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Die Macht der Drei – Teil 49

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Es ist sehr schwer, die Ereignisse der nächsten Augustwochen zu schildern. Am sechsten August hatte die unbekannte Macht die großen Schlachtflotten Englands und der amerikanischen Union gelähmt. Im magnetischen Wirbelsturm war die britische Flotte in den Hafen von New York eingeschleppt worden. Zu der gleichen Stunde, in der die amerikanische Flotte die Themse hinauf bis zu den Docks von London gezogen wurde.

Am siebenten August wurde in den Vereinigten Staaten Cyrus Stonard gestürzt und eine neue Regierung gebildet, in welcher Dr. Glossin provisorisch das Portefeuille des Äußeren übernahm. Zu jeder anderen Zeit hätte dieser Sturz die ganze Welt in Aufruhr versetzt. Jetzt vollzog er sich beinahe geräuschlos. Die unbekannte Macht nahm das allgemeine Interesse zu sehr in Anspruch, als dass die politische Umwälzung in den Vereinigten Staaten besonders aufregend wirken konnte.

Wo immer noch in irgendeinem Winkel der Welt englische und amerikanische Streitkräfte aneinandergerieten, da trat die Macht sofort handelnd als Dritte auf.

Amerikanische Luftstreitkräfte, die unversehens nach Indien vorstießen, wurden schon auf dem Weg dorthin zum Absturz gebracht und fielen bei den Lakkadiven in die See. Englische Flugtaucher, die einen Angriff auf den Panamakanal verbuchten, wurden dicht bei Jamaika von einem magnetischen Zyklon gefasst und auf den höchsten Gipfeln der Kordilleren abgesetzt. Die Besatzungen brauchten Tage, um aus der Schneewüste zu den nächsten menschlichen Ansiedlungen zu gelangen. Die Macht griff ohne Ansehen der Parteien ein und unterbrach jede Kampfhandlung.

Die Ereignisse der Tage vom sechsten bis zum fünfzehnten August wirkten auf die Menschheit wie etwa der Stab eines Wanderers im Ameisenhaufen. Allgemeine Unruhe, Aufregung, ein Brodeln der öffentlichen Meinung, das in der Presse aller kultivierten Länder seinen deutlichsten Ausdruck fand.

Will man den ungeheuren Eindruck der Vorkommnisse dieser acht Tage einigermaßen übersichtlich ordnen, so muss man die davon betroffene Menschheit in allen Staaten in drei Gruppen unterscheiden: die Physiker, die Militärs und die breite Volksmenge.

Die Vertreter der physikalischen Wissenschaft versuchten es, stichhaltige Erklärungen der erstaunlichen Wirkungen zu geben. Aber die Isolierung und Speicherung der Formenergie, die geniale Entdeckung Silvester Bursfelds, lag weit außerhalb der wissenschaftlichen Erkenntnis. So tappten alle Erklärer, die ihre Wissenschaft in den großen Blättern der fünf Weltteile produzierten, im Dunkeln.

Englische Flugtaucher waren fünftausend Meter hoch in den Kordilleren abgesetzt worden. Die Maxwellschen Gleichungen gestatteten es schließlich, die wirksamen Magnetfelder nachzurechnen, durch welche die schweren Flugtaucher gepackt worden waren. So folgerte man dann weiter, dass es der unbekannten Macht auch möglich wäre, alle großen Schlachtflotten auf irgendeinen Berggipfel zu schleudern.

Nachdem die Entwicklung bis zu diesem Punkt gediehen war, häuften sich die Zeitungsartikel, in denen die Grenzen der unbekannten Macht immer kühner und angemessener behandelt wurden.

In den Vereinigten Staaten hielt man sich an die wenigen Mitteilungen, die der neue Staatssekretär des Äußeren Dr. Glossin machen konnte. Besonders Professor Curtis arbeitete intensiv und konnte bereits am zwölften August einen Versuch auf offener See vornehmen. Um die zehnte Vormittagsstunde dieses Tages fuhr das Sammlerboot mit der Strahlungseinrichtung aus dem Hafen. Curtis hatte eine Anordnung geschaffen, die ein elektromagnetisches Feld ziemlich geschlossen nach einer Richtung auszustrahlen vermochte. Ein ausrangiertes Torpedoboot war als Ziel für die Versuche in Aussicht genommen. Er hoffte, bis auf eine Entfernung von tausend Metern merkliche Magnetisierungen hervorbringen zu können.

