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Die Geschichte vom Werwolf Teil 23

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 23
Thibauts letzter Wunsch

Agnelette lief, von Angst und Schrecken getrieben, so rasch, dass sie von Zeit zu Zeit stehen bleiben musste, um Atem zu schöpfen. In diesen kurzen Pausen versuchte sie sich zu besinnen und ihre Lage zu vergegenwärtigen. Sie dachte, es sei eine Torheit, leeren Worten, die durch Hass und Eifersucht hervorgerufen worden, so große Wichtigkeit beizulegen. Allein sobald sie wieder zu Atem gekommen war, lief sie eben so schnell weiter, dem Dorf zu, wo sie ihren Mann gelassen hatte. Sie fühlte wohl, dass sie nicht ruhig werden würde, bis sie ihn wiedergesehen hatte.

Der Weg führte durch den ödesten Teil des Waldes, aber sie dachte nicht mehr an die Wölfe, welche zehn Meilen in der Runde alle Städte und Dörfer in Schrecken setzten. Sie fürchtete nur den Leichnam Engoulevents auf dem Weg zu finden.

Mehr als einmal, wenn ihr Fuß an einen Stein oder eine Baumwurzei stieß, stockte plötzlich ihr Atem und ein eiskalter Schauer durchbebte sie.

Endlich kam sie aus dem Wald und das vom Mond beleuchtete Feld breitete sich vor ihr aus.

Kaum hatte sie die Ebene betreten, so kam ein Mann hinter einer Hecke hervor, lief Agnelette entgegen und umfasste sie.

»Oho! So eilig?«, sagte er lachend, »was hast du denn so spät im Wald zu tun?«

Agnelette erkannte ihren Mann.

»Etienne! Mein lieber Etienne!«, sagte sie, freudig überrascht, und schlang die Arme um seinen Hals. »Wie freue ich mich, dich wieder zu sehen! Du lebst also, dir ist nichts geschehen?«

»Glaubst du denn«, antwortete Engoulevent, Thibaut , der Werwolf, habe mich gefressen?«

»Ach, Etienne, sprich diesen Namen nicht aus! Komme geschwind! Ich bin nicht ruhig, bis wir im Dorf sind.«

»Du wirst den alten Weibern in Préciamont und Vez Stoff zum Klatschen geben«, erwiderte der Jäger lachend. »Man wird sagen, unsereins könne nicht einmal seine Frau beschützen.«

»Du hast recht, Etienne, aber ich weiß nicht, wie es kommt. Ich hatte den Mut durch den finsteren Wald zu gehen, und jetzt ist mir so bange ums Herz, obwohl du bei mir bist.«

»Was ist dir denn geschehen?«, fragte Etienne, indem er seine Frau küsste.

Agnelette erzählte nun, wie sie auf dem Weg nach Préciamont von einem Wolf angefallen und von Thibaut gerettet worden sei. Sie verschwieg ihm auch nicht das Gespräch mit dem Letzteren.

Engoulevent hörte sehr aufmerksam zu.

»Höre«, sagte er, »ich will dich nach Hause bringen, damit dir kein Unglück widerfahre. Dann eile ich zum Baron Jean und zeige ihm an, wo sich Thibaut aufhält.«

»Nein, nein!«, erwiderte Agnelette, »du müsstest durch den Wald reiten, und es würde dir ein Unglück geschehen.«

»Ich will einen Umweg machen«, sagte Etienne, »und statt durch den Wald zu reiten, will ich den Weg über Cayolles nehmen.«

Agnelette seufzte und schüttelte den Kopf, aber sie machte keine Gegenvorstellung. Sie wusste, dass sich Engoulevent nicht irre machen ließ, und überdies behielt sie sich vor, ihre Bitten im Haus zu erneuern.

Der Jäger wollte im Grunde nur seine Pflicht tun. Am anderen Morgen sollte in einem ganz anderen Teil des Waldes eine große Treibjagd gehalten werden. Etienne war daher verpflichtet, seinem Herrn zu sagen, wo Agnelette den Wolfsführer gesehen hatte. Es waren nur noch wenige Stunden übrig, um die Vorkehrungen zur Treibjagd zu ändern.

In der Nähe des Dorfes begann Agnelette dringender zu bitten als zuvor. Sie stellte ihrem Mann vor, dass ihr Thibaut das Leben gerettet und ihr die Freiheit gelassen hatte, nach Hause zu gehen, obwohl sie sich in seiner Gewalt befand. Es sei daher undankbar, den gefürchteten Menschen zu verraten, und dieser werde dadurch nur noch mehr erbittert werden.

Agnelette sprach mit großer Beredsamkeit. Aber sie hatte ihrem Mann aus ihrem ersten Zusammentreffen mit Thibaut und dessen Werbung kein Geheimnis gemacht. Engoulevent hatte großes Vertrauen zu seiner Frau, aber er war doch nicht frei von Eifersucht. Überdies hegte er einen alten Groll gegen Thibaut. Er ließ sich daher seinen Vorsatz nicht ausreden

So kamen die beiden jungen Leute an die ersten Häuser des Dorfes.

