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Die Flusspiraten des Mississippi 10

die-flusspiraten-des-mississippiFriedrich Gerstäcker
Die Flusspiraten des Mississippi
Aus dem Waldleben Amerikas

10. Livelys Farm

Dicht hineingeschmiegt in den grünen Wald, wo die fleißige Hand des Menschen kaum der riesigen Vegetation ein freies Plätzchen abgewonnen hatte und die mächtigen, starr emporragenden Stämme immer noch so aussahen, als ob sie das kleinliche Treiben der Zivilisation unter sich nur eben duldeten – da, wo zwar geschäftige Menschen, starke Männer und zarte Frauen, wirkten und schafften, und fröhlicher Kinderjubel die Ruhe der Wildnis unterbrach, wo der Haushahn morgens seinen Gruß in den Morgen schmetterte, wo die Schwalbe ihr Nest gebaut hatte und sich jetzt alle Mühe gab, die kleinen Gelbschnäbel das Fliegen zu lehren, wo aber auch nachts noch der Wolf die Fenzen umschlich und Jaguar oder Wildkatze das zahme Hausvieh oft in Schrecken versetzte, wo der Hirsch nicht selten zwischen den weidenden Herden angetroffen wurde und der Bär oft des Abends die Maisfelder besuchte; da stand ein für solche Umgebung gar stattliches und wohnlich eingerichtetes Doppelhaus. Es war von einer hohen Fenz umgeben und, wie es schien, mit all den Bequemlichkeiten versehen, die man in solcher Wildnis beanspruchen konnte.

Vor diesem Haus saß auf einem erst frisch gefällten und hier zum Sitz herangerollten Stamm ein noch rüstiger Greis, dessen muntere klare Augen wohl schon mehr als sechzigmal den Frühling hatten kommen und gehen sehen. Sein Kopf war unbedeckt, und das weiße Haar hing ihm bis auf den sonngebräunten Nacken hinunter. Er trug einen pfeffer- und salzfarbenen wollenen Frack, ebensolche Beinkleider, eine blauwollene Weste und ein schneeweißes Hemd; aber die Füße waren bloß, und nur dann und wann schienen ihn an diesen die ziemlich zahlreichen Moskitos zu belästigen. Mit dem rotseidenen Taschentuch, das er in der Hand hielt, um sich Kühlung zuzufächeln, schlug er zuweilen nach ihnen, ohne jedoch nur einen Blick hinunterzuwerfen.

Nur wenige Sehritte von ihm entfernt stand ein anderer, bedeutend jüngerer Mann, eben eifrig beschäftigt, einen frisch erlegten Spießer abzustreifen. Dieser war mit den Hinterläufen an einem Baum aufgehängt, und ein großer schwarzer Neufundländer mit weißer Brust und weißen Füßen und der braunen Zeichnung amerikanischer Bracken an den Lefzen und über den Augen hob klug und aufmerksam die Augen zu ihm auf.

Der junge Jäger, dessen ledernes Jagdhemd neben ihm am Boden lag, war ganz nach Art der westlichen Jäger gekleidet. Die blonden, krausen Haare aber und die blauen Augen hätten ihn fast als einen Ausländer erscheinen lassen, wäre nicht in einem kleinen Lied, dass er bei der Arbeit vor sich hinsummte, sein reines, nur mit dem leichten westlichen Dialekt gefärbtes Englisch Bürge seiner amerikanischen Abkunft und Erziehung gewesen.

Es war William Gook, der Schwiegersohn des alten Lively, der erst vor wenigen Tagen vom Fourche la fave hierher zu den Eltern seiner Frau gezogen war und nun im Sinn hatte, eine eigene, dicht an die seiner Schwiegereltern stoßende Farm urbar zu machen. Für den Augenblick aber und bis sein Haus errichtet war, hielt er sich mit seiner kleinen Familie bei Livelys auf und bewohnte dort den linken Flügel jenes schon erwähnten Doppelgebäudes.

