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Die Geschichte vom Werwolf Teil 17

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 17
Eine Zofe

Als Thibaut den Unfall sah, welcher dem jungen übermütigen Kavalier widerfuhr, lief er in der Freude seines Herzens auf ihn zu, um zu sehen, in welchem Zustand er sich befinde.

Ein regungsloser Körper lag auf dem Weg und das Pferd stand, mit dem Huf scharrend, neben demselben. Aber sonderbarerweise schien der am Boden liegende Körper nicht mehr derselbe zu sein, der fünf Minuten vorher an Thibaut vorbeigetrabt war und ihm einen so derben Peitschenhieb versetzt hatte.

Dieser Körper war nicht mehr in den kostbaren Kleidern eines Edelmannes, sondern in Bauerntracht und in dieser glaubte Thibaut seine eigenen Kleider zu erkennen. Sein Erstaunen erreichte aber den höchsten Grad, als er bemerkte, dass der scheinbar leblose Körper nicht nur seine Kleider, sondern auch sein Gesicht hatte.

In seinem Erstaunen lenkte Thibaut seine Blicke von seinem zweiten Ich auf sich selbst und bemerkte, dass in seinem Anzug eine bedeutende Veränderung vorgegangen war. Statt der Schuhe und Gamaschen trug er elegante, weiche Stulpenstiefel mit silbernen Spornen, und statt der Manchesterhosen die schönsten hirschledernen Beinkleider mit kleinen goldenen Schnallen. Sein grober Überrock hatte einem eleganten grünen Jagdkleid mit goldenen Tressen, einer weißen Weste und einem feinen, sorgfältig gefalteten Hemd Platz gemacht. Sogar sein alter Filzhut hatte sich in einen schönen Tressenhut verwandelt. Er hielt außerdem statt des langen, starken Stockes eine leichte Reitpeitsche, die er mit aristokratischem Vergnügen durch die Luft pfeifen ließ. An dem Gürtel, der seinen schlanken Wuchs umspannte, hing ein langer Hirschfänger.

Thibaut war ganz erfreut über den schönen Anzug und hegte sogleich den ganz natürlichen Wunsch, zu sehen, wie dieser Anzug ihm zu Gesicht stehe. Aber wo konnte er sich mitten in der stockfinsteren Nacht betrachten?

Er sah sich um und bemerkte in geringer Entfernung seine Hütte. Er eilte hinein, um, wie Narziss, seine Schönheit mit Muße zu bewundern.

Aber die Tür war verschlossen. Thibaut suchte den Schlüssel, aber vergebens. Er hatte in den Taschen nur eine wohlgefüllte Börse, eine Schachtel mit Zuckerwerk und ein kleines Federmesser mit einem Griff von Perlmutt und Gold.

Was mochte aus dem Türschlüssel geworden sein?

Nach kurzem Besinnen kam er auf den Gedanken, dass der Schlüssel vielleicht in der Tasche des am Wege liegenden Thibaut stecke.

Er kehrte um, suchte in den Taschen seines Doppelgängers und fand den Schlüssel sogleich mitten unter einigem Kupfergeld. Er fasste den plumpen Schlüssel mit den Fingerspitzen, eilte zurück und öffnete die Tür.

Es war in der Hütte indes noch dunkler als draußen. Thibaut suchte Stahl, Stein, Schwamm und Schwefelhölzchen und begann Feuer zu schlagen. Nach einigen Sekunden brannte eine Kerze, die in einer leeren Flasche steckte. Aber der Anzünder musste die Unschlittkerze mit den Fingern berühren.

»O pfui!«, sagte er, »welche Schweine sind doch die Bauern! Wie kann man in solchem Schmutz leben!«

Genug, das Licht brannte und dies war vor der Hand die Hauptsache.

Thibaut nahm den Spiegel von der Wand, trat vor das Licht und betrachtete sich. Aber kaum hatte er einen Blick in den Spiegel geworfen, so trat er erstaunt zurück. Das Gesicht, welches er erblickte, war nicht das seine. Er sah einen schönen schlanken, jungen Mann von fünfundzwanzig Jahren, mit blauen Augen, blühenden Wangen, kirschroten Lippen und weißen Zähnen – kurz, er sah den Baron Raoul de Vauparfonds.

