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Die Totenhand – Teil 54

Die-TotenhandDumas-Le Prince
Die Totenhand

Fortsetzung von Der Graf von Monte Christo von Alexander Dumas
Dritter Band
Kapitel 14 – Letzte Nacht auf der Insel Monte Christo

Nach der letzten Unterredung zwischen Edmund Dantès und Benedetto hätte man glauben sollen, die Insel sei vollständig verödet geblieben. Eine kleine Barke, deren Furche andeutete, dass sie eine der Buchten zwischen den Felsen verlassen hatte, steuerte in der Richtung gegen die französische Küste, während eine andere, noch kleinere an der südlichen Küste vor Anker lag. Tiefes Schweigen herrschte auf den finsteren Gewässern.

Die Insel begann mit der Abenddämmerung zu verschwinden, und man unterschied in der Ferne kaum noch die Gipfel der Felsen, welche von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne vergoldet wurden. Gleichwohl war die Insel nicht so verödet, wie es schien. Ein Mann ging mit langsamen abgemessenen Schritten zwischen den Felsen umher. Dieser Mann war Edmund Dantès.

Er stieg in der Richtung einer jener Abgründe der Insel hinab, welche durch den Spalt zwischen zwei Felsen gebildet wurden. Sein Schritt war fest und sicher, ungeachtet der Finsternis, die ihn bereits umgab und die ohne Zweifel den Gang jedes anderen Menschen gehemmt haben würde. Es schien, als leuchte ein Stern ihm an den Abgründen vorüber, die er zu vermeiden wusste. In dem Maße, wie er tiefer niederstieg, senkte sein Kopf sich auf die Schulter, und seine Augen richteten sich zu dem dunklen Himmel empor, als wäre an demselben ein Bild zu sehen, das ihm antwortete. Einige Augenblicke darauf drang ein Lichtstrahl durch die Spalten der Felsen und fiel auf den Weg, den Edmund Dantès verfolgte. Er blieb plötzlich stehen, wie überrascht durch dieses Ereignis und blickte umher, gleich einem Menschen, der aus dem Schlaf, aus dem Traum erwacht. Verwundert, dieses Licht auf der Insel zu sehen, die er für menschenleer hielt, ging er darauf zu und erblickte etwa einen Flintenschuss weit von dem Ufer entfernt ein Feuer, an welchem drei Männer saßen.

Edmund Dantès erinnerte sich, dass auf Befehl Benedettos ein kleines Boot zurückgeblieben war, um ihn zu erwarten. In der Tat brannte das Feuer in der Nähe des ihm bezeichneten Ortes.

Eine halbe Stunde darauf, während welcher Edmund stehen blieb, gestützt gegen einen gewaltigen Granitblock, die Stirn in die Hände gepresst und die drei Matrosen betrachtend, die ruhig miteinander zu plaudern schienen, standen sie auf und ließen das Feuer brennen, als ob es zu einem Signal dienen sollte, sprangen in einen Kahn und verschwanden.

Edmund Dantès ging hierauf zu dem Ufer hinab, suchte einige trockene Kräuter zusammen, wand sie in seiner Hand, benetzte sie mit dem Wasser des Meeres und zündete sie an dem Feuer an. Dann durch das Licht dieser improvisierten Fackel gestützt, kehrte er aufs Neue nach dem Inneren der Insel zurück und stieg weiter hinab in den Abgrund. Nach kurzer Zeit gelangte er zu dem Fuß des höchsten Felsens, auf dessen Gipfel, der sich in den Wolken verlor, er einige Jahre zuvor seine gierigen Blicke gerichtet hatte, um ihn über die ungeheueren Schätze zu befragen, die nach der Versicherung des Abbé von Floria hier verborgen sein sollten.

Edmund Dantès blieb stehen, erhob seine Fackel über den Kopf und blickte langsam rings umher, soweit die Strahlen seines flackernden Lichtes drangen. Dann heftete er seine Blicke auf einen Gegenstand, den er in einer geringen Entfernung erblickte, ließ den Arm, der die Fackel hielt, hinabgleiten, senkte den Kopf auf die Brust und murmelte: »Haydee!«

Der Ausdruck, mit welchem Edmund diesen einfachen Namen sprach, war ein eigentümliches Gemisch der Liebe, des Schmerzes und der Reue, ein Ausdruck, der kaum für den verständlich ist, welcher nie gleich ihm plötzlich, gleich den Bildern eines Traumes, alles hatte verschwinden sehen, was ihm im Leben das Teuerste war.

Edmund vergoss indes nicht jene bitteren, aber erleichternden Tränen, wie sie ein unglücklicher Mensch vergießt und die für uns die Strenge des Schicksals zu mildern scheinen, von dem wir getroffen wurden. Jene Tränen, wie wir sie vergießen, wenn wir, von dem Unglück getroffen, unser Herz zu uns sagen hören: »Du hast ein Gut verloren, aber die Welt umschließt noch so manches andere, welches deiner wartet.« Wir weinen dann mit dem betrübenden Gedanken, dass das Wesen, welches wir aus dem Grund unserer Seele liebten und das sich für immer von uns getrennt hat, seinen Anteil nicht an den Gütern nehmen kann, welche uns für die Zukunft verheißen werden.

