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Die Totenhand – Teil 60

Die-TotenhandDumas-Le Prince
Die Totenhand

Fortsetzung von Der Graf von Monte Christo von Alexander Dumas
Dritter Band
Kapitel 20 – Der 27. September

Benedetto wurde nach La Force gebracht.

Sobald er in die Register eingetragen war, fiel es leicht, in ihm jenen Menschen zu erkennen, der aus dem Gefängnis entsprungen war, nachdem er den Schließer ermordet hatte.

Nachdem die Geschworenen seine Verbrechen erwogen hatten, konnten sie sich nicht enthalten, die Todesstrafe gegen ihn auszusprechen.

Nach acht Monaten des Gefängnisses wurde Benedetto zum Tode verurteilt.

Man las ihm das Urteil in eben dem Gefängnis vor, in welchem er den Schließer ermordet hatte, und er hörte die Vorlesung mit jener Kaltblütigkeit, jener unerhörten Gleichgiltigkeit an, welche ihn seit einer gewissen Zeit charakterisierten.

Diese unverkennbare Gleichgiltigkeit wurde nicht durch die Vertiefung seines Geistes bewirkt, wie dies gewöhnlich bei den Menschen geschieht, welche nach einer langen Reihe von Verbrechen das Blutgerüst errichten sehen, auf dem sie im Angesicht der durch sie beleidigten Menschheit diese Verbrechen sühnen sollen. Der Zustand, in dem Benedetto sich befand, war vielmehr der einer vollständigen Resignation gegenüber den Bestimmungen jenes allmächtigen Gottes, den er angerufen hatte, um von ihm zu erfahren, ob er den übermütigen Menschen bestrafen sollte, der die ihm anvertraute Macht missbraucht hatte.

Am Tag vor dem zu der Hinrichtung bestimmten, wurde Benedetto in das Oratorium geführt. Er zeigte Frömmigkeit und Gottesfurcht bei den religiösen Übungen, welche der öffentlichen Hinrichtung durch die hohe Gerichtsbarkeit vorangehen.

Der Beichtvater hörte ihn voll Teilnahme an. Man erkannte an seinem gerührten Blicke die Wirkung, welche die Worte des Verurteilten auf ihn machten.

»Mein Vater«, sagte Benedetto, indem er das Zeichen des Kreuzes machte, »ich glaube an Gott. Ich glaube an seine Gerechtigkeit, und nie habe ich den Gedanken gehabt, ihn tadeln zu wollen. Geboren aus dem Verbrechen, getauft mit Blut und Tränen, konnte mein Ende kein anderes sein als das Blutgerüst. Ehe ich an Gott glaubte, wie ich es jetzt tue, fühlte ich in meiner Brust die ganze Galle, welche die Verzweiflung in dem Busen eines Menschen hervorrufen kann! Die Verzweiflung, welche nicht bloß ein alltägliches nichtssagendes Wort ist, sondern jene Verzweiflung, die zu der Hölle auf Erden wird! Ohne anerzogene Grundsätze ließ ich mich durch schlechte Gesellschaft so weit verleiten, den Mann, der mich aus Barmherzigkeit aufgenommen hatte, zu beschimpfen und zur Belohnung seiner Wohltat sein Haus in Brand zu stecken und seine Schwester zu ermorden. Seit jenem Tag gab es für mich in dieser Welt kein gastliches Dach mehr. Kein befreundeter Blick senkte sich mehr auf mich herab!

»Ich war in dieser Welt verflucht!«

Nach einer kurzen Pause fuhr Benedetto fort: »Ich eilte nun von Ausschweifung zu Ausschweifung, von Verbrechen zu Verbrechen!

»Ich schloss mich den nichtswürdigsten Menschen an und teilte mit ihnen bei abscheulichen Orgien die Früchte des Raubes und des Mordes!