In der Tür desselben erschien indessen gerade seine junge Frau mit dem jüngsten Kind auf dem Arm, zwei weißköpfige und rotbäckige kleine Burschen tummelten sich zwischen den abgehauenen Baumstümpfen des weiten Hofraumes und jagten bald bunten flatternden Schmetterlingen nach, bald ärgerten sie den ernsten Haushahn, der mit höchst missvergnügtem Gekake und langen Schritten seinen kleinen unermüdlichen Quälgeistern zu entgehen versuchte. Erst als er das unmöglich fand, flog er endlich, des Spielens überdrüssig, auf die Fenz, schlug hier mit den Flügeln und fing nun zum großen Ergötzen der darunterstehenden Knaben an, aus Leibeskräften zu krähen.

Das Kleine aber, das die Mutter noch auf dem Arm trug, hatte indessen die Geschwister entdeckt und streckte ungeduldig strampelnd die dicken Ärmchen nach ihnen aus.

»Ei, so lass doch den Schreihals herunter, Betsy«, rief ihr da lachend der Mann zu, lass ihn nur herunter, siehst du denn nicht, dass er helfen will?«

»Er wird sich Schaden tun«, sagte besorgt die Mutter, »es ist hier so rau und steinig.«

»Torheiten, der Junge muss Grund und Boden kennenlernen, er mag seinen Weg suchen«, erwiderte der Vater, und die junge Frau ließ lächelnd den kleinen Schreihals auf die Erde nieder. Ohne weiteren Zeitverlust kroch er auch gleich auf allen vieren zum Vater hin, der ihm freundlich zuwinkte.

Der große schwarze Neufundländer aber, der bis jetzt neben seinem Herrn gesessen hatte, sprang nun mit weiten Sätzen dem kleinen Burschen entgegen, hellte ihn ein paarmal an und versuchte dann vorsichtig, das Kind am Gurt des kleinen Röckchens zu fassen, um ihm den Weg zu erleichtern oder es seinem Herrn zu apportieren.

»Lass ihn gehen, Bohs«, rief dieser lachend, »lass ihn gehen …«

»William«, unterbrach ihn der Alte und rieb sich vergnügt und schmunzelnd die Hände, »William, das ist ein kapitales Stück Wildbret, wie man sich es nur wünschen kann, und die Rippen werden großartig schmecken. Es war doch gut, dass du heute Mittag noch einmal zum Rohrbruch gingst, und ich dachte mir schon, du würdest dort was finden.«

»Ach, mit dem Denken, Vater«, erwiderte der junge Mann lachend, »mit dem Denken ist es eine gewaltig unsichere Sache. So sagt man nachher immer, und wenn man es genau nimmt, so hat man sich beim Pirschen hinter jedem Dickicht, an jedem Hügel ein Stück Wild gedacht. Dafür lob ich mir aber auch das Pirschen. Es gibt kein herrlicheres Vergnügen, eine gute Bärenhatz vielleicht ausgenommen, und ich glaube, ich könnte gleich aus freien Stücken ein Indianer werden, wenn ich …«

»… jemanden dabei hätte, der mir Mais und süße Kartoffeln anbaute, nicht wahr?«, unterbrach ihn lächelnd der Alte. »O ja, so zum Vergnügen den ganzen Tag im Wald herumspazieren und weiter keine Arbeit haben, als gute Stücke Fleisch nach Hause zu bringen, das glaube ich schon, das ließe ich mir auch gefallen. Aber es geht nicht. Mein Junge, zum Beispiel, würde jetzt schön gucken, wenn sein alter Vater in seiner Jugend weiter nichts getan hätte als Büchsenläufe schmutzig zu machen. Nein, dafür sind wir – der Henker soll doch die Moskitos holen, sie beißen heute wie besessen.« Er rieb sich abwechselnd die bloßen Füße, »dafür sind wir hierher gesetzt, dass wir im Schweiß unseres Angesichts, wie der alte Schleicher sagt, unser Brot verdienen sollen. Das heißt, wir müssen uns schinden und plagen, um das Jahr über genug Mais und süße Kartoffeln zu haben.«

»Alle Wetter!«, meinte Cook und sah erstaunt von seiner Arbeit auf.

