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Die Tauscher 13

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 13

Fräulein Levinsohn erwachte aus ihrer verbiesterten Erstarrung. Sie rammte den Fuß auf die Kupplung und schaltete herunter. Der Wagen wurde langsamer, was aber bedeutete, dass sie noch immer mit Fallgeschwindigkeit auf die Kurve zujagten.

Fräulein Levinsohn trat auf die Bremse. Sie bremste, hob den Fuß, bremste wieder und dann rammte sie mehrmals die Sohle ihres Sommerschuhs auf das Pedal. Ihr Mund öffnete sich. Sie schaute zu Florian, Panik in den Augen. Der warf sich nach vorne, zog sie aus dem Sitz und riss sie zu sich herüber. In Hammerstains Augenwinkeln wuchs die Eiche mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit. Seine Arme umfassten die Frau, seine Beine stießen sich vom Trittbrett ab. Für einen Moment waren sie in der Luft, die Frau versuchte zu schreien, dann spürte Hammerstain einen Zweig im Rücken. Er wurde umhergewirbelt, hielt die Frau fest und rutschte dann durch den Straßengraben, sein Rücken wurde aufgeschürft, sein Kopf schlug an alte Stöcke, aber er hielt die Frau fest und sorgte dafür, dass sie nicht verletzt wurde. Als der Schwung aufgebraucht war und er stöhnend still lag, fegte eine Explosion über sie weg und verteilte glühende Metallstücke in der Gegend.

Hammerstain richtete sich auf, trug Fräulein Levinsohn auf die Straße und stellte sie vorsichtig auf die Beine. Sie schwankte und er musste sie festhalten.

»Sie haben mich verspottet! Das war gemein!«

»Ich habe Ihnen das Leben gerettet. Das war heroisch.«

»Vorher haben Sie mich beleidigt.«

»Sie hätten wohl darauf verzichtet, von mir gerettet zu werden, wie?«

»De-fin-ni-tiv!«

»Das hätten Sie mir sagen sollen.«

»Ich war zu sehr mit dem Bremsen beschäftigt.«

»War wohl nicht sehr erfolgreich!«

Sara Levinsohn richtete mit energischen Handbewegungen ihre Kleidung, wischte ungeduldig Blätter und Halme vom Stoff. Ihre Hände zitterten. Schließlich blickte sie an sich herunter.

»Das Kleid dürfte hinüber sein.«

»So wie es die Bremse war.«

Fräulein Levinsohn blickte Hammerstain an.

»Sie haben Ihren Hut verloren«, stellte sie fest und ging dann die Straße entlang. Sie humpelte, weil sie nur noch einen Schuh hatte. Schließlich zog sie den anderen aus und warf ihn wütend in den Graben.

»Sie haben Ihr Auto verloren«, rief Florian ihr nach.

Sie drehte sich zu ihm um.

»Der Wagen ist komplett versichert, keine Sorge, Herr Hammerstain.«

Florian ging hinter ihr her. Er betrachtete die Straße, aber zugleich merkte er, wie der Schock und die Anspannung nachließen und Platz für den Schmerz machten. In seinem Kopf dröhnte es.

»Hier«, sagte er. Er sagte es leise zu sich selbst, aber Fräulein Levinsohn sah, wie er sich über die Straße beugte und kam, immer noch leicht humpelnd, zu ihm zurück. Gemeinsam betrachteten sie die Lache, die auf der Fahrbahn in der Sonne schillerte.

»Was ist das?«

»Bremsflüssigkeit«, antwortete Florian, »genau das Wässerchen, das in der Bremsleitung sein sollte, um die Bremsen zu aktivieren.«

Fräulein Levinsohn richtete sich auf und strich sich durch das Haar. Sie schaute auf die Kurve, wo die zerfetzten Überreste des Wagens unter der Eiche qualmten. Ein stechender Geruch nach verbranntem Gummi lag in der Luft. Jetzt erst schien sie wirklich zu begreifen, was geschehen war. Sie wurde kalkweiß und schaute Florian aus ihren großen Augen hilfesuchend an.

»Ich weiß nicht, ich hatte an einen Defekt gedacht«, murmelte sie.

»Da haben Sie ganz richtig gedacht«, sagte Florian, »allerdings hat jemand den Defekt mit einem Werkzeug herbeigeführt. Die Bremsleitung wurde angebohrt. Die Bremsflüssigkeit tropfte heraus, aber als Sie hart auf das Pedal traten, stieg der Druck an und die Leitung war blitzschnell leer.«

Aus der Entfernung, wohl vom Sanatorium her, kamen Autos herangerast. Die Explosion und die Rauchwolke ersetzten jeden Notruf.