»Ich hegte in jener Zeit nicht ein einziges edleres Gefühl. Mein geringster Gedanke war eine Nichtswürdigkeit, eine Gotteslästerung. Ich vollbrachte nicht die geringste Handlung, die nicht ein entsetzliches Verbrechen war! Und was hatte ich für Neigungen des Herzens? Verwerfliche Verbindungen mit den gemeinsten und den unzüchtigsten Weibern! Da konnte es denn nicht lange dauern, bis ich der Gerechtigkeit in die Hände fiel, und einige Monate schleppte ich die Kette des Galeerenzüchtlings.

Während ich meine Strafe erduldete, ergebungsvoll, und – wer weiß – mich vielleicht allmählich durch das arbeitsame Leben von meiner Trägheit und meinen abscheulichen Lastern bessernd, erschien ein Mensch, um mich zu retten. Dieser Mensch hatte Mitleid mit dem Zustand, in welchem ich mich befand, und wollte durch die großmütige Handlung, die er gegen mich ausübte, mir edlere Gesinnungen einflößen. Er gab mir eine Feile, um damit meine Ketten zu durchschneiden, gab mir Geld und bezeichnete mir seine Wohnung.

Einen Monat darauf bemerkte ich, dass dieser Mensch keine andere Absicht hatte, als ein Ziel, dem er nachstrebte, zu erreichen, und dass er sich meiner als seines Werkzeuges zu einem Possenspiel bediente, in welchem ich die Hauptrolle spielte.

Da lachte ich über meinen unbefangenen Glauben. Wie hatte ich vermuten können, dass ein Mensch dem Elend gegenüber großmütige Gesinnungen hegen könnte? Ich wurde wieder, was ich gewesen war, mit dem Unterschied jedoch, dass ich in der menschlichen Gesellschaft meinen Stand geändert hatte, indem ich mich, statt einfach der Bandit Benedetto zu bleiben, Fürst Andreas Cavalcanti nannte.

Das war die Rolle, welche jener Mensch mir in seinem Possenspiel übertrug.

Diese Rolle nahm ein Ende, und ich stieg die Stufen wieder zu meinem früheren Stand hinab, ebenso boshaft wie zuvor, aber gewandter durch die Lehren der Heuchelei, die ich von dem Grafen von Monte Christo, meinem falschen Beschützer, empfangen hatte.

Eines Tages machte ich mitten auf dem Pfad der Verbrechen, den ich verfolgte, Halt. Die Erscheinung meines Vaters, eines armen, unglücklichen und beinahe wahnsinnigen Greises, rührte mich. Ich leistete den Schwur, ihn zu rächen, und dachte nun sehr ernst über die Menschen und über die göttlichen Dinge nach.

Ich glaubte an Gott! Ich erkannte, dass ich seit einer gewissen Zeit das Werkzeug sei, dessen er sich bediente, um die Schlechten zu bestrafen. Ich tötete und beraubte erbarmungslos alle die, von denen ich wusste, dass sie die gleichen Verbrechen begangen hatten. Um auf diesem neuen Weg vorwärtszukommen, bedurfte ich des Geldes, und ich bemächtigte mich der Schmucksachen, welche die Leichen meiner väterlichen Familie an sich hatten, und ich fand keinen einzigen Augenblick der Ruhe, bis ich an das mir selbst gesteckte Ziel angelangt war.

Ich blickte um mich und sah die Boshaften, die Fälscher, die Strafe ihrer Verbrechen sowie die Tugendhaften den Lohn ihrer Handlungen empfangen, und folglich wundere ich mich keineswegs, dass jetzt das Blutgerüst für mich aufgerichtet wird! Erteilen Sie mir Ihren Segen und dann beten Sie für mich!«

Indem Benedetto diese Worte sprach, kniete er zu den Füßen des Priesters nieder, und dieser erflehte die göttliche Barmherzigkeit für die Seele des Bußfertigen.

»Welchen Tag haben wir heute?«, fragte Benedetto.

