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Die Geschichte vom Werwolf Teil 19

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 19
Tod und Auferstehung

Die Morgenkühle rief Thibaut wieder ins Leben zurück. Er versuchte sich aufzurichten, aber ein stechender Schmerz machte ihm jede Bewegung unmöglich. Er lag auf dem Rücken, hatte gar keine Erinnerung und sah über seinem Kopf nichts als einen trüben grauen Himmel.

Er richtete sich mit großer Anstrengung etwas auf, stützte sich auf den Ellbogen und sah sich um. Der Anblick der ihn umgebenden Gegenstände erinnerte ihn an das Vorgefallene. Er erkannte die Öffnung in der Parkmauer, erinnerte sich seines Abenteuers mit der Gräfin und seines erbitterten Zweikampfes mit dem Grafen. Der Boden war drei Schritte um ihn vom Blut gerötet. Aber der Graf war nicht mehr da. Vermutlich hatte ihn sein Jäger in das Schloss gebracht. Ihn hatte man liegen lassen.

Thibaut hatte auf der Zunge alle unheilvollen Wünsche, die man seinem ärgsten Feind nachrufen kann. Aber während der Zeit, dass er noch die Gestalt des Barons Raoul behalten sollte, hatte er seine phantastische Gewalt verloren.

Dieser seltsame Zustand hatte noch bis halb zehn Uhr abends zu dauern. Es fragte sich freilich, ob er bis dahin leben würde. Er war etwas unruhig, denn wer würde sterben, er oder der Baron Raoul?

Am meisten aber beunruhigte ihn der Gedanke, dass er wieder schuld an seinem Unglück war. Er erinnerte sich, zu sich selbst gesagt zu haben: »Ich würde herzlich lachen, Baron Raoul, wenn der Graf von Mongobert dich überraschte. Es würde nicht so glimpflich abgehen, wie gestern Abend bei Magloire, es würde blutige Köpfe geben.«

Der erste Wunsch Thibauts war, wie wir gesehen haben, ebenso pünktlich in Erfüllung gegangen wie der zweite.

Thibaut richtete sich mit unerhörter Anstrengung und fürchterlichen Schmerzen so weit auf, dass er sich auf ein Knie stützte. In dieser Stellung bemerkte er in einem Hohlweg einige Leute, die nach Villers-Cotterets auf den Markt gingen. Er machte einen Versuch zu rufen, aber das Blut strömte ihm in den Mund und er glaubte zu ersticken.

Er steckte nun seinen Hut auf den Hirschfänger und gab Signale wie ein Schiffbrüchiger. Aber seine Kräfte schwanden von Neuem und er sank bewusstlos zu Boden.

Nach einer Weile kam er wieder zur Besinnung. Es schien, dass sein Körper wie in einem Nachen geschaukelt wurde.

Er schlug die Augen auf. Einige Bauern hatten ihn gesehen und sich des unbekannten, mit Blut bedeckten jungen Kavaliers erbarmt. Sie hatten aus Zweigen eine Tragbahre gefertigt und trugen ihn nach Villers-Cotterets. Aber im nächsten Dorf konnte der Verwundete die Bewegung nicht mehr ertragen. Die Träger brachten ihn zum Pfarrer, welcher sogleich zum Arzt schickte.

Thibaut nahm zwei Goldstücke aus Raouls Börse und gab sie den Bauern für die Mühe, welche sie mit ihm gehabt hatten.

De Pfarrer war vormals Vikar zu Vauparfonds und zugleich Erzieher Raouls gewesen. Wie alle Landpfarrer hatte er sich etwas mit Arzneikunde beschäftigt. Er untersuchte die Wunde seines vormaligen Zöglings. Die Klinge war unter dem Schulterblatt durch den rechten Lungenflügel gedrungen und zwischen der zweiten und dritten Rippe herausgekommen.

Er fand die Wunde gefährlich, aber er sagte nichts bis zur Ankunft des Arztes.

Der Arzt kam und untersuchte die Wunde. Er schüttelte bedenklich den Kopf.

»Lassen Sie ihm nicht zur Ader?«, fragte der Pfarrer.

»Wozu könnte das nützen?«, erwiderte der Arzt. »Im ersten Augenblick wäre es vielleicht von Nutzen gewesen, aber jetzt wäre es gefährlich, weil der Kranke ohnedies schon sehr erschöpft ist.«

»Was denken Sie von dem Verwundeten?«, fragte der Geistliche.

»Wenn die Wunde«, erwiderte der Doktor leise, »den gewöhnlichen Verlauf nimmt, so wird der Kranke wahrscheinlich diesen Tag nicht mehr überleben.«

»Sie geben ihn also auf?«

»Ein Arzt gibt nie einen Kranken auf, oder wenn er ihn aufgibt, so lässt er der Natur ihr Recht. Das Blut kann gerinnen und die Blutung gestillt werden, aber ein Husten kann das geronnene Blut auswerfen, und der Kranke ist verloren.«

»Sie glauben also, dass es meine Pflicht sei, den armen Raoul auf sein Ende vorzubereiten?«, fragte der Pfarrer.

»Ich glaube,« antwortete der Arzt, »Sie würden besser tun, ihn in Ruhe zu lassen. Er schlummert jetzt und würde Sie nicht hören, und später, wenn das Delirium eintritt, wird er Sie nicht verstehen.«

Der Doktor irrte sich. Der Verwundete hörte das Gespräch, welches für sein Seelenheil beruhigender war, als für sein leibliches Wohl.