Umgeben von seinen Assistenten stand er neben den gerichteten Antennen, die das elektromagnetische Feld über den Bug des Sammlerbootes zum Torpedoboot hinschleudern sollten. Die Schalthebel wurden eingeschlagen. Hochfrequente elektrische Energie durchbrauste die Antennen.

Professor Curtis wurde von Unruhe ergriffen. Die Wirkungen, die man vom Torpedoboot meldete, gingen erheblich über die von ihm als möglich errechneten hinaus. Er gab den Befehl, die Energie in den Antennen abzustellen.

Und ließ sich dann mit einem Seufzer auf einen Sessel fallen. Denn die Wirkung auf dem Torpedoboot hörte nicht auf. Im Gegenteil. Sie stieg, bis schließlich der elektromagnetische Wirbel das ganze Boot packte, aus dem Wasser hob und auf das sandige Ufer schleuderte, wo es im Sturz berstend liegen blieb.

Mit verhaltenem Atem hatte man auf dem Sammlerboot die Katastrophe beobachtet. Ein Ruf seines ersten Assistenten veranlasste Professor Curtis aufzublicken, die Vorgänge auf dem eigenen Boot zu verfolgen.

Die gerichteten Antennen lösten sich in Kupferdampf auf. Sie leuchteten einen Moment grünlich schillernd und waren dann verschwunden. Spanndrähte und Isolatoren fielen angeschmolzen und zersplittert auf das Schiffsdeck nieder. Dann packte ein Wirbelsturm das ganze Sammlerboot und warf es neben das Torpedoboot auf das Gestade.

Professor Curtis ließ das Geländer los und rollte über das schrägliegende Verdeck in den weichen Seesand. Das war das Ende der amerikanischen Versuche. Der Bericht, den der Professor noch am selben Nachmittag nach Washington sandte, erklärte es für aussichtslos, gegen die Mittel der unbekannten Macht anzukämpfen. Am dreizehnten August hielt Professor Raps in der Technischen Hochschule zu Charlottenburg sein Kolleg über theoretische Elektrodynamik. Die Studenten spitzten die Bleistifte, um das Kolleg wie immer mitzuschreiben. An diesem Tag wären die retardierten Potenziale dran gewesen. Aber der deutsche Professor brachte ganz etwas Anderes …

»Meine Herren, auch ich habe es versucht, mit den Mitteln unserer Wissenschaft das Geheimnis der unbekannten Macht zu ergründen. Die Wirkungen, die zuverlässig berichtet worden sind, lassen sich nur dann erklären, wenn wir annehmen, dass die Macht ein Mittel besitzt, um die Raumenergie an jeder Stelle zur freien Entwicklung zu bringen. Die Raumenergie dürfen wir nach Oliver Lodge zu zehn Milliarden Pferdekraftstunden für jedes Kubikzentimeter annehmen. Unsere Wissenschaft kennt bisher kein Mittel, diese Energie freizumachen. Sicherlich keins, um sie auf weite Entfernungen und mit absoluter Treffsicherheit zu entfesseln …«

Die Studenten schrieben mit. Das Papier knisterte, die Bleistifte rauschten. Professor Raps fuhr in seinen Ausführungen fort. Er ging ins Detail und entwickelte rechnungsmäßig die Wirkungen, die sich auf diesem Wege erzielen ließen. Er bedeckte die schwarze Wandtafel mit dreißigstelligen Zahlen, die Kilowatt und Kalorien bedeuteten. Dann wurde die Vorlesung wieder allgemeiner …

»Wir haben keine Ahnung, durch welche Mittel, durch welche uns jedenfalls noch ganz unbekannte Form der Energie diese Fernwirkungen erzeugt werden, wie die explosive Entfesselung der Raumenergie zustande kommt. Ein Riesengeist, der dem Stand unserer Wissenschaft um Jahrhunderte vorauseilte, muss diese Lösung gefunden haben …«

Silvester Bursfeld in seinem eisigen Grab hoch oben am Pol konnte mit dem Epitaphium zufrieden sein, das der deutsche Gelehrte ihm hier setzte.