»Den 27. September, mein Sohn.«

»Den 27. September«, wiederholte Benedetto mit ruhiger Stimme und finsterem Lächeln. »Da steht das Blutgerüst, um den Tag meiner Geburt zu feiern!«

»Verzeihst du deinen Eltern die Verlassenheit, der sie dich seit deiner Geburt überlieferten? Verzeihst du deinem Vater das Verbrechen des Kindesmordes?«, fragte der Priester.

»Schon seit langer Zeit habe ich ihnen alles verziehen!«, entgegnete Benedetto.

»Gut, mein Sohn. Gott sei für immerdar mit dir!«

Sobald die Sonne in die finsteren Höfe von La Force hinabdrang, öffnete sich die Tür des Oratoriums und ein Kommando Soldaten nahm den Verurteilten in Empfang, um ihn zu dem Gemach des Scharfrichters zu führen, damit dieser ihm die Haare abschneide und ihn mit dem Gewand der Verurteilten bekleide.

Nach diesen Vorbereitungen bestieg Benedetto den verhängnisvollen Karren. Der Scharfrichter nahm seinen Pltz ein und gab das Zeichen zu der traurigen Fahrt.

Eine Schwadron Kavallerie eskortierte den Karren bis zu dem Schafott, um welches das dichtgedrängte Volk voll Neugier wartete.

Benedetto empfing den letzten Segen des Beichtvaters und wies sanft die Binde zurück, welche der Scharfrichter ihm reichte, indem er an ihn die zwei gebräuchlichen Fragen richtete.

»Wünschen Sie noch etwas zu essen oder zu trinken?«

»Nein!«

»Verzeihen Sie mir die Handlung, die ich an Ihnen begehen werde?«

»Ja!«

»Nehmen Sie doch die Binde, der Augenblick naht.«

»Lassen Sie mich einen einzigen Augenblick die mich umgebende Menge sehen!« sagte Benedetto. »Ich will trachten, ein befreundetes Gesicht zu erkennen.«

Und Benedetto richtete sich auf dem Schafott hoch in die Höhe, um mit begierigen Blicken auf die Menschenmenge hinabzublicken, die ihn umringte.

Mit scharfem Auge musterte er alle die Gesichter, welche ihm nahe waren, dann aber nach einer anderen Richtung sehend, stieß er einen Schrei der Überraschung aus.

Er hatte in einem Wagen, der wegen des dichten Gedränges nur mit Mühe über den Platz fahren konnte, eine Frau erblickt, welche das Gewand der barmherzigen Schwestern trug und eine andere kranke Frau zu begleiten schien.

»Mein Vater«, sagte er zu dem Geistlichen, »mein letzter Wunsch wäre, mit der barmherzigen Schwester zu sprechen, welche dort in jenem Wagen über den Platz fährt. Gehen Sie zu ihr und sagen Sie ihr, dass sie um der Liebe Gottes willen zu mir kommen möge.«

Der Pater stieg sogleich die Stufen des Blutgerüstes hinab, um den Wunsch des Verurteilten zu erfüllen, und die demütige barmherzige Schwester zögerte nicht, der Aufforderung zu genügen.

In dem Grad, wie sie sich näherte, änderte sich der Ausdruck in dem Gesicht Benedettos auf eine auffallende Weise. Er presste mehrmals die Hand auf die Augen, als wollte er unwillkürliche Tränen zurückdrängen.

Die barmherzige Schwester erstieg die Stufen des Blutgerüstes und trat zu dem Verurteilten.

»Mein Gott!«, rief sie plötzlich, indem sie wie vor einem entsetzlichen Anblick zurückwich.

Benedetto ergriff sanft ihre Hand, zog sie an seine Lippen und küsste sie, indem er so leise, dass er nur von ihr allein verstanden werden konnte, flüsterte: »Mut! Ich wollte Ihnen durch eine Ihrer Schwestern mein letztes Lebewohl senden, aber der Ewige gab, dass Sie selbst kommen mussten, es zu empfangen.«

»Jesus! Jesus!«, rief die arme Schwester verzweiflungsvoll und sank in die Knie.