»Ihr haltet ja heute ordentliche Reden, die sind doch sonst Eure Passion nicht.«

»Nein, Junge«, erwiderte der Alte, »euch jungem Volk muss man aber dann und wann ins Gewissen reden, das ist Pflicht und Schuldigkeit, und da tut mir es gut, wenn ich einmal so meine Meinung heraussagen kann, ohne dass die Alte gleich ihren Senf dazugibt, denn die nimmt eure Partei.«

»Hallo«, rief Cook, »da wollt Ihr mir wohl eine Predigt gegen die Jagd halten? Das ist herrlich! Hol mich dieser und jener, das ist köstlich.«

»Ja, und nicht allein gegen die Jagd«, fuhr der Alte fort, während er langsam und vorsichtig das rechte Bein hob und mit der Hand scharf auf einen seine große Zehe belästigenden Moskito visierte, »nicht allein gegen die Jagd, auch gegen das gotteslästerliche Fluchen.« Die Hand schlug herunter, der Moskito hatte sich aber beizeiten der Gefahr entzogen. »Verdammte Bestie«, unterbrach der alte Mann mit halblauter Stimme seinen Vortrag, »auch gegen das gotteslästerliche Fluchen«, fuhr er dann gleich darauf wieder fort.

»Hahaha!« Cook lachte und sagte dann: »Ich soll wohl nicht, verdammte Bestie sagen?«

»Unsinn«, brummte Lively und kratzte sich die Stelle, wo das kleine Insekt eben gestochen hatte, »Unsinn – aber heda, Bohs wird unruhig: Unsere Gäste kommen wahrscheinlich.«

Bohs war in diesem Augenblick tatsächlich rasch aufgesprungen, windete einige Sekunden lang gegen den Wald hin und schlug dann laut an. Blitzschnell wurde sein Bellen von den übrigen, meist im Schatten lagernden Rüden begleitet, die gleich darauf herbeistürmten. James’ fröhlicher Jagdruf antwortete dem Gebell der Meute. Jauchzend sprangen sie ihrem jungen Herrn entgegen und begrüßten bald darauf mit fröhlichem Gebell und Heulen die kleine Reiterschar, die nun sichtbar wurde und rasch an das roh gearbeitete Gattertor, das Einlass in die Farm gewährte, herantrabte.

Cook sprang schnell heran, die Vorlegebalken zurückzuziehen. James aber, hier ganz in seinem Element, rief ihm nur ein fröhliches »Hallo!« entgegen. In demselben Moment hob sich auch, von Schenkeldruck und Zügel getrieben, das wackere Pferd, das ihn trug, auf die Hinterbeine und flog mit keckem Satz über die doch wenigstens vier Fuß hohe Barriere. Sander oder Hawes, wie er sich ja hier nannte, ebenfalls ein tüch­tiger und sattelfester Reiter, wollte natürlich nicht hinter dem Backwoodsman, der ihnen eine kurze Strecke entgegengeritten war, zurückstehen und folgte seinem Beispiel. Als beide aber aus dem Sattel sprangen und zur Fenz eilten, die Stangen niederzulegen, vereitelte Adele, deren munteres Tier unter ihr tanzte und in die Zügel schäumte, diese Absicht, denn sie schien keineswegs gesonnen, den Männern nachzustehen.

»Habt acht, Gentlemen!«, rief sie nur, nahm einen kurzen Anlauf, und ehe noch Mrs. Dayton, die nur erschrocken »Um Gottes willen, Adele!« ausstoßen konnte, recht begriff, was das kecke Mädchen eigentlich wollte, sprengte sie an und setzte nicht über das Eingangstor, sondern über die wohl einen Fuß höhere Fenz hinweg. In der nächsten Sekunde hielt sie auch schon neben der Tür des Hauses, wo sie, ehe die Männer ihr helfen konnten, rasch aus dem Sattel sprang, die Stufen des Hauses hinaufeilte und hier von der alten Mrs. Lively und Cooks junger Frau auf das Herzlichste, aber auch mit Vorwürfen über ihren Leichtsinn begrüßt wurde.