Plötzlich begann Fräulein Levinsohn, Gras von Florians Anzug zu zupfen. Sie tat das mit spitzen Fingern und es wirkte irgendwie hilflos, als sollte es eine andere Geste ersetzen.

»Sie sind verletzt«, stellte sie fest.

»Das ist mein gutes Recht«, knurrte Florian, »außerdem haben Sie sich auch eine Sammlung blauer Flecken zugelegt.«

Bis die Wagen sie erreicht hatten, fanden sie noch mehrere große Flecken von Bremsflüssigkeit.

»Manetti war es«, sagte Fräulein Levinsohn entschieden, »der ist die ganze Zeit um den Wagen herumscharwenzelt.«

»Und warum sollte er das machen?«

Fräulein Levinsohn hob die Achseln, wirkte aber dennoch überzeugt von ihrer Theorie. »Neid vielleicht? Neid ist immer eine gute Vermutung. Oder ihm passte meine Nase nicht – na ja, früher habe ich mir selbst eine andere gewünscht.« Sie wandte sich Florian zu. »Oder waren Sie das Ziel des Anschlags?«

Sie fuhren mit einem Wagen zum Sanatorium und wurden erst einmal verarztet. Florian hatte es schlimm erwischt, er hatte Abschürfungen und Blutergüsse, einen steifen Nacken und überhaupt das Gefühl, sich in eine hölzerne Marionette mit eingerosteten Gelenken verwandelt zu haben.

»Dafür, dass Sie von einem rasenden Wagen abgesprungen sind, mit einer Dame im Gepäck, sind Sie bestens in Schuss«, lobte der Arzt, »Sie müssen so was geübt haben.«

Fräulein Levinsohn telefonierte mit ihrem Bruder und sprach mit der Polizei. Florian zog sich wieder an, obwohl sein Anzug nur noch ein Fall für die Mülltonne war. Er untersuchte den Platz vor der Eingangstreppe. Wie erwartet waren die hellen Kiesel zwischen den Radspuren des Wagens von Bremsflüssigkeit verfärbt. Während er und die Levinsohn sich im Sanatorium umschauten, war die Bremsleitung schon halb leer gelaufen. Florian richtete sich auf, wobei er sich mit den Händen auf den Schenkeln abstützen musste und ging zum Eingangstor.

»Manetti, ich bin sicher«, erklärte Fräulein Levinsohn. Sie saßen auf inzwischen dem Rücksitz eines Wagen, den ihr Bruder geschickt hatte.

»Nein, er war es nicht. Er würde so ein Objekt wie diesen Wagen nicht zerstören. Er bewundert ihn wie ein Kunstwerk.«

»Ich habe eine Laufmasche«, stellte Fräulein Levinsohn bestürzt fest. »Ist diese psychologische Eingebung Ihr einziges Argument? Soviel Empathie auf einmal?«, fragte sie dann ironisch.

»Mitnichten«, konterte Florian gelassen, »ich habe ein besseres Argument. Nämlich die Pfütze auf der Straße vor der Einfahrt.«

Fräulein Levinsohn, die ihren Rocksaum etwas hochgeschoben hatte und mit ihrem Strumpf zugange war, stockte. Florian schaute aus dem Fenster, konnte aber seine Blicke nicht unter Kontrolle halten. Also stellte Hammerstain fest, dass seine langgehegte Vermutung richtig gewesen war und seine Assistentin ein Fahrgestell der Premiumklasse hatte.

»Wenn Sie genug auf meine Beine geglotzt haben, dann erklären Sie mir mal Ihr Argument«, ätzte Fräulein Levinsohn.

»Verzeihung, aber es war nicht meine Idee, dass Sie hier Ihre Oberschenkel präsentieren.«

Sara Levinsohn gab ein empörtes Quietschen von sich und stellte ihre Laufmaschenreparatur ein. »Also«, fuhr sie ihn an.

»Nun, auf der Straße vor der Einfahrt ist ein größerer Fleck von Bremsflüssigkeit. Wie Sie sich vielleicht erinnern, Gnädigste, war das der Punkt, an dem Sie zum ersten Mal stark auf die Bremse traten. Also kann Manetti es nicht gewesen sein, weil das Loch schon vorher da war. Und daraus …«

»Daraus was?«, schnappte die Levinsohn.