Benedetto eilte rasch zu dem Block, legte seinen Kopf auf denselben und rief dem Scharfrichter zu: »Rasch! Ohne Mitleid!«

»O nein! Nein!«, schrie die barmherzige Schwester, indem sie sich bleich und zitternd erhob, um vor dem Scharfrichter aufs Neue niederzuknien.

»Es ist heute der 27. September!«, sagte Benedetto.

Dies waren seine letzten Worte. Kaum hatte er sie ausgesprochen, als das Eisen der Guillotine ihm den Kopf vom Rumpf trennte.

Die barmherzige Schwester stürzte wie vom Blitz getroffen neben der Leiche nieder, indem sie schrie: »Mein Sohn!«

Wenige Tage darauf hatte diese arme Mutter ebenfalls zu leben aufgehört.

 

***

 

Einen Monat nach dem soeben geschilderten Ereignis trug sich, eine Stunde von Marseille entfernt, ein anderes nicht minder ergreifendes und wichtiges zu.

Wenn wir unsere Blicke zu der Seite der Felsen wenden, auf denen sich das Dorf des Kataloniers erhob, gewahren wir ganz nahe dem kleinen einfachen Häuschen, in welchem Mercedes wohnte, eine kleine Kapelle, deren einzige Tür beinahe immer geschlossen war und sich kaum des Sonntags und an den Festtagen nachmittags für eine halbe Stunde öffnete.

Diese kleine Kapelle und das Häuschen daneben waren damals sozusagen die Probe der Gebäude, welche jetzt dort stehen und diese Felsen wie einen Vorposten der Stadt bevölkern.

Albert Mondego und Mercedes bewohnten noch das kleine Haus, welches von dem ehemaligen Dorf der Katalonier übrig geblieben war. Albert hatte aus der Hand desselben Priesters, der früher der Dolmetscher von dem Willen Benedettos bei ihm gewesen war, auch die neue Gabe empfangen, die dieser ihm zukommen ließ. Mit jenem kleinen Vermögen begann er den Handel, der schon lange sein Wunsch gewesen war.

Der Name Benedettos war für Albert und seine Mutter in dem stillen, glücklichen Leben, welches sie führten, der Gegenstand täglicher Segenswünsche.

Mercedes betete täglich für den aufrichtigen Freund ihres Sohnes, für den uneigennützigen Wohltäter, für den unparteiischen Richter, der Mitleid mit ihrem Elend gehabt und ihr Erleichterung verschafft hatte.

Indes war Mercedes seit dem Tod ihres Gatten die Beute eines nagenden Kummers, der sie langsam dem Grab entgegenführte.

Albert, den die physische Erschöpfung seiner armen Mutter beunruhigte, hatte schon die beiden besten Ärzte Marseilles um Rat gefragt, und nach einigen Monaten waren beide der Ansicht, Mercedes würde erliegen, wenn sie von einer Luftröhrenentzündung befallen werden sollte, was sie sehr stark befürchteten, da ein schleichendes Fieber sie aufrieb. Albert musste auch noch diesen verhängnisvollen Schlag ertragen. Er brachte seine ganzen Tage an der Seite seiner armen Mutter zu, lauschte auf ihre freundlichen Worte und fing ihre letzten zärtlichen Blicke auf, die sich bald verschleiern und endlich ganz verschwinden sollten wie der Glanz der Sterne vor den Strahlen der aufgehenden Sonne.

Mercedes’ ruhiges Gesicht sprach die innigste Ergebung und Fassung aus.

Je mehr der verhängnisvolle Augenblick herankam, desto ruhiger schien sie zu werden. So zeigte sich deutlich die Reinheit ihrer unschuldigen Seele.

Der Ruhm des Himmels beleuchtete nach und nach ihr ganzes Wesen. Sie schien schon jetzt dieser Welt nicht mehr anzugehören, und man hätte sie gegen Abend für einen Engel des Friedens halten können, der herabgestiegen wäre, um sich neben Albert zu setzen, und ihm das christliche Wort » Ewigkeit« zuzuraunen.