Cook hatte indessen die Stangen niedergeworfen, Mrs. Dayton einzulassen. Die kleine Gesellschaft fand sich bald gemütlich vor der Tür des Hauses, im Schatten eines breitästigen Nussbaumes zusammen, wo sie auf Stämmen, Stühlen und umgedrehten Kästen, was gerade in der Nähe zu finden war, Platz suchte. Mrs. Lively ließ es sich indessen, trotz ihres Alters, nicht nehmen, die große Kaffeekanne herbeizubringen, füllte mit Mrs. Cooks Hilfe die blauen Tassen und Blechbecher – denn so viele Tassen besaß der Hausstand nicht – und reichte sie den willkommenen Gästen.

»Ei, Kaffee nach Tisch, Mrs. Lively?«, rief Adele erstaunt, »das ist ja eine ganz neue Sitte! Wer trinkt denn um solche Zeit Kaffee?«

»Das habe ich von den Deutschen, meinen früheren Nachbarn, gelernt, Kindchen«, sagte die alte Dame, »und das ist eine prächtige Erfindung. Kaffee schmeckt nie besser als nach Tisch, morgens und abends ausgenommen, und für so liebe Gäste muss man denn doch auch ein bisschen was herbeischaffen, damit sie nicht ganz trockensitzen.«

»Wer ist denn der hübsche junge Mann, der da mit Euch gekommen ist?«, flüsterte Cook dem jungen Lively zu, neben dem er stand. »Mir kommt das Gesicht bekannt vor.«

»Weiß der Teufel, wer er ist«, erwiderte James und warf dem Fremden einen keineswegs freundlichen Blick zu. »Eingeladen habe ich ihn nicht, und er behandelt Miss Adele, als ob er mit ihr aufgewachsen oder ihr Bruder wäre, und doch weiß ich, dass sie gar keinen Bruder hat.«

»Prächtiges Haar!«, sagte Cook.

»Prächtiges Haar?«, murmelte James verächtlich, »wie ein Bündel Flachs sieht es aus, und das käseweiße Gesicht könnte mir den ganzen Appetit verderben, wenn mir den nicht schon ohnedies seine Gegenwart verdorben hätte.«

Cook lächelte, es war nicht schwer, die Beweggründe zu durchschauen, die des jungen Mannes Ärger erregt hatten. Aber auch Adele schien etwas bemerkt zu haben, denn sie warf, während ihr Nachbar eifrig mit ihr sprach, mehrere Male halb lächelnde, halb ungeduldige Blicke zu ihm hinüber und rief ihn endlich, indes Mrs. Dayton eine lange Unterhaltung mit den beiden Farmersfrauen über Butter, Käse, junge Ferkel und alte Kühe hatte, an ihre Seite.

»Nun, Sir«, sagte sie und blickte den schon dadurch in die entsetzlichste Verlegenheit gebrachten Burschen mit den großen, glänzenden Augen so fest und durchdringend an, dass dieser, obwohl er gewiss die besten Vorsätze gehabt haben mochte, liebenswürdig zu erscheinen und die verwünschte Schüchternheit beiseite zu werfen, den breitrandigen Strohhut abnahm und ihn zwischen den Händen drehte. »Sie versprachen mir doch unterwegs, das Abenteuer zu erzählen, das Sie neulich mit dem alten Jaguar gehabt haben. Wie ich höre, hängt dort drüben an dem Persimonbaum das Fell. Herr Hawes hier behauptet eben, es sei einem einzelnen, bloß mit einem Messer bewaffneten Mann gar nicht möglich, einen Panther zu besiegen.«

»Nun, ich weiß nicht«, stotterte James, denn hier vor der jungen Dame von seinen Taten zu sprechen, kam ihm fast wie eine hässliche Prahlerei vor. »Ich weiß doch nicht – Mr. Hawes – es ist auch vielleicht …«