Der Arzt legte an der Rückenwunde einen Verband an. Dieser bestand bloß in Charpie, welche von Zeit zu Zeit mit frischem Wasser angefeuchtet werden sollte. Die Brustwunde ließ er offen, verordnete aber kalte Umschläge. Dann schüttelte er einige Tropfen niederschlagender Arznei in ein Glas Wasser und empfahl dem Pfarrer, dem Kranken von Zeit zu Zeit einen Eßlöffel davon zu reichen.

Nachdem der Arzt diese Anordnung getroffen hatte, empfahl er sich mit dem Versprechen, am anderen Morgen wiederzukommen, aber er befürchtete, den Weg vergebens zu machen.

Thibaut hätte sich gern in das Gespräch eingemischt und seine Meinung über sich selbst gesagt, aber sein Geist war in dem ohnmächtigen Körper wie in einem Kerker gefangen. Er hörte indes den Geistlichen, der ihm zuredete, ihn schüttelte und aus seiner Erstarrung zu wecken versuchte. Bald stellte sich ein heftiges Wundfieber ein, seine Gedanken wurden verworren, der Mund tat sich auf und seine Zunge begann einige unverbindliche Worte zu lallen. Ja seinen Fieberphantasien zog sein früheres Leben wie eine Reihe von Traumbildern an ihm vorüber, wie er den Damhirsch verfolgte und verfehlte; wie er an den Baum gebunden und ausgepeitscht wurde; wie er mit dem schwarzen Wolf den Pakt abschloss; wie er vergebens sich bemühte, den satanischen Ring an Agnelettes Finger zu stecken; wie er sich umsonst bemühte, sich die ersten feurigen Haare auszureißen; wie er bei der schönen Müllerin war, sich seines Nebenbuhlers entledigte und in den Wald flüchtete, wo sich die Wölfe um ihn versammelten; wie er Bekanntschaft mit Dame Susanne machte, die Gastfreundschaft des Männleins missbrauchte, sich hinter dem Vorhang versteckte, von Magloire entdeckt, von dem Junker Jean verhöhnt und endlich hinausgetrieben wurde. Er sah sich in der hohlen Esche, von Wölfen und Eulen umgeben, er hörte die Musik und sah Agnelette mit den lustigen Hochzeitsgästen vorübergehen. Er fühlte noch einmal alle Qualen des Zornes und der Eifersucht. Er erinnerte sich, wie er sich durch Wein zu betäuben versuchte, er erkannte Francois Champagne und den Gastwirt, er hörte den Baron Raoul galoppieren, er fühlte, wie er in den Kot geworfen wurde. Dann sah er sich nicht mehr, er sah nur noch den schönen Kavalier, dessen Gestalt er angenommen hatte. Er umfasste den schlanken Leib Lisettes, berührte die Lippen der Gräfin. Es war kein Blut mehr, es war Feuer, das in seinen Adern strömte, und dieses Feuer schien ihn zu verzehren. Er wollte fliehen, aber plötzlich befand er sich auf einem Kreuzweg, der in allen Richtungen von seinen Feinden bewacht war. Markotte, Landry, der Graf grinsten ihn an.

Und mitten in diesen Fieberphantasien hörte er die Wanduhr des Pfarrers schlagen und zählte die Stunden. Aber diese Uhr schien ihm ungeheuer groß zu sein, das Zifferblatt schien sich über das ganze Himmelsgewölbe zu verbreiten. Die Stundenzahlen leuchteten wie Flammen.

So hörte er alle Stunden des Tages schlagen.

Endlich schlug es neun Uhr. Um halb zehn waren es vierundzwanzig Stunden, dass er Raoul und dieser Thibaut war.

Beim letzten Schlag fühlte er das Fieber nachlassen und in eine eisige Kälte übergehen. Er schlug die Augen auf, erkannte den Pfarrer, der vor seinem Bett kniete und betete. Die Wanduhr schlug ein Viertel auf zehn. Seine Sinne waren so scharf und fein geworden, dass er das Vorrücken des Minutenzeigers deutlich bemerkte.

Immer näher rückte der Zeiger dem entscheidenden Moment entgegen, es fiel kein Licht auf das Zifferblatt, aber es schien durch ein inneres Licht erhellt. Je näher der große Zeiger der Zahl sechs kam, desto banger wurde ihm zumute, und seine Brust wurde krampfhaft zusammengezogen. Seine Füße waren eiskalt und die Kälte stieg langsam, aber ohne Unterbrechung von den Füßen zu den Knien, zu den Schenkeln, in den Leib. Der Schweiß rann ihm von der Stirn und er hatte nicht die Kraft, ihn abzuwischen, ja nicht einmal jemanden zu rufen, der ihm diesen Dienst erwiese. Er fühlte, dass dieser Angstschweiß bald in Todesschweiß übergehen werde. Die sonderbarsten Gestalten tanzten vor seinen Augen. Er glaubte sich durch unsichtbare Flügel emporgehoben, in eine Dämmerung, welche weder Leben noch Tod ist, und gleichsam zwischen beiden die Mitte hält.

Endlich wurde die Dämmerung immer dunkler, die Flügelschläge immer langsamer und schwerfälliger, seine Augen schlossen sich, und wie ein wankender Blinder stieß er unaufhörlich an unbekannte Gegenstände. Dann glaubte er in eine unermessliche Tiefe, in einen bodenlosen Abgrund zu sinken, wo er indes einen hellen Glockenton hörte.

Es war ein einziger Glockenschlag.

Kaum war der Ton verhallt, so schrie der Verwundete laut auf.

Der Pfarrer stand auf und neigte sich gegen den Sterbenden.

Jener Schrei war der letzte Seufzer, der letzte Atemzug des Barons Raoul.

Es war halb zehn.