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Der Welt-Detektiv Band 6

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Atlantis Teil 1

Das Kohlenschiff Christian Harlessen lag fünf Kilometer südlich von Black Island vor Anker. Fünftausend Pferde Maschinenkraft, viertausend Tonnen Wasserverdrängung. Heimathafen Hamburg, Reeder Jacob Jeremias Uhlenkort & Söhne.

Fröstelnd schob sich der Wachtmann, die einzige lebendige Seele auf Deck, an der Reling entlang. Mechanisch ließ er den Blick bisweilen über das Meer gleiten, gelegentlich war Treibeis zu sehen. Noch verwehrte ein dünner Nebelschleier die Sicht.

Ein lichter Schimmer von Osten her kündete das aufsteigende Tagesgestirn. Schärfer blickten seine Augen. Von Minute zu Minute wurde die Luft sichtiger.

Am Vordersteven machte er halt. Sein Blick war nach Norden gerichtet, wo Black Island liegen musste.

Da … er stand … und stand. Langsam löste er seine Hände aus den Taschen und fuhr sich über die Augen. Dann packten seine Fäuste die Reling. Sie umklammerten sie, als ob sie das starke Stahlrohr zerquetschen wollten.

Black Island? … War das die Insel Black Island?

Land … Das war Land … ja, das war Land … was sich vor ihm ausbreitete.

Seine Lippen bewegten sich, als wollten sie schreien. Die weitgeöffneten Augen stierten geradeaus.

Doch! Da war Black Island … Da war es ja … aber … aber viel näher! Viel größer … und es wurde … immer größer … immer höher.

Die zerklüfteten Felsspitzen der Insel, im hellen Sonnenschein gegen die schwarzen Wolken im Hintergrund … schienen taumelnd in die Höhe zu streben. Das Vorland, nach allen Seiten wuchs es mit. In immer weiteren Kreisen dehnte sich der Strand, schien auf das Schiff hinzulaufen.

Da lösten sich seine Hände … Sie schlugen sich vor das Gesicht, das sich wie zur Flucht abwandte. Er stürzte fort.

Ein Schrei wie der eines Menschen aus tiefster, verzweifelter Not gellte über Deck.

»Land! … Land! … Land kommt! Land ahoi!«

Der Wachtmeister riss die Luke zum Quartier auf. »Land ahoi!«, brüllte er in den Raum.

Die Gestalt des Ersten Steuermanns schob sich die Treppe hinauf. Bevor er die oberste Stufe erreichte, krallten sich zwei Hände in seine Schultern. Der Schrei gellte ihm in die Ohren.

»Land voraus … Land ahoi! … Land kommt über uns.«

Mit einem Ruck schüttelte der Steuermann ihn von sich.

»Was? … Was schreist du … Land? … Land ahoi? … Bist du verrückt geworden?«

Seine Augen folgten dem ausgestreckten Arm, der nach Norden zeigte.

»Land ahoi, Steuermann!«

Der Steuermann taumelte zurück.

»Land ahoi!«, schrie es von seinen Lippen. »Anker auf! … Anker auf! … Motoren klar!«

Die Deckleute stürzten nach oben.

»Anker auf!«, brüllte der Steuermann und lief zur Brücke. Knatternd setzte sich die Motorwinde in Bewegung. Klirrend und rasselnd fuhr die Ankerkette durch die Klüse.

Der Maschinentelegraf klang schrillend. Die Schiffsmotoren sprangen an.

»He, Steuermann! Was ist? … Was soll’s?«

Der Kapitän stand auf der Brücke und riss den Steuermann am Arm.

Der fuhr herum. »Land! Kapitän … Land kommt …«

»Land kommt?«, murmelten die Lippen des Kapitäns. Sein tiefgebräuntes Gesicht war erblasst. Mit unruhigen Händen hob er das Glas. Sah, wie das Land da vor ihm wuchs – Black Island … in die Höhe … in die Breite … sah, wie es auf sie zukam … näher … und immer näher.

»Ruder backbord! Hart backbord! Volle Fahrt voraus!«

Der Steuermann schrie es.

»Volle Fahrt voraus!«, der Kapitän rief es nach.

Der Schiffsrumpf erzitterte, das Schiff kam in Bewegung. Es gehorchte dem Steuer und floh … floh vor dem wachsenden Land. Voll Grauen hingen die Blicke der Mannschaft an den steigenden Felsen, an dem Land, das sie zu verfolgen schien, das ihre Augen und Sinne verrückt machte.

Bis die Entfernung immer größer wurde, bis das Phantom im Nebel entschwand. Bis die Kehlen wieder frei wurden, die Lippen sich wieder zu bewegen vermochten … zu flüstern, zu sprechen über das Niegesehene … Nieerlebte.

»Volle Fahrt voraus!«, so fuhren sie … und fuhren, bis sie an der Mole von Wibehafen festmachten.

Der Hafenkommandeur sah die verstörten Gesichter und nahm die Mannschaften der Reihe nach vor. Die sahen mit Augen, die in die Ewigkeit blickten. Erzählten von dem gespenstischen Land, das vor ihren Augen aus der See wuchs … und wie sie vor dem flohen.

