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Aëlita – Teil 19

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Auf der Treppe

Sieben Tage waren vergangen. Wenn Losj sich später an diese Zeit erinnerte, erschien sie ihm als eine blaue Dämmerung, als ein wunderbares Ausruhen mit einer langen Reihe im Wachen erlebter Traumbilder.

Losj und Gussew erwachten morgens sehr früh. Nach dem Bad und einer leichten Mahlzeit begaben sie sich in die Bibliothek. Auf der Schwelle wurden sie von Aëlitas aufmerksamen und freundlichen Augen empfangen. Sie sprach Worte, die sie schon beinahe verstanden. In der Stille und dem Halbdunkel dieses Raumes wie in den leisen Worten Aëlitas war das Empfinden einer unaussprechlichen Ruhe. Die Feuchtigkeit ihrer Augen schimmerte, die Augen weiteten sich zur Sphäre, und dort glitten Traumbilder vorüber. Schatten liefen über eine Scheibe. Worte drangen ohne jede Anstrengung des Willens in das Bewusstsein.

Die Worte – zuerst nur Laute, dann wie durch einen Nebel aufblitzende Begriffe – füllten sich allmählich mit dem Saft des Lebens. Wenn Losj jetzt den Namen Aëlita aussprach, erregte er sein Gefühl in zweifacher Weise: durch die Traurigkeit des ersten Wortes AE, welches bedeutete das zum letzten Mal Sichtbare, und durch das Empfinden von silbernem Licht:

LITA, was soviel wie Licht des Sternes hieß. So ergoss sich die Sprache der neuen Welt als feinste Materie in das Bewusstsein.

Sieben Tage lang dauerte diese Bereicherung. Der Unterricht fand morgens und nach dem Sonnenuntergang bis Mitternacht statt. Schließlich wurde Aëlita jedoch offenbar müde. Am achten Tage wurden die Gäste nicht geweckt und sie schliefen bis zum Abend durch.

Als Losj sich vom Bett erhob, sah er durch das Fenster, dass die Bäume lange Schatten warfen. Ein Vogel pfiff kristallklar und eintönig. Losj zog sich schnell an, und ohne Gussew zu wecken, begab er sich in die Bibliothek; auf sein Klopfen antwortete jedoch niemand. Da ging Losj zum ersten Mal in diesen sieben Tagen hinaus ins Freie.

Die Wiese zog sich sanft abfallend zum Hain und zu den niedrigen Gebäuden hin. Dorthin trottete soeben unter traurigem Gebrüll die Herde der langhaarigen plumpen Tiere, der Chaschi, die halb an Bären, halb an Kühe erinnerten. Die schrägen Strahlen der Sonne vergoldeten das krause Gras, die ganze Wiese loderte in feuchtem Gold. Smaragdgrüne Kraniche flogen über den See. In der Ferne trat, vom Abendrot übergossen, der schneeige Kegel eines Berggipfels hervor. Auch hier herrschten Ruhe und die Traurigkeit des in Frieden und Gold scheidenden Tages.

Losj ging auf dem ihm bekannten Pfad zum See. Die himmelblauen Bäume mit den hängenden Zweigen standen zu beiden Seiten, er erblickte dieselben Ruinen hinter den gefleckten Stämmen, es war dieselbe Luft – dünn und kühlend. Doch Losj schien es, als erblickte er erst in diesem Augenblick diese wunderbare Landschaft, als hätten sich seine Augen und Ohren geöffnet – er kannte nun die Namen der Dinge.

In leuchtenden Flecken glitzerte der See durch die Zweige. Als aber Losj zum Wasser kam, war die Sonne bereits untergegangen. Leichte Flammenzungen, die feurigen Federn des Abendrots, liefen über den halben Himmel und umfassten ihn, golden lodernd. Aber sehr schnell überzog sich das Feuer mit Asche, der Himmel klärte sich, und jetzt entzündeten sich auch schon die Sterne. Die seltsamen Umrisse der Sternbilder spiegelten sich im Wasser. An einer Krümmung des Sees, neben der Treppe, erhoben sich die schwarzen Konturen der beiden steinernen Giganten, Wächter der Jahrtausende. Ihre Gesichter waren den Sternbildern zugewandt.

Losj näherte sich der Treppe. Seine Augen hatten sich noch nicht an die rasch eintretende Dunkelheit gewöhnt. Er stützte sich mit dem Ellbogen auf den Sockel der Statue und atmete die feuchte Luft des Sees ein und den bitteren Duft der Wasserblumen. Die Spiegelungen der Sterne verschwammen im See, über dem Wasser rauchte ein ganz feiner Nebel. Die Sternbilder aber leuchteten immer heller, und jetzt waren die eingeschlafenen Zweige, die aufblitzenden Steinchen am Ufer und das lächelnde Gesicht des sitzenden Magazitl deutlich zu sehen.

Losj stand und schaute so lange, bis sein auf dem Stein ruhender Arm eingeschlafen war. Da trat er weg von der Statue, und sogleich erblickte er unten an der Treppe Aëlita. Sie saß unbeweglich und sah auf die Widerspiegelung der Sterne in dem schwarzen Wasser.