Edmund Dantès fühlte sozusagen sein Herz in einen eisernen Schraubstock gespannt. Die Hoffnung auf die Zukunft konnte den Druck nicht mindern, und die Tränen vermochten ebenso wenig den stechenden Schmerz zu lindern, der es zerriss.

Hier erblickte er sich zum ersten Mal arm und klein an Geist, wie alle Menschen, bei denen die Leidenschaft erlischt, welche sie wahnsinnig gemacht hatte, und die sie für das heilige Feuer des Genies hielten.

Jetzt verdammte er bei sich selbst sein vergangenes Leben, das er darauf verwendet hatte, eine unerbittliche Rache zu verfolgen.

»Haydee, Haydee!«, rief er, indem er auf die Knie neben einem entstellten Leichnam niedersank, dessen Gesicht mit schwarzem, gestocktem Blut bedeckt war. »Wollte Gott, ich hätte dein Schicksal nie mit dem meinen vereinigt! Du wärest dann nicht so bald aus dieser Welt geschieden, in der du glücklich und ruhig leben musstest. Verzeihe mir, Haydee! Verzeihe mir! Mercedes’ Gatte konnte nicht dein Mann sein! Das Herz, welches schon einmal in seinem Leben einer anderen so viel Liebe gewidmet hatte, als das Herz eines Mannes nur irgend zu umschließen vermag, konnte nicht für dich das gleiche Gefühl empfinden, anders als einen Traum, der eines Tages enden musste. Dieser Tag ist der heutige. Alles ist zu Ende und jetzt bleibt mir kaum noch die ewige Nacht der Reue und der Verzweiflung!«

Bei diesen Worten ließ Edmund Dantès seinen Kopf auf die Brust herabsinken und streckte die Arme gegen den entstellten Leichnam aus, als wollte er ihn von dem Boden aufheben.

»Haydee! Haydee!«, rief er, indem er aufsprang und die Haare mit einer Bewegung der Verzweiflung zurückstrich. »Du bist tot! Deine Lippen werden sich nicht mehr auf die meinen pressen. Ich kann hinfort nicht mehr das Feuer, welches sie verzehrte, in deinen süßen Liebestränen löschen. Haydee, ungeachtet des innigen Gefühls, das uns vereinigte, ungeachtet meiner Größe, ungeachtet meiner Kenntnisse, die ich durch bittere und schmerzliche Nachtwachen errang, kenne ich nicht das Geheimnis, dich in das Leben zurückzurufen. Ich Elender, der ich bin! Ja, ich bin ein Mensch, ich bin unwissend und arm, gleich denen, die sich für weiser und für mächtiger halten, die aber dennoch ihre Stirn beugen und sich demütigen im Angesicht des Todes, weil sie ihn nicht zu besiegen vermögen. Elendes Geschlecht der Menschen, und um so stolzer, je elender es ist!«

Ein Lächeln bitterer Geringschätzung umspielte die Lippen Edmunds, dessen finsteres, sinnendes Gesicht, beleuchtet durch die Flamme der Fackel, bald aus der Dunkelheit hervortrat, bald in derselben verschwand wie ein Phantom.

»Gott ist mächtig«, fuhr er fort, von Reue ergriffen. »Ich habe gesündigt! Von dem Grund meiner Seele beklage ich die Irrtümer meines vergangenen Lebens! Ich war unerbittlich in meiner Rache, ich war grausam, unsinnig! Ja, ich erkenne es, das Schwert deiner göttlichen Gerechtigkeit hat in meiner Hand die Falschen getroffen!

Ach! Und doch – die klagenden Seufzer meines Vaters, der verhungerte – diese Seufzer tönen wie ein Echo in meine Ohren und scheinen die traurigen monotonen Klänge seines Todeskampfes zu verlängern.

Ich hätte mich deiner erinnern sollen, o du gekreuzigter Jesus! Ich hätte in mein Gedächtnis die Worte des Friedens und der Barmherzigkeit zurückrufen sollen, welche deinen Lippen mit deinem letzten Seufzer entschlüpften, als du an dem Kreuz starbst, und ich würde dann zu verzeihen gewusst haben! Ich hätte erkannt, dass mein armer Vater, den man Hungers sterben ließ, nicht sowohl wegen meiner langen Einkerkerung starb, weil es seinem Stolz widerstrebte, ein Almosen aus der Hand unserer alten Freunde, der Morels, anzunehmen. Meine Rache hätte sich auf Villefort und Danglars beschränken sollen und zwar auf eine solche Weise, dass ich dabei ihre Familien schonte.

