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Aëlita – Teil 20

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Aëlitas erste Erzählung

»Tuma, das heißt der Mars, war vor zwanzig Jahrtausenden von den Aolen bewohnt, einer orangefarbenen Rasse. Die wilden Stämme der Aolen waren Jäger und verzehrten die gigantischen Spinnen. Sie lebten in den Wäldern und Sümpfen am Äquator. Nur wenige Worte dieser wilden Stämme sind in unserer Sprache erhalten geblieben. Ein anderer Teil der Aolen bevölkerte das Land an den südlich gelegenen Meerbusen des großen Kontinents. Dort gibt es vulkanische Höhlen mit Salz- und Süßwasserseen. Die Bevölkerung fing Fische, trug sie in die Höhlen und warf sie in die Salzseen. In den tiefer gelegenen Höhlen retteten sie sich vor der Winterkälte. Bis heute sind dort noch Hügel von Fischgräten zu sehen.

Ein dritter Teil der Aolen hatte sich in der Nähe des Äquators angesiedelt, dort, wo aus dem Boden Geysire von trinkbarem Wasser schießen. Diese Stämme verstanden Wohnungen zu bauen, sie züchteten die langhaarigen Chaschi, führten Krieg mit den Spinnenfressern und verehrten den blutigen Stern Talzetl.

In einem dieser Stämme, die das gesegnete Land Azora bewohnten, tauchte ein ungewöhnlicher Schocho auf. Er war der Sohn eines Hirten und in den Bergen von Lysiasira aufgewachsen. Als er siebzehn Jahre alt war, stieg er hinab in die Siedlungen von Azora, wanderte aus einer Stadt in die andere und sprach so: ›Ich habe im Traum gesehen, dass der Himmel sich öffnete und ein Stern herabfiel. Ich trieb meine Chaschi zu dem Ort, wo der Stern heruntergefallen war. Dort sah ich den Sohn des Himmels im Gras liegen. Er war überaus groß von Wuchs, und sein Antlitz war weiß wie der Schnee auf den Gipfeln. Er hob den Kopf, und ich sah, dass von seinen Augen ein Leuchten ausging und Wahnsinn. Ich erschrak und fiel nieder und lag lange wie tot da. Ich hörte, wie der Sohn des Himmels meinen Hirtenstab ergriff und meine Chaschi forttrieb, und der Boden zitterte unter seinen Füßen. Und dann hörte ich noch seine laute Stimme, er sagte: Du wirst sterben, denn ich will es. Aber ich ging ihm nach, weil mir unsere Chaschi leidtaten. Ich hatte Angst, mich ihm zu nähern, denn von seinen Augen ging ein böses Feuer aus, und ich fiel jedes Mal zu Boden, um am Leben zu bleiben. So gingen wir mehrere Tage lang, entfernten uns von den Bergen und kamen in die Wüste.

Der Sohn des Himmels schlug mit dem Stab gegen einen Stein, und es kam Wasser heraus. Die Chaschi und ich tranken von diesem Wasser. Und der Sohn des Himmels sagte zu mir: Du sollst mein Sklave sein. Danach weidete ich seine Chaschi, und er warf mir die Überreste seiner Nahrung zu.

So sprach der Hirt zu den Bewohnern der Städte. Und er sagte noch: Die zahmen Vögel und friedlichen Tiere leben, ohne zu wissen, wann das Verderben kommt. Doch schon hat der raubgierige Ichi die spitzen Flügel ausgebreitet über dem Kranich, und die Spinne hat ihr Netz gesponnen, und die Augen des furchtbaren Tscha funkeln im blauen Dickicht. Fürchtet euch. Ihr habt nicht so scharfe Schwerter, um den Bösen zu besiegen. Ihr habt nicht so starke Mauern, um euch vor ihm zu schützen. Ihr habt nicht so lange Beine, um dem Bösen zu entrinnen. Ich sehe einen feurigen Streifen am Himmel, und der böse Sohn des Himmels wird auf eure Siedlungen herabfallen. Sein Auge ist wie das rote Feuer des Talzetl.