Thibaut erinnerte sich nun des Wunsches, den ihm der Peitschenhieb des jungen Kavaliers entlockt hatte. Er hatte gewünscht, auf vierundzwanzig Stunden der Baron Vauparfonds zu sein und während dieser Zeit den jungen Kavalier an seiner Stelle zu sehen. Er wusste sich nun zu erklären, was ihm anfangs unbegreiflich gewesen war, nämlich, dass der am Weg liegende regungslose Körper seine Kleider und sogar sein Gesicht hatte.

»Ei der Tausend!«, sagte er, »ich darf nicht vergessen, dass ich eigentlich nicht hier, sondern dort im Wald bin, und ich muss mich hüten, dass mir in diesen vierundzwanzig Stunden kein Unglück geschehe. Ich will den armen Thibaut hierher bringen und ihn auf sein Bett legen.«

Das aristokratische Gefühl des jungen Kavaliers sträubte sich freilich gegen diese kleine Arbeit, aber er nahm den regungslosen Körper entschlossen auf, trug ihn auf sein Bett und löschte die Lampe aus, damit seinem anderen Ich in diesem Zustand der Bewusstlosigkeit kein Leid geschehe.

Dann verschloss er sorgfältig die Tür und versteckte den Schlüssel in einem hohlen Baum, in welchen er ihn zu legen pflegte, wenn er sich nicht damit belästigen wollte. Endlich nahm er das Pferd beim Zügel und bestieg es.

Anfangs war er etwas ängstlich. Er hatte weit mehr Wanderungen zu Fuß als zu Pferde gemacht und war keineswegs ein vollkommener Reiter. Aber er schien mit dem Körper des jungen Kavaliers auch seine physischen Eigenschaften und Geschicklichkeiten geerbt zu haben.

Da das Pferd als kluges Tier die Ungeschicklichkeit seines Reiters benutzt hatte, um ihn abzuwerfen, so fasste Thibaut die Zügel kurz, setzte sich fest im Sattel, drückte dem Pferd die Sporne in die Seite und gab ihm einige Hiebe. Diese Züchtigung verfehlte ihre Wirkung nicht. Thibaut war, ohne es zu ahnen, ein ausgezeichneter Reiter geworden.

Dieser Sieg, den er über sein Pferd errang, war ihm zur Erklärung seines Doppelzustandes behilflich. Körperlich war er vom Kopf bis zu den Füßen der Baron Raoul de Vauparfonds, geistig war er Thibaut geblieben. Offenbar musste also in dem regungslosen Körper Thibauts, der in der Hütte schlummerte, der Geist des jungen Kavaliers geblieben sein.

Aber diese Einteilung, welche seinen Geist in den Körper des Barons, und den Geist des Barons in den Körper Thibauts versetzte, ließ ihn in Ungewissheit über das, was er zu tun habe. Er wusste wohl, dass er infolge eines Briefes der Gräfin nach Mongobert ritt. Aber was stand in diesem Brief? Zu welcher Stunde wurde er erwartet? Wie sollte er in das Schloss kommen? Er wusste es nicht und musste es folglich zu erfahren suchen.

Vielleicht hatte er den Brief der Gräfin bei sich. Er betastete sich überall und fühlte wirklich in der Brusttasche einen Gegenstand, der die Form eines Briefes zu haben schien. Er hielt sein Pferd an, um in der Brusttasche zu suchen. Er zog eine kleine duftende, mit weißem Atlas gefütterte, lederne Brieftasche hervor.

In diesem Portefeuille waren mehrere Briefe, ein Einziger steckte in einem Seitentäschchen.

Dieser Letztere enthielt wahrscheinlich die gewünschte Aufklärung. Es kam nur darauf an, ihn zu lesen.

Thibaut war nur einige Hundert Schritte vom Dorf Fleury entfernt. Er setzte sein Pferd in Galopp, denn er hoffte, in einigen Häusern noch Licht zu finden. Aber auf dem Lande legt man sich früh schlafen, und zu jener Zeit noch früher als heutzutage. Thibaut ritt daher durch das ganze Dorf, ohne ein Licht zu sehen.

Endlich glaubte er, in dem Pferdestall eines Wirtshauses ein Geräusch zu hören.

Er rief.

Ein Stallknecht kam mit einer Laterne.

»Lieber Freund«, sagte Thibaut, ohne zu bedenken, wer er für den Augenblick war. »Wollt Ihr mir nicht einen Augenblick leuchten? Ihr würdet mir einen Gefallen tun!«

»Und deshalb holt Ihr mich aus dem Bett?«, antwortete der Stallknecht unwillig.

Er kehrte Thibaut den Rücken und ging wieder ins Haus. Thibaut sah, dass er einen falschen Weg eingeschlagen hatte.