»Danglars und Villefort, das sind meine beiden Mörder, das sind zwei Namen, die ich selbst heute noch nicht aussprechen kann, ohne dass meine Zähne vor Wut knirschen, dass meine Lippen vor Zorn schäumen. Ach, ich konnte sie nicht verwunden, ohne mich selbst zu verurteilen! Ich habe nicht erkannt, wie meine Gerechtigkeit hätte sein sollen, obgleich ich seit langen Jahren darauf sann! Verzeihung, o mein Gott, Verzeihung, dem schwachen und büßenden Menschen!«

Edmund Dantès sank aufs Neue auf die Knie und blieb einige Zeit so liegen, als wäre er in ein Gebet versunken. Dann stand er auf, nahm unter den rechten Arm die Leiche Haydees, fasste mit der Linken die Fackel und begann schweigend einen der gewundenen Fußpfade zu erklettern, die zwischen den Felsen hinaufführten. Der Weg, den er verfolgte, war einer jener zahlreichen Pfade, die zu der berühmten Grotte führen konnten und die absichtlich in die Felsen gehauen zu sein schienen, um die irrezuleiten, welche es in einer fernen Zeit vielleicht versuchten, den geheimen Ort zu entdecken, an welchem die Schätze des berühmten Kardinals Spada vergraben lagen.

Eine Viertelstunde darauf gelangte Edmund Dantès, der mit festem Schritt in der Richtung zu der Grotte vorwärts gegangen war, zu dem Portal, dessen geschwärzte Säulen die dunkelrote und flackernde Flamme der Fackel zurückwarfen. Edmund trat in die Vorhalle, schritt die Marmortreppe hinab durch den ersten Saal, gelangte in den zweiten, richtete sich nach der Mauer zu der linken Seite und legte hier die Leiche auf den Boden.

»Hier ist es«, murmelte er, indem er vor sich hinblickte. »Hier ist es, wo ich vor acht Jahren nach einer schweren Arbeit stehen blieb, um mit einem gierig funkelnden Blick den Boden zu befragen, der mir in seinen Eingeweiden die Schätze des Abbé von Floria zeigte! Armer Greis, alle Galle, welche die Bosheit der Menschen in deinen Busen geträufelt hatte, besudelte auch den meinen und vermehrte die, welche er schon barg.

»Was hätte ich damals dem geantwortet, der mir in eben dem Augenblick, wo die Erde sich öffnete, gesagt hätte, dass ich acht Jahre später hierher zurückkehren würde, ebenso arm, wie ich damals war, doch nicht, um wieder einen Schatz zu suchen, sondern um alles, was mir von einem anderen blieb, in den Schoß eben dieser Erde zu versenken?

Ich hätte ihm durch ein höhnisches Gelächter geantwortet, und das Echo desselben würde auf eine entsetzliche Weise von diesen Mauern wiederholt worden sein.«

Bei diesen Worten zerschlug Edmund Dantès mit einer Eisenstange, die er aus dem Fußgestell gezogen hatte, eine der Bildsäulen und machte neben derselben ein Grab.

»Ach!«, seufzte er, indem er die Eisenstange von sich warf und mit den Händen über die Stirn fuhr, die in kaltem Schweiß gebadet war.

»Der Erde«, sagte er mit finsterem Tone, »seien die traurigen Überreste eines Menschen anvertraut und sie möge sie für immer wahren, sobald alles für mich zu Ende ist. Ja, ich erkenne dich, du Leiche, die du ein Herz bargest, für welches das meine der einzige Kompass auf dieser Erde war. Ja, das ist die Leiche meiner geliebten Haydee! Sie ruhe hier für immer in diesem Grab, das durch die Natur selbst gebildet und den Menschen unbekannt war.«

Indem er diese Worte sprach, legte er die Leiche Haydees in die Grube und begann dann, sie mit Erde zu bedecken, die er mit den Händen zusammenraffte, bis die Höhlung gefüllt war. Darauf schleppte er mühsam einen gewaltigen Stein herbei, wälzte ihn auf die Erde und entfernte sich.

»Alles ist vorbei!«, seufzte er. »Der Graf von Monte Christo, der von den anderen Menschen so sehr bewundert wurde, hat die letzte seiner Neigungen begraben. Er, dessen Glück in der Welt so sehr beneidet wurde und das für ihn so bitter war. Alles ist nur ein Traum gewesen und am Ende des bewegten Traumes, den ich hatte, erkenne ich, dass Edmund Dantès für immer aufgehört hat, zu leben, sobald ein verhängnisvoller Schlag seine Jugend, sein Glück und den innigen Frieden seines unbekannten Lebens traf.«

Als er die Grotte verließ, beleuchtete die Morgenröte bereits mit einem glänzenden Schein den ganzen östlichen Teil des Mittelmeeres.

Edmund Dantès schritt zum Gipfel des Felsens hinauf und betrachtete mit einer Art von Entzücken das prachtvolle Schauspiel, das sich zu seinen Füßen ausbreitete und dessen Ruhe auf eine eigentümliche Weise gegen die schmerzhafte Aufregung seines Innern abstach.

Dann ging er zu der Bucht hinab und gab dem kleinen Boot, welches auf Befehl Benedettos seiner harrte, ein Zeichen.

»Zu der Küste von Italien«, sagte Edmund, indem er sich mit scheinbarer Ruhe in das Boot setzte, welches sogleich seinen Lauf begann.