Mercedes schien den Fieberwahnsinn zu fürchten. Sie flehte zu Gott, ihr den vollen Gebrauch ihrer geistigen Kraft bis zu ihrer letzten Stunde zu bewahren, um sterbend ihrem Sohn das letzte Lebewohl sagen zu können.

In einer Nacht fühlte Mercedes sich sehr entkräftet. Eine furchtbare Angst bedrückte sie. Es schien ihr, als fehle in ihrem Zimmer die Luft. Sie richtete sich auf ihrem Lager empor und ließ Albert rufen, der sich beeilte, zu ihr zu kommen.

Der arme junge Mann zitterte, als er das blasse, leichenhafte Gesicht seiner Mutter sah. Kalter Schweiß überzog seine Stirn und das Herz klopfte ihm, als wollte es seine Brust zersprengen.

»Mein Sohn«, sagte Mercedes, indem sie sich bemühte, zu lächeln, »ich will mich darauf vorbereiten, vor Gott zu erscheinen.«

»Wie! Schon meine Mutter?«, sagte Albert, welcher kaum zu sprechen vermochte, und indem er voll Liebe und Ehrerbietung den hinfälligen Körper der Sterbenden in seine Arme schloss.

»Ja – ja!«, entgegnete sie, indem sie noch bleicher wurde und sich anstrengte, um Atem zu holen. »Einen Beichtvater – mein Sohn – einen Beichtvater!«

Albert verließ sogleich das Gemach und lief wie ein Wahnsinniger zu dem Felsen, von wo er zur Stadt eilen wollte. Indes führte er unwillkürlich einige hastige Schläge an die Tür der Kapelle.

Einige Augenblicke darauf erblickte er sich dem strengen Gesicht eines Priesters gegenüber.

»Was willst du, mein Sohn?«, fragte dieser.

»Um Gottes willen, mein Vater«, entgegnete Albert, »kommen Sie, meiner sterbenden Mutter Beistand zu leisten.«

Der Pater zögerte nicht. Er folgte Albert in Mercedes’ Zimmer.

Als der Priester kam, unterschied sie kaum noch die sie umgebenden Gegenstände. Der nahende Tod hatte bereits seinen eisigen Schleier über das Gesicht seines Opfers gebreitet.

»Meine Mutter«, sagte Albert, indem er sich dem Lager näherte, »hier ist der Diener des Herrn.«

»Es ist gut, mein Sohn«, entgegnete Mercedes mit matter Stimme. »Lass mich einen Augenblick mit ihm allein. Meine Beichte wird kurz sein. Ich habe wenig zu sagen, kaum werde ich die letzte Absolution empfangen können.«

Albert umarmte sie und ging in ein angrenzendes Gemach.

Der Geistliche blieb mit der Sterbenden allein.

»Treten Sie näher, mein Vater«, murmelte diese.

»O mein Gott!«, sagte er, indem er fest auf seinem Platz stehen blieb, als wären seine Füße an den Fußboden genagelt, und den Blick starr auf Mercedes richtend. »O allmächtiger Gott, nimm in deinen Schoß diese reine Seele auf, die so gemartert aus dieser Welt scheidet! Mercedes! Mercedes!«, fügte er mit leiser Stimme hinzu, indem er an das Bett trat, »ich bedarf deiner Verzeihung!«

»Sie?«

»Ja, ich, der ich ein Unsinniger war, indem ich glaubte, in meinem Herzen die Liebe ersticken zu können, die du mir eingeflößt hattest! Ich, der ich ein Ungeheuer war, als ich, um mich an Ferdinand Mondego zu rächen, das Gebäude deines Glückes zertrümmerte, indem ich dich seine Schande und sein Elend teilen ließ!«

»Priester, was sagen Sie – und wer sind Sie, dass Sie so mit Reue von meiner ganzen Vergangenheit sprechen?«