»Halt, Schlingel!«, rief er ihm zu. »Komm mit deiner Laterne und leuchte mir, oder ich gebe dir zwanzig Hiebe!«

»O, verzeihen Sie, gnädiger Herr, ich wusste nicht, mit wem ich sprach!«

Er trat ans Pferd und hielt die Laterne hin.

Thibaut faltete den Brief auseinander und las:

Lieber Raoul!

Die Göttin Venus beschützt uns. Morgen wird unweit Thury eine große Jagd gehalten, und er reist diesen Abend ab. Ich habe Ihnen also einen Abend zu widmen, wenn Ihnen der Letzte nicht zu lange gedauert hat.

Reiten Sie um neun Uhr fort, damit Sie um zehn hier sein können. Sie wissen, wo Sie in den Park kommen können. Sie werden von der bewussten Person erwartet und an den bewussten Ort geführt werden. Bei Ihrem letzten Besuch schienen Sie sehr lange in den Korridoren zu verweilen.

Jane.

»Es ist gut«, sagte Thibaut gebieterisch, »ich brauche dich nicht mehr, du kannst gehen.«

»Glückliche Reise, gnädiger Herr!«, sagte der Stallknecht mit einer tiefen Verbeugung und ging ins Haus.

»Aus dem Brief ersehe ich nicht viel«, sagte Thibaut zu sich. »So viel scheint jedoch gewiss, dass wir unter dem Schutz der Göttin Venus stehen, dass er diesen Abend nach Thury abreist, dass ich von der Gräfin Mongobert um zehn Uhr erwartet werde, und dass sie mit ihrem Spitznamen Jane heißt. Übrigens werde ich von der bewussten Person empfangen und an den bewussten Ort geführt werden.« Thibaut kratzte sich hinter dem Ohr, eine Gebärde, durch welche bekanntlich alle Menschen ihre Verlegenheit zu erkennen geben.

Er hatte Lust, den Geist des Barons de Vauparfonds, der auf seinem Bett in Thibauts Körper schlummerte, zu wecken. Aber er würde viel Zeit dadurch verloren haben, und überdies hatte dieses äußerste Mittel auch seine Gefahren. Der Geist des jungen Chevaliers konnte den Wunsch hegen, in seinen Körper zurückzukehren, wenn er diesen so nahe erblickte. Entstand nun ein Kampf, so lief Thibaut Gefahr, sich selbst sehr zu schaden.

Er musste daher auf ein anderes Mittel sinnen. Er hatte oft von dem Scharfsinn der Tiere gehört, und selbst mehr als einmal Gelegenheit gehabt, ihren Instinkt zu bewundern. Er fasste den Entschluss, sich auf den Instinkt seines Pferdes zu verlassen. Er führte es wieder auf den Weg und ließ die Zügel schießen.

Das Pferd setzte sich in Galopp. Es schien seinen Reiter verstanden zu haben. Thibaut kümmerte sich um nichts mehr, er ließ das Pferd sorgen.

Zehn Minuten danach verließ das Pferd den Weg und schlug einen kleinen Seitenpfad ein. An der Parkmauer hielt es an, spitzte die Ohren und schien unruhig.

Thibaut glaubte in der Dunkelheit zwei Schatten zu bemerken. Aber es waren wirklich nur Schatten, denn obwohl er sich in den Steigbügel hob, um sich weiter umzusehen, so bemerkte er doch nichts mehr.

Er dachte, es wären Wilddiebe, die sich in den Park zu schleichen suchten.

Sobald der Weg nicht mehr versperrt wurde, durfte Thibaut seinem Pferd nur freien Willen lassen.

Das Pferd trabte an der Parkmauer hin. Dann blieb es vor einer kleinen Bresche stehen.

»Hier wird der bewusste Ort sein«, sagte Thibaut.

Das Pferd begann zu schnauben und zu stampfen. Dies war eine entscheidende Antwort.

Thibaut ließ den Zügel schießen, und mitten unter den rollenden Steinen erstieg das Pferd die Bresche.

Ross und Reiter waren im Park.

Eine Schwierigkeit war bereits überwunden: Er war in den Park gekommen. Es handelte sich nur noch um das Auffinden der »bewussten Person«. Auch dies überließ er seinem Pferd.

Nach fünf Minuten machte das Pferd etwa hundert Schritte vom Schloss vor einer kleinen Strohhütte halt, welche nur als Verzierung angebracht war.

Bei den näherkommenden Hufschlägen hatte sich die Tür des Schweizerhäuschens aufgetan, und eine hübsche Zofe war herausgekommen.