Die Bewohner des friedlichen Azora erhoben voll Entsetzen die Hände, als sie diese Worte hörten. Und der Hirt sprach weiter: Wenn aus dem Dickicht die Augen des blutdürstigen Tscha dich suchen – werde zum Schatten, und die Nase des Tscha riecht nicht den Geruch deines Blutes. Wenn der Ichi aus einer rosigen Wolke niederstürzt – werde zum Schatten, und seine Augen werden vergeblich im Gras nach dir suchen. Wenn beim Licht der beiden Monde Olla und Litcha nachts die böse Spinne, die Zitli, um deine Hütte ihr Netz webt – werde zum Schatten, und die Zitli kann dich nicht fangen. Werde zum Schatten, armer Sohn des Tuma. Nur das Böse zieht das Böse an. Halte dir alles fern, was mit dem Bösen verwandt ist. Vergrabe deine Unvollkommenheit unter der Schwelle deiner Hütte. Geh zu dem großen Geysir Soam und wasche dich. Und du wirst dem bösen Sohn des Himmels unsichtbar sein – vergebens wird sein blutiges Auge deinen Schatten durchbohren.

Die Bewohner von Azora hörten auf den Hirten. Viele folgten ihm zu dem runden See, zu dem großen Geysir Soam.

Dort fragten einige: Wie ist es möglich, das Böse unter der Schwelle der Hütte zu vergraben?

Einige wurden zornig und schrien dem Hirten zu: Du betrügst uns, beleidigte Bettler haben dich angestiftet, unsere Wachsamkeit einzuschläfern, damit sie sich unserer Wohnstätten bemächtigen können. Andere sprachen untereinander: Lasst uns den wahnsinnigen Hirten auf einen Felsen führen und in den kochenden See werfen, mag er selbst zum Schatten werden.

Als der Hirt dies vernahm, ergriff er seine Ulla, eine hölzerne Flöte, an deren unterem Ende über ein Dreieck Saiten gezogen waren, setzte sich inmitten der Zornigen, Gereizten und Verständnislosen nieder und begann zu spielen und zu singen. Und er sang und spielte so schön, dass die Vögel verstummten, der Wind aufhörte zu wehen, die Herden sich niederlegten und die Sonne am Himmel stehenblieb. Jedem der Zuhörenden schien es in jener Stunde, dass er seine Unvollkommenheit bereits unter der Schwelle seiner Hütte begraben habe.

Drei Jahre lang lehrte der Hirt. Im vierten Sommer kamen die Spinnenfresser aus den Sümpfen und überfielen die Bewohner von Azora. Der Hirt ging durch die Siedlungen und sagte: Überschreitet nicht die Schwelle, fürchtet das Böse in euch, fürchtet, die Reinheit zu verlieren.

Sie hörten auf ihn, es gab auch einige, die den Spinnenfressern nicht widerstreben wollten, und die Wilden erschlugen sie auf den Schwellen ihrer Hütten. Da verabredeten sich die Ältesten der Städte untereinander. Sie nahmen den Hirten, führten ihn auf einen Felsen und warfen ihn hinunter in den See.

Die Lehre des Hirten hatte sich weit über die Grenzen Azoras verbreitet. Sogar die Bewohner der Höhlen am Meer haben ihn auf ihren Felswänden, auf der Ulla spielend, dargestellt. Aber es war auch so, dass die Führer anderer Stämme jeden zum Tode verurteilten, der den Hirten verehrte, weil sie seine Lehre für gefährlich und für Wahnsinn hielten. Und es kam die Stunde, da die Prophezeiung sich erfüllte. In den Chroniken jener Zeit steht geschrieben: Vierzig Tage und vierzig Nächte lang fielen die Söhne des Himmels auf den Tuma herab. Der Stern Talzetl ging nach dem Abendrot auf und glühte in ungewöhnlichem Licht, wie ein zorniges Auge. Manche Söhne des Himmels fielen tot hernieder, manche zerschellten an den Felsen oder ertranken im südlichen Ozean, aber viele erreichten die Oberfläche des Tuma und lebten.