»Daraus schließe ich, dass es um Ihren Bruder ging. Denn der ist ja der reguläre Fahrer des Wagens und der Täter ahnte wohl nicht, dass Sie sich das Geschoss mal eben ausleihen würden.«

»H-I«, murmelte Fräulein Levinsohn. Sie zog sich in die Ecke zurück und zog die Beine an. Während der ganzen Fahrt blieb sie so, das Kinn auf den Knien und schaute ins Leere.

Der Fahrer kurbelte die Trennscheibe herunter. »Wo soll ich die gnädigen Herrschaften absetzen?«

Florian warf einen Blick auf seine Begleiterin. »Zu meinem Bruder ins Büro«, sagte Fräulein Levinsohn.

Der Wagen bog in Richtung Innenstadt ab. Der Innenraum, in dem sie saßen, hatte Wohnzimmergröße und zwei sich gegenüber liegende Ledersofas. Der Fahrer saß hinter einer Windschutzscheibe, aber ohne den Schutz eines Daches vor der langen Motorhaube. Der Wagen musste weit ausschwenken, um von der Straße in die Einfahrt der Bank zu kommen.

Das Bankgebäude schwitzte in der Abendsonne förmlich Gediegenheit und Seriosität aus. Es war ein siebenstöckiger Palast mit einer Säulenfront. Ein Neubau schloss sich an und glitzerte mit seinen Glasflächen in der Sonne. Die Angestellten strömten durch die Türen in den Feierabend.

Das Büro von H-I lag in einem kleinen Anbau, der hinten heraus in einem kleinen Park lag. Hier hatten sich die Architekten nicht um eine wuchtige Geldburg bemüht, sondern ein leichtes, von Licht durchflutetes Gästehaus geschaffen.

Die Mitarbeiter im Vorzimmer, eine ältere Blondine und ein schlanker, schwarzhaariger junger Mann, zuckten nicht einmal mit der Wimper, als Fräulein Levinsohn und Hammerstain in ihrem derangierten Zustand auftauchten.

»Sie können sofort eintreten«, wurde den Besuchern kundgetan und dann humpelte Florian hinter Fräulein Levinsohn und der Blondine über einen langen Gang. Die Wände waren mit Porträts geschmückt, im Vorbeigehen las Florian die kleinen Namensschilder. In seinem zerfetzten Anzug kam er soeben an der Ahnengalerie der Levinsohn-Dynastie vorbei.

Bankdirektor Herman-Israel Levinsohn der Fünfte, von seiner Schwester Sara immer als H-I bezeichnet, begrüßte sie am Eingang des Arbeitszimmers.

Fräulein Levinsohn bekam eine zärtliche Umarmung und nahm ihrerseits den älteren Bruder auf eine Art in den Arm, die nicht zu ihr passte. Oder die Florian zumindest von ihr nicht erwartet hätte. H-I begrüßte Florian mit Handschlag und einem prüfenden Blick. Darin lag nicht unbedingt Misstrauen, aber doch so etwas wie Vorsicht.

»Schön, dass wir uns nun persönlich kennenlernen«, sagte Levinsohn, als sie alle Platz genommen hatten. Fräulein Levinsohn saß neben ihrem Bruder hinter dem festungsartigen Schreibtisch mit den drei Telefonen, Florian hatte sich mit Vorsicht auf den Rand eines Sessels gegenüber gesetzt. Auf einem Tischchen in der Nähe begann ein Fernschreiber zu rattern und spuckte einen Streifen Papier aus.

Der fünfte Levinsohn sah seiner Schwester unzweifelhaft ähnlich – dieselbe leicht überdimensionierte Nase, dieselben Wangenknochen und dieselben dunklen Augen. Levinsohn sah nicht schlecht aus, ein großer, stattlicher Mann, dem man das Alter nur am Bauchansatz ansah. Das schwarze volle Haar glänzte von Pomade und war nach hinten gekämmt.

Levinsohn betrachtete zuerst seine Schwester, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Fräulein Levinsohn lächelte ihn etwas entschuldigend an.

»Meine Schwester hat mir schon viel von Ihnen erzählt«, wandte sich H-I dann an Florian.

»Danke, dass Sie mich trotzdem durch die Tür gelassen haben.«

Fräulein Levinsohn lief rot an, ihr Bruder lächelte verschmitzt.

Das Lächeln verschwand, als Florian ihm den eigentlichen Anlass ihres Besuches erklärte.