»Mercedes – Mercedes – ich wäre deiner Verzeihung nicht würdig, wenn ich nicht fühlte, dass ich wahrhaft von Reue erfüllt bin! Verzeihe mir daher!«

»O allmächtiger Gott!«, murmelte sie. »Wer Sie auch sein mögen – ich verzeihe Ihnen von Grund meiner Seele!«

»Dank! Dank!«

»Edmund!«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Ja, ja, ich bin es, Mercedes, ich bin es! Dein grausamer und unsinniger Geliebter! Ach, ich bedurfte deiner Verzeihung, um auch in dem Frieden des Herrn sterben zu können!«

»Mein Sohn!«, rief jetzt Mercedes, die Wangen brennend in dem Fieber und dem Delirium, »mein Sohn! Dieser Mensch will sich vielleicht auch an dir für die Beleidigung rächen, die er von deinem Vater erfahren hat!«

»Barmherzigkeit!«, flehte Edmund Dantès, indem er mit einer unwillkürlichen Bewegung die Hand auf die Brust preßte.

»Meine Mutter«, rief Albert, indem er sich in ihre Arme warf, »beruhigen Sie sich! Hier bin ich!«

Edmund Dantès entfernte sich jetzt von dem Bett, nahm das elfenbeinerne Kruzifix, welches an der Wand hing, in seine Hände, und begann ein Gebet für Mercedes’ Seele.

Es entstand eine halbe Stunde tiefen Schweigens, kaum unterbrochen durch die heiligen Worte des Priesters sowie durch die keuchenden Atemzüge der Sterbenden.

Dann sank Albert neben dem Bett seiner Mutter auf die Knie, indem er einen Schmerzensschrei ausstieß und seine Lippen auf die kalte Hand der Dahingeschiedenen presste.

Sie war nicht mehr!

Wenige Stunden, nachdem Mercedes gestorben war, sah man in der kleinen Kapelle des armen Dorfes der Katalonier vor dem einfachen Altar, der das Gebäude schmückte, einen Priester liegen, der die Totengebete sprach.

Tränen und Schluchzen unterbrachen seine Stimme.

Sein Kummer war sehr schmerzlich, denn die Frau, über deren Leiche er betete, war in seiner Jugend seine Geliebte gewesen. Sie wurde in seinem reiferen Alter von ihm verurteilt und sein Opfer, als die innige Zuneigung eines Sohnes ihr Leben hätte verschönern sollen.

Edmund Dantès betete stehend über der Leiche der armen Mercedes. Es war das Leben dem Tod gegenüber! Es war der Henker im Angesicht seines Opfers! Es war die Herausforderung, welche das Leben, töricht und unsinnig, wie es ist, täglich der Ewigkeit in das Gesicht schleudert!

Sie hatten sich in dem Dorf der Katalonier tausendmal ewige Liebe geschworen, eine Liebe, die jede Prüfung bestehen sollte, und sie hatten sogar den Himmel beschworen, durch seine Blitze den zu vernichten, der den anderen überleben würde.

Mercedes und Edmund Dantès wurden die Opfer dieser Liebe. Gleichwohl vergaß sie über derselben nicht ihre Pflichten als Gattin und Mutter.

Die Bande, welche im Angesicht des Altars mit Ferdinand Mondego angeknüpft wurden, trugen den Sieg über das arme junge Mädchen aus dem Dorf der Katalonier davon.

Die Mutterpflichten übten über die Gattin, welche Mutter geworden war, eine größere Herrschaft aus als die Neigungen des unschuldigen Herzens, welches aus gewissen Banden gelöst war, die nicht so fesseln können wie die heiligen Worte der Religion und der Mutterschaft.

Wenn er, geleitet durch den Stolz, geblendet durch den Reichtum, von Nachsucht ergriffen, auch nicht getrachtet hatte, die Bande zu zerreißen, welche das arme Opfer der Liebe, der Ehre und der Pflicht fesselten, so hatte er wenigstens den größeren Teil der Züchtigung zugefügt, die empörendste Rache an ihr geübt!