»… schwieriger, mit einem Jaguar anzubinden, als nachher erzählt«, sagte Hawes, und ein spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen. »Ja, ja, man vergisst bei solcher Erzählung gewöhnlich die Hunde, die ihre Leiber dem Feind bloßgegeben, schießt das Tier aus sicherer Ferne mit der Kugel nieder und stößt dem schon Verendeten das Messer noch ein paarmal in Brust und Weichen, um an dem aufgespannten Fell die Beweise unserer Heldentaten zu haben. Ich bin ja auch schon auf solcher Jagd gewesen.«

James blickte zu dem Sprecher auf, und schon das ganze Wesen des Mannes, der in nachlässiger Stellung dicht neben dem Mädchen lehnte, hatte etwas ungemein Widerwärtiges, ja Empörendes für ihn. Kaum begriff er aber den Sinn dieser Worte, die dem einfachen Hinterwäldler anfangs unverständlich blieben, als ihm das Blut schneller und heftiger in die Wangen schoss und auch seine bis dahin fast unüberwindbare Scheu und Verlegenheit mehr und mehr schwand.

»Wenn ich einmal behauptet habe«, sagte er, und seine Stimme wurde fast von aufloderndem Zorn erstickt, »ich hätte einen Panther im Zweikampf und mit dem Messer erlegt, so meine ich damit nicht, dass mir die Hunde oder Pulver und Blei dabei geholfen hätten. Ich weiß nicht, Fremder, wo ihr solche Ansichten gelernt haben mögt, aber hier in den Wald passen sie nicht. Kein Mann hier, den James Lively zu seinen Freunden zählt, würde eine Lüge sagen.«

»Bester Mr. Lively«, erwiderte lächelnd Hawes, in dessen Plan es keineswegs lag, Streit zu beginnen. »Sie wissen gewiss recht gut, dass das, man Jägergeschichten nennt, nicht unter die Rubrik Lügen gesetzt werden darf. Ein Jäger hat das Privileg, Poet zu sein, und wie der Novellist nicht in seiner Erzählung die trockenen Tatsachen rein und ungeschmückt hinstellen darf, so ist es jenem ebenfalls nicht allein erlaubt, sondern wird sogar teilweise verlangt, dass er seine Jagdabenteuer bunt einkleidet und,

wenn er keine zu bringen hat, aus einfachen Jagden interessante Jagdabenteuer macht.«

»Ich verstehe nicht recht, was Sie mit alledem meinen«, sagte James und leerte die ihm von seiner Mutter gereichte Tasse mit einem Zug. »Auch begreife ich nicht, wie man Jagdabenteuer machen kann. So viel ist aber gewiss, ich habe noch keinen Messerstich gegen ein Tier getan, wenn es nicht nötig war. Was übrigens die Haut da drüben betrifft, so war Cook hier Zeuge der ganzen Sache und hat gesehen, ob und wie ich sie erbeutet habe.«

»Bei den Messerstichen«, unterbrach hier der alte Lively das etwas ernsthaft werdende Gespräch noch zur rechten Zeit, »fällt mir eine Anekdote ein, die meinem Vater einmal begegnet ist.«

»Wollen Sie sich denn nicht setzen, Mr. Lively?«, redete hier Adele den jungen Farmer an und schob zugleich Ihren eigenen Stuhl etwas zurück, sodass dicht neben ihr auf einem dort liegenden Baumstamm ein Platz frei wurde. James machte auch schnell von der Erlaubnis Gebrauch, rückte aber, aus wirklich unbegründeter Furcht, seiner schönen Nachbarin lästig zu werden, so weit von ihr fort, wie ihm das die noch emporstehenden Äste gestatteten. Dadurch kam er freilich auch auf das scharfe und raue Holz zu sitzen. Trotzdem hätte er aber doch seinen Platz in diesem Augenblick nicht um den schönsten gepolsterten Stuhl der ganzen Vereinigten Staaten eingetauscht.

»Also, mein Vater …«, begann der alte Lively wieder.