Da ließ er sie. Wandte sich ab und schickte das Regierungsschiff. Das fuhr und kam nach Black Island. Und sie sahen es daliegen. Wie ein Turm über dem Kirchdach lag die alte Insel auf einer neuen, viel größeren, die hier aus den Fluten gestiegen war.

In langsamer Fahrt, immer wieder lotend, umsteuerte das Schiff das neue Land. Tausend Quadratkilometer waren, wo vordem hundert Quadratkilometer aus der See ragten. Sie kamen nach Wibehafen zurück und berichteten, was sie gesehen hatten.

Und dann begannen Radiosender und Telegraf zu spielen und meldeten der Welt, was geschehen war.

 

***

 

Überraschend war das Bild, das sich den Augen Walter Uhlenkorts bot, als er in das Riesenrund des Zirkus trat. So überraschend, dass er stehenblieb, ohne den harrenden Logenschließer zu beachten.

Wohl war es in der Sache das Gleiche, was er schon in so manchem anderen großen Zirkus der Welt gesehen hatte. In den Logen die beste Gesellschaft, stark durchsetzt mit Offizieren in glänzenden Uniformen. Im ersten Rang das bessere Bürgerpublikum, in den weiteren Reihen nach oben hin abstufend Mittelstand und schließlich die Galerie zum Brechen überladen …

Wären nur nicht die schwarzen Gesichter des Publikums gewesen. Eine vieltausendköpfige schwarze Menge, in der die wenigen Weißen fast völlig verschwanden.

Gewiss … er konnte hier in Timbuktu, der Haupt- und Residenzstadt des schwarzen Kaisers Augustus Salvator von Zentralafrika, kaum ein anderes Publikum erwarten. Immerhin blieb ein Eindruck, der für sein Europäerauge ans Groteske grenzte. Diese Hypereleganz der nach neuesten amerikanischen Schnitt gekleideten Logenbesucher … die gold- und silberstrotzenden Uniformen der Offiziere … die kostbaren Abendtoiletten der ebenholzfarbenen Damen in den Logen … und dann mit zunehmender Sitzhöhe abnehmende Bekleidung, die schließlich auf der Galerie beim Lendenschurz endete … Das alles gab ein Bild, das gleichzeitig verblüffend und erheiternd auf ihn wirkte. Minuten verstrichen, bevor er sein Auge von dieser Szenerie lösen konnte.

Die plötzlich einsetzende Lichtflut des Pressedienstes gab seinen Augen eine andere Richtung. An der Decke über der mächtigen Arena erschienen in feurigen Buchstaben die neuesten Nachrichten aus aller Welt. Automatisch las er die leuchtenden Texte.

Spitzbergen, den 18. März.
Jubiläum des zwanzigjährigen Bestandes der Vereinigten Arktischen Kohlengruben. Seit der Eröffnung verzehnfachte Ausbeute. Förderung in der ersten Hälfte des März zum erstenmal fünfundzwanzig Millionen Tonnen …

London, den 18. März, 6 Uhr abends.
Aus Anlass der von Amerika beabsichtigten Großsprengung einer neuen Kanalroute in Panama ist es in mehreren schottischen Städten zu Demonstrationen gekommen …

Tschadsee, den 18. März, abends 6 Uhr 20.
Die Arbeiten am Kaiser-Augustus-Schacht sind in den letzten Tagen so gefördert worden, dass man am 20. März die bisher nie erreichte Tiefe von 6000 Meter anfahren wird.

Nachdrängendes Publikum nötigte Walter Uhlenkort, seine Blicke wieder dem Boden zuzuwenden. Er schritt den Rundgang weiter entlang zu seiner Loge. Ein Schließer überreichte ihm Theaterglas und Programm. Zwischen zwei schwarzen Gentlemen hindurch, welche die beiden hinteren Plätze der Loge einnahmen, trat er zu dem freien Platz vorn rechts, grüßte mit leichtem Kopfnicken den weißen Nachbarn zur Linken und vertiefte sich mit Interesse in das Programm …

Grand Circus Webster Brothers
Timbuktu den 18. März

Große Gala- und Eröffnungsvorstellung
Auftreten sämtlicher Künstler und Spezialitäten

Die berühmtesten Artisten der Welt! Erstklassiges Pferdematerial.
Großartige Raubtierdressuren in nie gesehener Vollendung …

Uhlenkorts Blick zuckte über die einzelnen Nummern des Programms und blieb bei der vierten haften:

Miss Arabella Simson, die beste Schulreiterin der Welt, auf ihrem englischen Vollbluthengst Cohinor …

Er ließ das Blatt sinken und starrte sinnend in die leere Manege. Die rauschenden Klänge der eben einsetzenden Zirkusmusik rissen ihn aus seinem Nachdenken. Noch einmal wanderten seine Augen über das exotische Publikum des Zuschauerraums. Dann betrachtete er seinen Nachbarn zur Linken. Ein hageres, bartloses Gesicht, tief gebräunt von der afrikanischen Sonne.