Dies berichtet die Chronik von der großen Übersiedlung der Magazitl, das heißt, des Stammes einer irdischen Rasse, die bei einer Wasserflut vor zwanzigtausend Jahren umgekommen ist.

Die Magazitl flogen in bronzenen, eiförmigen Apparaten und bedienten sich zu ihrer Bewegung der Kraft des Zerfalls der Materie. Sie verließen die Erde während der Dauer von vierzig Tagen.

Eine große Anzahl der gigantischen Eier gingen im Sternenraum verloren, viele zerschellten an der Oberfläche des Mars. Eine kleine Zahl ging ohne Schaden auf den Ebenen des Kontinents am Äquator nieder.

Die Chronik sagt: Sie kamen heraus aus den Eiern, überaus groß von Wuchs und schwarzhaarig. Die Söhne des Himmels hatten gelbe, flache Gesichter. Ihre Leiber und Knie bedeckte ein bronzener Panzer. Auf dem Helm hatten sie einen spitzen Kamm, und der Helm deckte ihr Gesicht auch von vorn. In der linken Hand trug der Sohn des Himmels ein kurzes Schwert, in der rechten eine Schriftrolle mit den Formeln, welche die armen und unwissenden Völker des Tuma ins Verderben stürzten.

Das waren die Magazitlen, ein grimmiger und mächtiger Stamm. Auf der Erde beherrschten sie auf dem Kontinent, der auf den Boden des Ozeans gesunken ist, die Stadt der Hundert Goldenen Tore.

Als sie hier die bronzenen Eier verließen, gingen sie in die Siedlungen der Aolen, nahmen, was sie wollten, und erschlugen die, die sich ihnen widersetzten. Sie trieben die Herden der Chaschi auf die Ebenen und begannen Brunnen zu graben. Sie pflügten die Felder und säten darauf Gerste. Doch in den Brunnen war wenig Wasser, und die Körner der Gerste gingen in dem trockenen und unfruchtbaren Boden nicht auf. Da befahlen sie den Aolen, hinauszugehen auf die Ebenen und Bewässerungskanäle zu graben und große Wasserbehälter zu bauen.

Manche der Stämme gehorchten und gingen hinaus und gruben Kanäle. Manche aber sagten: Wir gehorchen nicht und werden die Ankömmlinge töten. Die Heere der Aolen zogen hinaus auf die Ebene und bedeckten sie gleich einer Wolke.

Die Ankömmlinge waren nicht zahlreich. Aber sie waren stark wie Felsen, machtvoll wie die Wogen des Ozeans, grimmig wie der Sturm. Sie fegten die Heere der Aolen hinweg und vernichteten sie. Die Siedlungen brannten. Die Herden verliefen sich. Die wilden Tscha kamen aus den Sümpfen und zerrissen Kinder und Frauen. Die Spinnen webten ihre Netze um die leeren Hütten. Die Leichenfresser, die Ichi, wurden so fett, dass sie nicht mehr zu fliegen vermochten. Das Ende der Welt war nahe.

Da erinnerten sich die Aolen der Prophezeiung: Werde zum Schatten vor dem Bösen, armer Sohn des Tuma, und das blutige Auge des Himmelssohnes wird deinen Schatten vergebens durchbohren. Viele Aolen gingen zum großen Geysir Soam. Viele gingen in die Berge und hofften dort, in den nebligen Schluchten, das vom Bösen reinigende Lied der Ulla zu hören. Viele teilten miteinander ihren Besitz. Sie suchten in sich selbst und untereinander das Gute und begrüßten das Gute mit Liedern und Tränen der Freude. In den Bergen von Lysiasira erbauten diejenigen, die an den Hirten glaubten, die Heilige Schwelle, unter welcher das Böse begraben lag. Drei Kreise nie verlöschender Feuer behüteten die Schwelle.