»Komm, Alter, die Geschichte kannst du uns lieber drinnen erzählen«, fiel ihm da plötzlich die Frau ins Wort. »Es wird Nacht, die Sonne ist untergegangen, und die Damen aus der Stadt könnten sich erkälten. Das wäre mir nachher eine schöne Bescherung, wenn sie hier bloß zu uns herausgekommen sein sollten, um sich einen Schnupfen oder sonst noch was Schlimmeres zu holen.«

»Aber, liebe Mrs. Lively«, widersprach Mrs. Dayton, »es ist hier draußen ja noch so schön, und gerade jene wunderbaren Farben der mehr und mehr verblassenden Abendwolken geben dem dunklen Fichtenwald etwas so ungemein Reizendes und Romantisches.«

»Das mag alles recht gut sein«, sagte die alte Dame, »es klingt wenigstens sehr schön, die Sache bleibt sich aber doch gleich. Im Haus ist es besser, und wenn Mrs. Dayton die Wolken noch ein bisschen betrachten will, so kann sie das am bequemsten vom Haus aus tun. Jetzt aber komm, James, hilf die Sachen ins Haus bringen – wo ist denn Cook? Ach, der bringt die Hirschkeulen und Rippen hinein. Das ist gescheit von ihm. Einen Truthahn hat James auch heute Morgen geschossen. Du, Lively, magst die leere Kanne nehmen – so, Kinder nun kommt, in zehn Minuten können wir uns prächtig drinnen eingerichtet haben, und dann wollen wir munter und vergnügt sein. Es tut einer alten Frau, wie ich bin, wohl, einmal so viele liebe, freundliche Gesichter um sich zu sehen wie heute Abend.«

Und ohne weitere Einwände abzuwarten, fing Mrs. Lively selbst an, die umherliegenden Sachen ins Haus zu tragen, sodass die jungen Leute schon mit zugreifen mussten. Bald darauf saßen alle um den großen, in die Mitte gerückten Tisch fröhlich versammelt, und der alte Lively, der sich ganz in seinem Element zu fühlen schien, erzählte eine Menge von Jagdanekdoten und Abenteuern. Seine Frau aber lief indessen hin und her, trug alles auf, was Küche und Rauchhaus zu liefern vermochten, und hielt nur dann und wann in ihrem geschäftigen Eifer inne, um Adele und Mrs. Dayton zu sagen, wie sie sich freue, dass sie endlich einmal ihrer Einladung gefolgt wären und dass sie nun auch nicht daran denken dürften, sie unter sechs oder acht Tagen zu verlassen. Dass Adele am nächsten Tag schon eine Freundin am Mississippi besuchen wolle, lehnte sie energisch ab und erklärte, Mr. Hawes sei ihr ein sehr willkommener Gast, wenn er ihr aber die liebe Adele entführen wolle, dann habe er es mit ihr zu tun, und das nicht in Liebe und Güte.

James’ Herz klopfte wild und stürmisch. Deshalb also war jener glattzüngige Fremde mit hierher gekommen. Miss Adele wollte er schon am nächsten Morgen wieder mit fortnehmen. Pest – in welchem Verhältnis stand er eigentlich zu Adele? Wäre er am Ende gar …? Es überlief ihn siedendheiß.

»Miß Adele«, sagte er mit von innerer Bewegung erregter Stimme. »Sie … Sie wollen uns also verlassen?«

»Ja, Mr. Lively«, erwiderte das junge Mädchen, und ein schelmisches Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. »Mr. Hawes hier will mich auf seine neue Plantage führen zu … zu seiner Schwester.«

Hätte ein zündender Strahl in diesem Augenblick vor James Lively den Boden aufgerissen, ihm wäre das Blut in den Adern nicht schneller gestockt. Sie wollte Mr. Hawes’ neue Plantage besehen – seine Schwester besuchen – armer James, da war für dich wenig Aussicht! Gleich darauf strömte das Blut auch wieder aufwärts in Stirn und Schläfe, und er sprang, die innere Bewegung zu verbergen, von seinem Sitz hoch.

»He, James, wo willst du denn hin?«, fragte der Vater.