Walter Uhlenkort schaute auf seine Uhr und warf einen Blick auf die leere Hofloge.

»Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige … aber hierzulande sind sie noch nicht soweit«, klang es leise in englischer Sprache aus dem Mund seines Nachbarn.

»Es scheint so«, gab Uhlenkort mit leisem Lächeln zurück.

»Wird aber wohl nicht mehr lange dauern, taxiere ich, die Diplomatenlogen beginnen sich zu füllen. Da drüben links … der Botschafter des Europäischen Staatenbundes … da tritt er eben ein … Seine Exzellenz Dührsen, wenn Sie’s interessiert … oder kommen Sie nicht aus dem alten Europa?«

»Richtig geraten …«

Jäh brach die Musik ab, und ebenso jäh verstummte das lebhafte, schwatzende Publikum. Alle Blicke richten sich auf die Hofloge, in die soeben der Oberhofmarschall getreten war.

Dreimaliges Aufstoßen seines Stabes. Aufpeitschende Rhythmen der afrikanischen Nationalhymne …

Mit einem Ruck erhob sich das Publikum und stimmte in die Melodie ein.

Die Türen im Hintergrund der Hofloge flogen auf. Inmitten eines glänzenden militärischen Gefolges trat der Kaiser in die Loge. Schritt nach vorn, blieb an der Brüstung stehen und dankte mit leichtem Kopfneigen für die Ovationen des Publikums. Erst als die Nationalhymne verklungen war, ließ er sich nieder, und das Publikum folgte seinem Beispiel.

»Sankt Pauli is gor nix dagegen«, brummelte Uhlenkorts Nachbar beim Niedersetzen vor sich hin.

Diese Worte, die in unverfälschtem Hamburger Dialekt sein Ohr trafen, ließen Uhlenkort den Kopf wenden.

»Auch von Hamburg?«

»… auch?«

Der drehte sich nun voll um und sah Uhlenkort prüfend an.

»… auch Hamburg … freut sich riesig. Waterkant hatte ich ungefähr taxiert. Trifft man sich nicht am Jungfernsteg, dann sieht man sich in Timbuktu.«

Mit freudig blitzenden Augen reichte er Uhlenkort die Rechte, und vergnügt lachend schlug der ein.

»Das nenne ich Glück. Kommt Klaus Tredrup mit drei Tagen Urlaub von dem Höllenschacht am Tschadsee und trifft gleich am ersten Tag einen Landsmann.«

»Meine Freude ist nicht minder groß, einen Hamburger zu treffen, der hier Bescheid zu wissen scheint.«

»So etwas, Herr Nachbar …«

»Uhlenkort.«

»Uhlenkort? Jacob Jeremias Uhlenkort & Söhne? Ah …!«

Lebhafter Beifall unterbrach ihr Gespräch. Sie sahen noch eben eine blonde Panneaureiterin in den Sand springen und mit lächelndem Gesicht und Kusshänden für den Beifall danken.

»Schweinerei, verdammte! Man möchte am liebsten dem ganzen Dreck den Rücken kehren. Müssen die armen Luder hier ihr weißes Fleisch zur Schau stellen … und dann noch mit Kusshänden dafür danken, dass sie Gefallen gefunden haben in den Augen der …«

»Pst! Nicht so laut, Landsmann«, unterbrach ihn Uhlenkort.

Unwillkürlich zuckte Klaus Tredrup zusammen.

»Verdammt! Sie haben recht! Die deutsche Sprache ist hier nicht so unbekannt, wie mancher denkt – und Spione gibt es mehr als genug.«

Ein paar Clowns kugelten in die Arena und entfesselten ein Freudengewieher der schwarzen Zuschauer.

»Noch ein Wort, Herr Uhlenkort. Bleiben Sie noch etwas in Timbuktu?«

Uhlenkort nickte.

»Heute Abend frei?«

Abermals ein zustimmendes Nicken.

»Ausgezeichnet! Verschieben wir unser Palaver bis nach Schluss der Vorstellung.«

»Meinetwegen schon nach der ersten Pause.«

»Recht so! Ich schlage vor beim Obermoser. Da gibt’s ein Pschorr, gut gekühlt und frisch vom Fass.«

Die vierte Nummer des Programms war jetzt an der Reihe. Die Schulreiterin Miss Arabella Simson auf einem wundervollen Vollblut, das ein Stallmeister am Zügel in die Manege führte.

Klaus Tredrup schien von der Reitkunst dieser Dame nicht über die Maßen begeistert zu sein. Mit einer Bemerkung auf den Lippen wandte er sich an seinen Nachbarn und sah, dass dieser seine Brieftasche auf den Knien entfaltet hatte, dass seine Augen zwischen einer kleinen Fotografie und der Schulreiterin hin und her gingen. Er unterdrückte, was er sagen wollte und wartete.

Mit jähem Ruck schob Uhlenkort das Bild in die Brieftasche zurück.

»All right, mir soll es recht sein!«