Die Heere der Aolen waren umgekommen. In den Wäldern waren die Spinnenfresser vernichtet worden. Die Überreste der Fischer an der Küste des Ozeans wurden Sklaven. Aber denen, die an den Hirten glaubten, taten die Magazitlen nichts zuleide, sie rührten nicht an die Heilige Schwelle, sie näherten sich nicht dem Geiser Soam und sie betraten auch nicht die tiefen Bergschluchten, denen um die Mittagsstunde der hindurchwehende Wind geheimnisvolle Töne entlockte – das Lied der Ulla.

So vergingen viele blutige und traurige Jahre.
Die Fremdlinge hatten keine Frauen. Die Eroberer mußten sterben, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Und da erschien in den Bergen, wo die Aolen sich verbargen, ein Bote, ein Magazitl, und er war schön von Angesicht. Er war ohne Helm und Schwert. In der Hand hielt er einen Stab mit einem daran gebundenen Fadengespinst. Er näherte sich den Feuern der Heiligen Schwelle und sprach zu den Aolen, die aus allen Schluchten zusammengekommen waren: Mein Kopf ist ungeschützt, meine Brust entblößt – tötet mich mit dem Schwert, wenn ich eine Lüge sage. Wir sind mächtig. Wir beherrschten den Stern Talzetl. Wir haben den Sternenweg durchflogen, den man die Milchstraße nennt. Wir haben uns den Tuma unterworfen und die uns feindlich gesinnten Stämme vernichtet. Wir haben angefangen, Wasserbehälter und große Kanäle zu bauen, um darin das Wasser zu sammeln und die bis dahin unfruchtbaren Ebenen des Tuma zu bewässern. Wir werden die große Stadt Soazera erbauen, das bedeutet Sonnenstätte, wir werden allen das Leben geben, die das Leben wollen. Aber wir haben keine Frauen, und wir müssen sterben, ohne die Bestimmung erfüllt zu haben. Gebt uns eure Jungfrauen, und wir werden mit ihnen einen mächtigen Stamm zeugen, und er wird die Kontinente des Tuma bevölkern.
Der Bote legte den Stab mit dem Gespinst am Feuer nieder und setzte sich mit dem Gesicht zur Schwelle. Seine Augen waren geschlossen. Und alle sahen auf seiner Stirn das dritte Auge, es war bedeckt von einem dünnen Häutchen und sah wie entzündet aus.
Die Aolen berieten sich und sprachen untereinander: In den Bergen reicht das Futter nicht für das Vieh, und es ist wenig Wasser vorhanden. Im Winter erfrieren wir in den Höhlen. Die starken Winde tragen unsere Hütten fort in die bodenlosen Schluchten. Lasst uns dem Boten gehorchen und an unsere heimischen Herde zurückkehren.
Und die Aolen zogen aus den Schluchten der Berge in die Ebene von Azora, die Herden der Chaschi trieben sie vor sich her. Die Magazitlen nahmen die Jungfrauen der Aolen und zeugten mit ihnen den blauen Stamm der Gor. Zur selben Zeit wurde mit der Errichtung von sechzehn gigantischen zirkusartigen Bauten, den Ro, begonnen, in denen sich das Wasser während der Zeit der Schneeschmelze an den Polen sammelte.
Neue Siedlungen der Aolen erstanden aus der Asche. Die Felder gaben reiche Ernten.
Die Mauern Soazeras wurden gebaut. Beim Bau der Wasserbehälter und der Mauern verwandten die Magazitlen gigantische Hebemaschinen, die mittels erstaunlicher Mechanismen in Bewegung gesetzt wurden. Kraft ihres Wissens waren die Magazitlen imstande, große Steine von einem Ort zum anderen zu bewegen und das Wachstum der Pflanzen hervorzurufen. Mit farbigen Flecken und Sternenzeichen zeichneten sie ihr Wissen in Büchern auf.
Als der letzte Fremdling von der Erde starb, ging mit ihm auch das Wissen verloren. Erst nach zwanzig Jahrtausenden war es uns, den Nachkommen des Stammes Gor, wieder möglich, die geheimen Bücher der Atlantiden zu lesen.«