»Das übrige Hirschfleisch hinters Haus schaffen«, rief der Davoneilende zurück. »Es hängt hier vorn zu niedrig. Am Ende könnten sich doch die Hunde darüber hermachen.«

»Da hast du recht«, sagte der Alte, »daran hatte ich beinahe nicht gedacht. Da ist es hier einmal vor vierzehn Tagen beinahe komisch ergangen, die Geschichte muss ich Ihnen erzählen, Mr. Hawes.«

Und der vermeintliche Mr. Hawes, der mit einem höchst selbstzufriedenen Lächeln bemerkt hatte, weshalb James aufgestanden und hinausgegangen war, lieh scheinbar sein Ohr geduldig der Anekdote von einem erlegten Hirsch und den damit verknüpften Umständen. Tatsächlich aber lauschte er mit der gespanntesten Aufmerksamkeit den Worten der jetzt im eifrigsten Gespräch begriffenen Damen Dayton and Lively, die sich über eine Familie des Staates Georgia unterhielten, mit der Mrs. Dayton und Adele entfernt verwandt, wo aber die Letztere erzogen und wie das Kind im Haus behandelt worden war.

»Sie können sich fest darauf verlassen, Mrs. Dayton«, beteuerte die alte Dame, »Lively hat erst vorgestern einen Brief von dort erhalten. Lieber

Gott, wir sind ja dort sechzehn Jahre ansässig gewesen und kennen jedes Kind. Der alte Benwick soll seine Frau naur dreimal vierundzwanzig Stunden überlebt haben, und das Testament ist, dem Schreiben nach, schon am Mittwoch eröffnet worden. Sie können stündlich Nachricht erhalten.«

»Es kamen heute Morgen zwei Briefe an meinen Mann«, sagte Mrs. Dayton. »Das schienen aber Geschäftsbriefe zu sein, er hätte doch sonst gewiss etwas erwähnt.«

»Ei, die Gerichte nehmen sich auch bei so etwas Zeit, meine gute Mrs. Dayton«, erwiderte Mrs, Lively. »So geschwind sind sie nicht im Nachrichtenerteilen, besonders wenn es darauf ankommt, Geld außer Land zu schicken.«

»Welche von den beiden wäre Ihnen wohl lieber gewesen«, wandte sich jetzt der alte Lively plötzlich, und zwar so direkt an seinen Zuhörer, dass dieser zusammenfuhr und nur noch so viel Geistesgegenwart behielt, die Frage ins Blaue hinein zu beantworten.

»Die Erste, unbedingt die Erste.«

»Nun, sehen Sie, das freut mich«, sagte der alte Mann, »das war auch meine Meinung. James, sagte ich, du musst unbedingt die Erste nehmen, und – soll mich der Henker holen, wenn er es am Ende nicht doch noch gewann.«

»Wunderbar«, sagte Hawes zerstreut und hatte keine Ahnung davon, welche Letzte und Erste da gemeint und was eigentlich zu gewinnen gewesen wäre. Adele aber, die sich plötzlich von ihren beiden Nachbarn vernachlässigt sah, setzte sich hinüber zu Mrs. Cook, die eben die müden Rinder zu Bett gebracht hatte. Mit ihrer freundlichen Art und ihrem kindlichen Geplauder gewann sie sich das Herz derselben so sehr, dass diese mit einem freundlichen Händedruck ausrief: »Ach, Miss Adele, wie wünschte ich doch, dass Sie hier draußen bei uns blieben und eine wackere und tüchtige Farmersfrau würden. Sie sollten einmal sehen, wie es ihnen bei uns gefiele. Es ist gar zu hübsch hier, und besonders im Frühjahr und Sommer, wenn man in den Städten fast vor Hitze und Staub umkommt.«

»Mir gefällt es auch sehr gut auf dem Lande«, sagte Adele, und eine leichte Röte färbte ihre Wangen. »Aber wir armen Mädchen, Mrs. Cook,

müssen ja doch am Ende stets dahin gehen, wohin uns das Schicksal leitet, und ein Glück noch, wenn wir dabei der Stimme des Herzens folgen dürfen.«

»Ja, Miss Adele, das ist ein Glück«, erwiderte die wackere Frau. »Sie glauben gar nicht, wie leicht und gern man alles Überflüssige entbehren lernt, wenn man nur bei dem sein kann, den man so recht herzlich liebgewonnen hat. Es wird einem auch alles noch einmal so leicht, und Arbeiten, von denen man sonst gar nicht geglaubt hat, dass man sie verrichten könne, tun sich fast von selber.«

»Haben Sie ihre bisherige Farm ungern verlassen?«, fragte Adele.