»Aiu tu ira chas’che, Aëlita«, sprach Losj und horchte voller Verwunderung auf die seltsamen Laute seiner Worte. Er sprach sie mit Mühe aus, als hindere ihn eine große Kälte daran. Sein Wunsch Darf ich bei Ihnen sein, Aëlita? hatte sich von selbst in diese fremden Worte gekleidet.

Aëlita wandte langsam den Kopf und sagte: »Ja.«

Losj setzte sich neben sie auf eine Stufe. Aëlitas Haar war mit einer schwarzen Kappe, der Kapuze ihres weiten Umhangs, bedeckt. Er konnte ihr Gesicht im Licht der Sterne erkennen, aber die Augen waren nicht zu sehen, nur die großen Schatten der Augenhöhlen.
Ruhig, mit einer etwas kühlen Stimme fragte sie: »Sind Sie glücklich gewesen, dort, auf der Erde?«
Losj antwortete nicht sogleich. Er sah sie aufmerksam an. Ihr Gesicht war unbeweglich, der Mund traurig geschlossen.
»Ja«, erwiderte er, »ja, ich bin glücklich gewesen.«
»Worin besteht das Glück bei Ihnen auf der Erde?«
Losj sah sie wiederum aufmerksam an. »Wahrscheinlich besteht das Glück bei uns auf der Erde darin, sich selbst zu vergessen. Glücklich ist derjenige, in dem die Fülle ist und die Eintracht und das Verlangen, für die zu leben, die ihm diese Fülle, Eintracht und Freude geben.«
Jetzt wandte sich Aëlita ihm zu. Ihre großen Augen wurden sichtbar, die voller Staunen auf diesen weißhaarigen Riesen, den Menschen, blickten.
»Solch ein Glück kommt in der Liebe zu einer Frau«, sagte Losj.
Aëlita wandte sich ab. Die spitze kleine Kapuze auf ihrem Kopf zitterte. Lachte sie vielleicht? Nein. Oder begann sie zu weinen? Nein, Losj bewegte sich unruhig auf der moosbewachsenen Treppenstufe. Da sagte Aëlita mit leicht bebender Stimme: »Warum haben Sie die Erde verlassen?«
»Die, die ich liebte, ist gestorben«, sagte Losj. »Ich hatte nicht die Kraft, meine Verzweiflung zu überwinden, das Leben war schrecklich für mich geworden. Ich bin ein Flüchtiger und ein Feigling.«
Aëlita befreite ihre Hand und legte sie auf Losjs große Hand. Sie berührte diese nur kurz und nahm sie wieder zurück, unter den Umhang.
»Ich wusste, dass dies in meinem Leben geschehen würde«, sprach sie wie gedankenverloren. »Schon als kleines Mädchen hatte ich merkwürdige Träume. Ich sah im Traum hohe grüne Berge. Helle Flüsse, nicht wie die unseren. Wolken, riesige weiße Wolken, und Regen – Ströme von Wasser. Und Menschen, die Riesen waren. Ich glaubte, ich würde wahnsinnig. Später hat mir mein Lehrer gesagt, das sei asch’che, das Zweite Gesicht. In uns, den Nachkommen der Magazitl, lebt die Erinnerung an ein anderes Leben, es schlummert in uns das asch’che wie ein nicht aufgegangenes Samenkorn. Asch’che – das ist eine furchtbare Macht, eine große Weisheit, aber ich weiß nicht, was Glück ist.«
Aëlita streckte jetzt beide Hände aus dem Umhang hervor und schlug sie wie ein Kind zusammen. Die kleine Kapuze zitterte wieder.
»Schon viele Jahre komme ich nachts auf diese Treppe und schaue auf die Sterne. Ich weiß viel. Ich versichere Ihnen, ich weiß Dinge, die Sie niemals wissen dürfen und auch nicht zu wissen brauchen. Aber glücklich war ich nur, wenn ich in der Kindheit von Wolken träumte, von den Wolken, den Wasserströmen, den grünen Bergen und von den Riesen. Mein Lehrer warnte mich. Er sagte, dass ich untergehen würde.« Sie wandte Losj das Gesicht zu, und plötzlich flog ein Lächeln darüber hinweg.
Losj wurde es unheimlich. So wunderbar schön war Aëlita, ein so gefährlicher, bittersüßer Duft ging von ihrem Umhang, der kleinen Kapuze, von ihren Händen, dem Gesicht, von ihrem Atem aus.
»Der Lehrer sagte: ›Das chao wird dich verderben.‹ Dieses Wort bedeutet Abstieg.«
Aëlita wandte sich ab und schob die Kapuze des Umhangs tiefer über die Augen.
Nach einem Schweigen sagte Losj: »Aëlita, erzählen Sie mir von Ihrem Wissen.«
»Das ist ein Geheimnis«, sagte sie ernst, »aber Sie sind ein Mensch, ich werde Ihnen viel zu erzählen haben.«
Sie hob das Gesicht. Die großen Sternbilder zu beiden Seiten der Milchstraße glänzten und flimmerten, als ginge ein Windhauch der Ewigkeit über ihr funkelndes Licht hinweg.

Aëlita atmete tief auf. »Hören Sie zu«, sagte sie, »hören Sie mir aufmerksam und ruhig zu.«