamen, arbeitet und erzählt mir aus ihrem Leben; und da spricht sie gar gern von Euch, Herr Kapitän.«

»O Gott!«, seufzte Norcroß.

»Nun, kommt nur herein. Die Damen sind eben noch bei Tisch. Ich will Euch auf ihr Zimmer führen und ihr eine heimliche Freude machen.« Mit diesen Worten zog Jane den Kapitän durch die Pforte und den Hof, die Treppe hinauf über eine Galerie hin und endlich in ein einfach-schönes Zimmer. Das Erste, was Norcroß erblickte, waren seine Kleider, welche er der Madame Kragenlund, der gefälligen Kaffeewirtin im Wagen gelassen hatte, als er in dem von ihr erhaltenen Anzug floh. Er verwunderte sich nicht wenig, wie diese Kleider, ein Schlafrock, eine Schärpe, ein Paar Matrosenbeinkleider, in das Zimmer einer Stiftsdame kamen, und doch trieb ihr Anblick ihm das Blut in größeren Wellen nach dem Herzen. Mit einem bänglichen Gefühl setzte er sich nieder. Jane war schon fort, ihrer Herrin den Besuch eines Fremden zu melden. Nicht lange darauf rauschte es draußen auf der Galerie, die Tür ging auf, und Friederike trat herein. Es war noch ihre hohe herrliche Gestalt, aber der Reiz der Jugend war aus ihren tiefgefurchten Zügen gewichen, die hehre Glut ihrer Augen war ein düsteres Feuer geworden.

»Norcroß!«, rief sie im Ton des Vorwurfs. Was hier in dieser abgeschiedenen Klause? Treibt Euch Euer böser Geist hierher?«

»Ich weiß nicht, ob mein böser oder guter«, versetzte er, »aber ein mächtiger Geist ist es, der mich in Ihre Nähe treibt, mein Fräulein, und dem ich unmöglich zu widerstehen vermag. Er lässt mir nicht Ruhe, nicht Rast, nicht Frieden, nicht Heiterkeit, er peitscht mich über Land und Meer, und wo irgendein stilles Glück mir blühen könnte, da jagt er mich von dannen und treibt mich in Not und Elend.«

»Armer Freund!«, seufzte Friederike.

»Nur in Ihrer Nähe verlässt er mich, nur wenn ich Ihre Augen sehe, ist mir wohl, und die Genien der Ruhe ziehen in meine Brust ein. Und dass es so sei und auch so sein müsse, habe ich stets geahnt und immer hat und eine Stimme zugeflüstert: Geh’ zu ihr! Nur bei ihr kannst du ruhig und glücklich werden. Und da habe ich denn länger das Leben nicht ertragen können, von Ihnen getrennt, und ich bin gekommen, Sie wie eine Heilige anzuflehen. Erlauben Sie mir, dass ich von Zeit zu Zeit von Kopenhagen herüber zu Ihnen kommen und ein paar Stunden in Ihrer Nähe zubringen darf. Ich bitte Sie um diese Gnade, wie ein bis auf den Tod hungriger Bettler um ein Stückchen Brot. Mein Leben hängt von Ihrer Gewährung meiner Bitte ab. Ich kann, ich kann nicht fern von Ihnen leben. Das Licht muss erlöschen, wenn es nicht dann und wann Öl aus Ihren Blicken, aus den lebendigen Worten ihres Mundes saugt, womit es seine Flamme nähre. Wollen Sie nun einen fremden Mann, der sein Leben von Ihnen erfleht, unerhört zurückweisen? Nein, das vermögen Sie nicht! Geschweige denn mich, Ihren Freund, Ihren Geliebten!«

»Schweigt, Norcroß!«, rief Friederike mit abgewendetem Gesicht. »Woran wagt Ihr mich zu erinnern? Aber sagt, was wollt Ihr in Kopenhagen? Euer Name ist dort verhasst, gebrandmarkt. Wollt Ihr Euch dem Beil des Henkers, dem Ihr in Schweden entgangen seid, leichtsinnig in Dänemark überliefern?«