»Wir? I nun, ja und nein«, sagte Mrs. Cook, »es war herrliches Land am Fourche la fave. Nach all dem Vorgefallenen ließ es sich erwarten, dass wir nun vor dem schlechten Gesindel dort Ruhe haben würden. Aber hier leben die Eltern und der Bruder. Und Vater, Mutter und James

sind so liebe, treffliche Leute, da glaubten wir denn beide, es sei besser, in deren Nähe zu wohnen und sie zu Nachbarn zu haben. Vielleicht sucht sich dann James mit der Zeit auch irgendwo ein Mädchen, das ihn gern hat, und dann könnten wir eine ganz prächtige kleine Rolonie bilden. Oh, Miss Adele, wenn Sie nur dann in die Nähe kämen!«

»Kommt, Kinder, es ist Zeit zum Schlafengehen«, sagte jetzt plötzlich der alte Lively, der seine Geschichte glücklich zu Ende gebracht hatte und nun müde geworden war. Der alte Mann hielt überhaupt auf regelmäßige Zeiteinteilung, und da des engen Raumes wegen der männliche und weiblicheTeil der Gäste für diese Nacht in verschiedenen Häusern unter­gebracht werden musste – die Damen sollten in Livelys, die Männer in Cooks Wohnhaus schlafen -, so konnte er selbst nicht eher zur Ruhe kommen, bis die anderen nicht ebenfalls ihre Schlafstätten aufgesucht hatten. Mrs. Dayton, die seine Gewohnheit kannte, schob deshalb auch ihren Stuhl zurück und gab damit das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch.

Adele wollte sich ebenfalls den anderen anschließen, als ihr Blick dem von James begegnete, der sich freilich, als wäre er bei einer Freveltat ertappt worden, schnell und schüchtern abwandte.

Adele aber, mit dem Gefühl, einen Fehler begangen zu haben, fürchtete fast und wusste selbst doch eigentlich nicht warum, dass sie ihn irgendwie verletzt hätte, und sagte leise: »Mr. Lively … ich … Sie sind wohl böse auf mich, dass ich die freundliche Einladung ihrer Eltern so wenig zu schätzen scheine und schon morgen wieder fort will? Es ist aber eine liebe Jugendfreundin von mir, die ich seit ihrer Heirat nicht gesehen habe, und, wenn ich Mrs. Lively nicht zur Last falle, dann komme ich recht bald wieder her und bleibe dann auch wohl längere Zeit hier. Es gefällt mir gut hier draußen – viel besser als in Helena.«

»Sie sind zu gütig, Miss Adele«, erwiderte James in größter Verlegenheit, »wie sollte ich denn böse auf Sie sein dürfen … ach … Sie wissen gar nicht …«

»Gute Nacht, Ladys«, sagte Hawes und trat ohne weitere Umstände zwischen die beiden, »Gute Nacht, Miss, schlafen Sie hübsch aus, denn wir haben einen scharfen Ritt vor uns.«

Die Hand des jungen Mädchens ergreifend, die er an seine Lippen drückte, verließ er schnell das Haus, und James, der jetzt zu seinem Schrecken sah, dass er der Letzte der Männer war und die Damen augenscheinlich warteten, allein gelassen zu werden, folgte ihm ebenso rasch. Mehr aus alter Gewohnheit nahm er noch seine Büchse und Kugeltasche über der Tür weg und mit zu dem eigenen Lager hinüber.

Er schlief nicht gern, wie er selbst sagte, ohne die Waffe in der Nähe zu wissen.

In Cooks Haus lag jedoch schon Cooks eigene Büchse über der Tür, und der junge Mann hing deshalb seine Kugeltasche über die eine Stuhllehne und stellte die Waffe in die Ecke neben sein Bett.