»Sind Sie es, Herr Baron?«, fragte sie leise, als das Pferd stehen blieb.

»Ja, mein Kind, ich bin’s«, antwortete Thibaut und stieg ab.

»Madame war sehr besorgt, dass Ihnen der Trunkenbold Champagne den Brief vielleicht nicht übergeben habe.«

»Sie hatte unrecht«, erwiderte Thibaut. »Champagne war sehr pünktlich.«

»Nun, kommen Sie.«

»Aber wer soll mein Pferd versorgen?«

»Cramoisi, der es gewöhnlich versorgt.«

»Ja, es ist wahr«, erwiderte Thibaut, als ob er es recht gut gewusst hätte. »Cramoisi soll es versorgen.«

»Kommen Sie geschwind«, wiederholte die Kammerjungfer. »Madame würde sonst wieder sagen, wir hätten uns in den Korridoren zu lange aufgehalten.«

Bei diesen Worten, die ihn an eine Stelle des an Raoul gesandten Briefes erinnerten, lachte die Zofe und zeigte dabei ihre schönen weißen Zähne.

Thibaut hätte sich gern schon im Park aufgehalten. Aber die Kammerjungfer lauschte.

»Was gibt’s?«, fragte Thibaut.

»Ich glaube Fußtritte gehört zu haben.«

»Wahrscheinlich Cramoisi.«

»Um so mehr müssen Sie vernünftig sein, Herr Baron … wenigstens hier.«

»Ich verstehe nicht.«

»Sie wissen ja, dass Cramoisi mein Bräutigam ist …«

»Ja, richtig! Aber so oft, wie ich bei dir bin, mein Röschen, denke ich nicht daran.«

»Jetzt nennen Sie mich gar Röschen! Wie kann man auch so vergesslich sein?«

»Ich nenne dich Röschen, mein schönes Kind, weil die Rose die Königin der Blumen, so wie du die Königin der Zofen bist.«

»Sie sind immer geistreich, Herr Baron«, erwiderte die Kammerjungfer, »und heute ganz besonders.«

Thibaut warf sich in die Brust. Es war ein an den Baron adressierter und von dem Holzschuhmacher erbrochener Brief.

»Wenn nun deine gnädige Frau deiner Meinung ist«, sagte er.

»O! Sie wissen wohl, Herr Baron«, sagte die Zofe höhnisch, »dass man mit vornehmen Damen immer geistreich sein kann.«

»Wie fängt man das an?«

»Man muss gar nichts reden.«

»Gut, ich will mir das Rezept merken.«

»Aber machen Sie keinen allzu ausgedehnten Gebrauch davon.«

»Warum nicht?«

»Weil ich eifersüchtig werden würde … Doch still. Sie lauscht hinter dem Vorhang ihres Boudoirs. Ich gehe voran. Folgen Sie mir gravitätisch.«

Die beiden mussten über einen freien Platz zwischen den Bäumen des Parkes und der Schlosstreppe gehen.

Thibaut ging auf die Schlosstreppe zu.

»Was fällt Ihnen denn ein?«, sagte die Zofe, ihn beim Arm nehmend.

»Ich weiß es wahrhaftig nicht, Susette.«

»Jetzt soll ich gar Susette heißen! Mich dünkt, der Herr Baron gibt mir die Namen aller seiner Schönen … Kommen Sie doch hieher! Sie wollen wohl gar durch die Staatszimmer gehen? O pfui! Diesen Weg überlassen wir dem Herrn Grafen. Wir gehen durch eine Seitentür.«

Die Kammerjungfer zog Thibaut wirklich in eine kleine Tür, welche zu einer Wendeltreppe führte.

Mitten auf der Treppe umfasste Thibaut den schlanken Leib seiner Führerin.

»Sind wir nicht in den Korridoren?«, fragte er und suchte den Mund des schönen Mädchens.

»Noch nicht«, antwortete sie. »Aber das tut nichts.«

»Wahrhaftig«, sagte er, »wenn ich diesen Abend Thibaut und nicht Raoul hieße, so schwöre ich dir, liebe Marton, dass ich mit dir bis in die Dachstube gehen würde, statt im ersten Stock zu bleiben.«

Man hörte eine Tür knarren.

»Geschwind, Herr Baron«, sagte die Zofe. »Madame erwartet Sie.«

Sie zog ihn mit sich fort, öffnete eine Tür, schob Thibaut in ein Zimmer und machte die Tür hinter ihm zu.