H-I knöpfte seinen Kragen auf und bestellte Mineralwasser und Kaffee. »Und für Sie, Herr Hammerstain? Whisky, Wodka, Weinbrand?«

»Orangensaft, wenn möglich«, antwortete Florian. Den schnellen Blick, den H-I seiner Schwester zuwarf und deren erneutes Erröten bemerkte Florian sehr genau.

»Also war ich das Ziel des Anschlags?«, fragte H-I, als sie schweigend ihre Gläser geleert hatten. Fräulein Levinsohn goss sich eine Tasse Kaffee nach der anderen ein, beim Einschenken zitterte ihre Hand und die Tülle klapperte am Tassenrand.

»Das ist die logische Erklärung«, sagte Florian, »und daran schließt sich die Frage an, wann Sie den Wagen zum nächsten Mal benutzen wollten.«

H-I schaute auf die Schreibtischuhr. »Heute oder genauer, in einer Stunde.«

»Das passt. Wohin wollten Sie fahren?«

»Ich nehme den Wagen nur für private Fahrten. Heute wollte ich zu der Stifterversammlung der Universität fahren.«

»Um was geht es?«

Levinsohn stutzte, dann zog er eine Schublade auf und wühlte in den Papieren. »Ach so, die Sache mit dem Institut.«

Beim Stichwort Institut hoben Fräulein Levinsohn und Florian den Kopf.

»Welches Institut?«, fragte Fräulein Levinsohn schnell.

»Das Institut für hyperenergetische Substanzen«, lautete die Antwort, »es geht einfach darum, ob wir Gelder für ein Forschungsprojekt bewilligen oder nicht.«

»Wie war Ihre Position?«

»Ich war gegen die weitere Förderung«, antwortete H-I auf Florians Frage.

»Warum?«

»Weil wir diesem speziellen Projekt seit vier oder fünf Jahren Millionen von Reichstalern bewilligt haben, die den anderen Projekten im Institut fehlten. Ich halte das für ungerecht und darüber hinaus gab es bei diesem Projekt keinerlei positive Ergebnisse. Das Einzige, was die bisher zustande gebracht haben, ist giftiger Abfall. Es gibt da so eine Flüssigkeit, die C-Stoff genannt wird, hochgiftig und explosiv, allein um das Zeug loszuwerden, zahlt das Institut im Jahr Hunderttausende.«

»War Ihre Position bekannt?«

»Die hatte ich in den bisherigen Sitzungen schon geäußert.«

»Und hätte sich Ihre Position durchgesetzt?«

Fräulein Levinsohn antwortete für ihren Bruder. »Da die Familie Levinsohn der größte Geldgeber ist, hat ihre Meinung Einfluss«, erklärte sie etwas förmlich.

»Also Ja.«

»Ja«, bestätigte H-I.

Hammerstain nuckelte an seinem Orangensaft.

»Glauben Sie, dass mich wirklich jemand umbringen will«, erkundigte sich H-I besorgt, »mir ist klar, dass ein Bankier nicht nur Freunde hat, aber solche verbrecherischen Anschläge …«

»Nein, ich glaube, man wollte Sie einfach nur von der Sitzung fernhalten«, überlegte Florian, »der Täter musste davon ausgehen, dass Sie den Wagen erst am Abend benutzen. Das Bremssystem wäre zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich leer gewesen. Der Wagen stand auf dem Hof der Fahrbereitschaft, die Strecke zur Sitzung führt durch die Innenstadt, ist das zutreffend?«

Die Geschwister Levinsohn nickten im Gleichtakt.

»Nun, dann hätten Sie gar nicht die Chance gehabt, so schnell zu fahren wie Ihre Schwester. Es hätte also allenfalls einen kleinen Unfall gegeben. Nichts Schwerwiegendes, nur so, dass Sie nicht zur Sitzung kommen können. Was auch einleuchtend ist.«

»Wieso?«, fragten die Geschwister Levinsohn einstimmig.

»Weil der Tod eines bekannten Bankiers zu viel Staub aufwirbelt. Nein, es reichte dem Täter, Sie erst einmal von der Sitzung abzuhalten.«

Florian schwieg, aber Fräulein Levinsohn schaute ihn ernst an. Über ihrer Nasenwurzel waren zwei senkrechte Falten.

»Da ist noch was. Ich sehe es Ihnen an. Raus damit!«, befahl sie.

»Nun, es könnte bedeuten, dass der oder die Täter nur einen kleinen Aufschub wollen. Egal, was da im Hintergrund läuft – es ist fast erreicht.«