»Niemand unter Ihnen weiß Bestimmtes über jenen Plan, der mir hier Verderben bringen könnte. Wenn auch damals manches davon in Dänemark verlautet ist, so ist man doch nirgends auf den rechten Grund gekommen und ich kann es überall dreist leugnen. Auch sind ja schon fast sechs Jahre verstrichen. Die Verhältnisse haben sich sehr geändert, sodass niemand mehr an jenen fabelhaften Plan denkt.«

»Ihr scheint Euch die Sache leichter vorzustellen, als sie mir vorkommt. Indessen angenommen, der beabsichtigte Prinzenraub wäre vergessen, was wollt Ihr in Dänemark?«

»Mein eigentlicher Zweck ist, in Ihrer Nähe zu sein, mein Nebenzweck, dänische Dienste zu nehmen, um mein und der meinen Leben fristen zu können; denn ich bin arm geworden und muss auf Erwerb denken.«

»Seid Ihr aber auch dessen so gewiss, dass Ihr dänische Dienste erhalten werdet?«

»Ich werde dem König einen großen Plan vorlegen, dessen Ausführung mich in Gunst und Brot und Ihre Nähe bringen wird.«

»Darf man diesen Plan erfahren?«

»Sobald ich zu dessen Ausführung eile. Verzeihen Sie mir, nicht eher.«

»Ich ehre Euer Schweigen. Wo leben jetzt Eure Frau und Euer Kind?«

»In Paris bei dem Herzog von Ormund, der, aus England vertrieben, in Frankreichs Hauptstadt sich aufhält.«

»Wie, war die Tochter des Herzogs von Ormund nicht Eure Geliebte, wie Ihr einmal erzähltet?«

»Die reizende Henrika war meine Geliebte und ist jetzt der Schutzgeist meines armen, verlassenen Weibes, meines halbverwaisten Kindes. Der Himmel segne sie dafür, wie sie es verdient!«

»Norcroß, ich werde Euch nicht anders zu mir zu kommen erlauben, als in Gesellschaft Eurer Frau. Habt Ihr also gewisse Aussichten auf Anstellung in Kopenhagen, und wünscht Ihr mich dann zuweilen zu sehen, wohlan, so lasst Eure Frau kommen. Sie ist meine Freundin geworden, als ich sie bei meiner, durch Familienangelegenheiten notwendig gewordenen Anwesenheit in Stockholm besuchte. Sie soll die Prinzessin Henrika von Ormund nicht hier vermissen. Schreibt ihr das.«

»Sie wird mit Freuden in Ihre wohltuende Nähe eilen, mein Fräulein; denn sie teilt die hohe und innige Achtung, die ich für Sie hege.«

»Sie ist ein treffliches Weib, und ich liebe sie sehr. Ihre reine, anspruchslose Seele hat niemals die Grenzen der Weiblichkeit um ein Haarbreit überschritten. Wollte Gott, ich könnte dies von mir auch sagen!« Sie strich sich mit der Hand über die Stirn, als wollte sie dort düstere Gedanken wegstreichen. Dann fuhr sie plötzlich, wie sich selbst bezwingend, fort: »Aber so erzählt mir doch etwas von Euren Schicksalen! Bis zu Eurer Flucht aus dem Gefängnis in Stockholm habe ich dieselben teils durch Eure Frau, teils durch meine Jane erfahren. Teilt mir mit, wie es Euch von jener Zeit an bis diese Stunde ergangen ist.«

»Ach, ich bin weit umher gewesen in diesen vier Jahren, das Glück – das heißt Ehre und Reichtum – hat mir mehrmals gelächelt, aber nicht Ruhe. Und was ist Glück ohne Ruhe? Sonnenglut ohne kühlenden Schatten? Ruhe nur finde ich bei Ihnen, und in Ihrer Nähe wird mir das schönste Glück erblühen.«

»Erzählen Sie!«, unterbrach Friederike seine Expektorationen unwillig.