Um die plötzlichen Raubanfälle, welche Thibaut mit seiner Meute in den Dörfern machte, so viel wie möglich abzuwehren, schickten die Bauern bei Anbruch der Nacht Streifwachen aus und bewachten ihre Häuser wie in Kriegszeiten.

Etienne und Agnelette waren so in ihrem Gespräch vertieft, dass sie den Ruf der hinter einer Hecke versteckten Schildwache nicht hörten und rasch weiter gingen.

Die Schildwache sah in der Ferne eine Gestalt, welche ohne ihren Ruf zu beantworten in das Dorf ging, und machte sich schussfertig.

Plötzlich bemerkte Egoulevent den Gewehrlauf im Mondlicht glänzen. Er antwortete: »Ein Freund!« und umschlang Agnelette.

Aber in demselben Augenblick fiel der Schuss und der unglückliche Etienne sank mit einem leisen Seufzer zu Boden. Die Kugel war ihm durchs Herz gedrungen.

Als die Leute aus dem Dorf herbeieilten, fanden sie Engoulevent tot und Agnelette bewusstlos auf der Leiche ihres Mannes liegen.

Man brachte die arme Agnelette in ihr Haus. Aber sie erwachte aus ihrer Ohnmacht nur, um sich der Verzweiflung zu überlassen, und ihr Gemütszustand wurde bald so zerrüttet, dass man für ihren Verstand fürchten musste. Sie klagte sich selbst als die Ursache des Todes ihres Mannes an, sie rief ihn und bat um Gnade für ihn, sie sprach den Namen Thibaut aus und bat ihn um Schonung und Erbarmen.

Aus ihren verworrenen Reden erkannte man indes, dass Thibaut dem traurigen Ereignis, welches den Tod des armen Etienne herbeigeführt hatte, keineswegs fremd war. Man glaubte daher allgemein, der Unhold habe das unglückliche Paar in seine Zaubernetze gezogen, und die Erbitterung gegen ihn wurde noch größer.

Alle von den herbeigerufenen Ärzten verordneten Mittel blieben fruchtlos. Agnelettes Zustand wurde immer bedenklicher, ihre Kräfte schwanden, ihre Stimme wurde trotz des immer zunehmenden Wahnsinns immer schwächer, und man musste ihre baldige Auflösung erwarten. Nur die Stimme der alten blinden Frau vermochte die Kranke etwas zu beruhigen. Sie richtete sich dann auf, strich mit der Hand über die Stirn, als ob sie einen schrecklichen Gedanken vertreiben wollte, und ein schmerzliches Lächeln spielte um ihren Mund.

Eines Abends schien Agnelette unruhiger als gewöhnlich zu schlummern. Eine kupferne Lampe verbreitete ein mattes Licht in der Hütte. Die Großmutter saß regungslos wie eine Bildsäule am Herd. Die beiden Wärterinnen, welche der Baron Jean der Witwe seines Dieners geschickt hatte, saßen vor dem Bett und spannen.

Plötzlich schien die Kranke, welche von Zeit zu Zeit im Schlaf aufgefahren war, gegen einen schrecklichen Traum zu kämpfen und stieß einen Schrei des Schreckens aus.

In demselben Augenblick ging die Tür auf. Ein Mann dessen Kopf mit einem feurigen Kreis umgeben schien, stürzte in die Hütte, eilte auf Agnelettes Lager zu, schloss die Sterbende in seine Arme, drückte ihr einen Kuss auf den Mund und eilte so schnell wie er gekommen war durch die Hintertür wieder hinaus.

Die Erscheinung war so rasch und flüchtig gewesen, dass man an ein Phantasiegebilde der Kranken hätte glauben können.

»Fort, fort!«, rief sie abwehrend, als ob sie von einem furchtbaren Traumgesicht heimgesucht würde.

Aber die beiden Wärterinnen hatten den Mann gesehen und Thibaut erkannt.

Man hörte lautes Schreien und Toben, welches dem Haus Agnelettes immer näher kam. Bald unterschied man den Namen Thibaut, die Tür tat sich wieder auf und einige Bauern erschienen.

Man hatte Thibaut in der Nähe der Hütte gesehen, und die von den Schildwachen herbeigerufenen Einwohner des Dorfes hatten sich mit Heugabeln und Stöcken bewaffnet und verfolgten ihn.

Thibaut, welcher den hoffnungslosen Zustand Agnelettes kannte, hatte dem Wunsch, sie noch einmal zu sehen, nicht widerstehen können. So war er, jeder Gefahr trotzend, durch das Dorf gelaufen, hatte die Tür der Hütte geöffnet und die Kranke noch einmal in seine Arme geschlossen.

Die beiden Wärterinnen zeigten den Verfolgern die Tür, aus welcher Thibaut fortgeeilt war, und die Bauern liefen ihm tobend und schreiend nach.

Thibaut entkam seinen Feinden und verschwand im Wald.

Der Zustand der Kranken war durch die heftige Aufregung so bedenklich geworden, dass man noch in der Nacht den Priester holen musste. Es war offenbar, dass Agnelette nur noch einige Stunden zu leiden hatte.