Aber die Liebesschwüre, welche in dem Dorf der Katalonier im Angesicht Gottes und der Menschen geleistet worden waren, blieben noch zu erfüllen.

Der eine durfte die andere nicht überleben!

Wenn die Ehe zwischen Mercedes und Ferdinand Mondego in dem Himmel geschlossen worden war, so wurde eben dort auch Edmund Dantès dazu verurteilt, zugleich mit ihr zu sterben.

Das Requiescat in pace, von einem Liebenden über der Leiche seiner Geliebten gesprochen, glich einer Stimme, welche dem Ersteren zurief, daß auch seine Stunde gekommen sei.

Währenddessen hörte die Trauerglocke der Kapelle in dem Dorf der Katalonier nicht auf, das Sterbegeläut ertönen zu lassen.

Es war wie eine Prophezeiung …!

Die Leiche der Mercedes sank in die Erde hinab. Der Totengräber versah sein Amt, als der Priester, welcher die letzten Gebete murmelte, aus der Tiefe seiner Seele einen Seufzer ausstieß, der ihm das Herz zerriss, und in eben die Grube hinabglitt, welche für die unglückliche Gräfin von Morcerf gegraben worden war.

Der Priester war nur noch eine Leiche.

Ein Schlagfluss hatte ihn getötet. Die Hand des Allmächtigen, im Zorn erhoben gegen den Dünkelvollen, oder die Barmherzigkeit Gottes, die mit den Schmerzen und den Leiden dieses Menschen Mitleid hatte, vereinigte ihn in dieser Stunde mit der, welche er auf Erden am meisten geliebt hatte.

Dieser Priester war Edmund Dantès.

Haydee war für ihn eine Vision gewesen. Ein vorübergehender Traum. Sie war eine Frau, die ihn liebte und die er zu ihrem Unglück durch Zuneigung an sich gefesselt hatte.

Daneben war seine erste und einzige Liebe, die er in seinem Busen nährte, seine beständige Vision, vielleicht die einzige Nahrung seines Lebens und musste folglich auch seinen Tod herbeiführen.

 

***

 

Fromme Hände vereinigten wenige Tage später die beiden Leichen in einer Gruft.

Wessen waren diese Hände?

Es konnten nur die Hände dessen sein, welcher wusste, wie sehr Mercedes diesen Mann geliebt hatte, wie viel sie um seinetwillen litt, der auch die Ursache ihres Todes war.

Nachdem Albert diese letzte Pflicht kindlicher Frömmigkeit erfüllt hatte und ihn folglich nichts mehr an Frankreich fesselte, ging er an Bord eines Dampfschiffes, das von Marseille nach Algier bestimmt war.

Eine Art Verhängnis schien auf diesem Schiff einige der uns bekannten Personen vereinigt zu haben: Morel und seine Frau waren mit den beiden ihnen so geheimnisvoll übergebenen Kindern von Rom nach Frankreich gegangen und reisten jetzt nach Algier, um die reiche Erbschaft in Empfang zu nehmen, welche ein Verwandter Valentines derselben hinterlassen hatte.

Einige Stunden, nachdem das Dampfschiff den Kai verlassen hatte, hörte man in Marseille ein fürchterliches Getöse, ähnlich der Erschütterung durch eine gewaltige Explosion. Die ganze Stadt fürchtete für das Schicksal derer, die sich eingeschifft hatten.

Die Ahnung verwirklichte sich, denn wenige Tage darauf spülte das Meer auf das Ufer die Leichen der Morels und ihrer Adoptivsöhne sowie die Alberts und vieler anderer in dem Hafen bekannter Personen.

 

***

 

Eugenie Danglars und Emilie d’Armilly setzten in Paris ihr abenteuerliches Künstlerleben fort.

 

Ende


Der vollständige Roman steht als PDF, EPUB,MOBI und AZW3 zur Verfügung.

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