Professor Raps fuhr fort: »Meine Herren, ich wurde von zwiespältigen Gefühlen ergriffen, als ich die hier eben vorgetragenen Entdeckungen machte. Auf der einen Seite die reine Forscherfreude über die gelungene Entdeckung, die Freude, die Sie alle wohl schon nach einer glücklich gelösten Laboratoriumsaufgabe empfunden haben. Auf der anderen Seite ein tiefes Grauen. Meine Herren, der Gedanke, dass eine übermenschliche Macht in die Hand sterblicher Menschen gelegt wurde, ist entsetzlich. Die Besitzer der Erfindung können der Welt jeden Tort antun. Sie können jede Stadt verbrennen, jedes Menschenleben vernichten. Wir sind wehrlos. Wir müssen widerstandslos über uns ergehen lassen, was die Besitzer der Macht für gut befinden werden. Der Gedanke ist kaum erträglich. Aber es ist die Wahrheit …«

Der Professor schloss seine Vorlesung vor der festgesetzten Zeit. Er war zu ergriffen, um sich jetzt noch dem planmäßigen Lehrstoff zu widmen.

Der Inhalt seines Vortrages erregte erneute Unruhe. Die Vertreter der großen Zeitungen kauften den Studenten ihre Niederschrift für schweres Geld ab. Noch am Abend des dreizehnten August wurde der Vortrag über die ganze Erde verbreitet. Von Hammerfest bis Kapstadt, von London bis Sydney wurden die Mittellungen verschlungen und diskutiert.

Es war klar, dass der deutsche Gelehrte den Quellen der unbekannten Macht wenigstens theoretisch auf der Spur war. Je länger die Physiker der ganzen Welt sich in die Einzelheiten seiner Ausführungen vertieften, desto mehr mussten sie die Richtigkeit seiner Schlussfolgerungen anerkennen. Es gab in der Tat nur diese eine Erklärung für die ungeheuerlichen Wirkungen der Macht. Man musste imstande sein, die Raumenergie an jeder beliebigen Stelle des Erdballes explodieren zu lassen.

Aber die Mittel dazu kannte niemand. Wenn nicht am Ende … dieser deutsche Professor noch mehr wusste, als er im Kolleg gesagt hatte? Der Gedanke, dass ein einzelner Staat das Geheimnis entdecken, sich zum Herrn der übrigen Welt machen könne, schuf neue Unruhe.

An allen Punkten der Erde wartete man auf die nächsten Äußerungen der Macht. Die Spannung einer dumpfen Erwartung lag über der Welt, soweit sie von denkenden Menschen bewohnt war.

Es war um die Mittagstunde des fünfzehnten August. Funkentelegramme durchschwirrten wie immer die ganze Welt. Um 12 Uhr 13 Minuten 15 Sekunden erfuhr dieser Verkehr eine jähe Unterbrechung. Bisher hatte die unbekannte Macht ihre Depeschen durch eine unmittelbare Beeinflussung einer der großen europäischen oder amerikanischen Stationen gegeben. Aber in dieser Mittagstunde des 16. August stand über dem östlichen Teil des Atlantiks plötzlich ein starkes elektromagnetisches Feld im Äther. Sein Kern hatte die Gestalt eines schmalen hohen Turmes. Es pulsierte mit hunderttausend Schwingungen in der Sekunde und strahlte Wellenenergie im Betrag von zehn Millionen Kilowatt nach allen Richtungen der Windrose aus, während es schnell nach Westen hin über den Ozean wanderte.

Im Rhythmus der Morsezeichen kam und verschwand das Feld. Und wo immer in Europa und Amerika elektrische Einrichtungen vorhanden waren, wurden sie zum Mitschwingen gebracht. Die Passagiere der elektrischen Straßenbahnen vernahmen die Zeichen in dem eintönigen Brummen der Wagenmotoren. Wo elektrische Glühlampen brannten, begannen sie in dieser Stunde zu zirpen und ließen Morsezeichen hören. Wo irgendein Mensch den Telefonhörer am Ohr hatte, wurden Rede und Gegenrede plötzlich durch laut und scharf dazwischenklingende Morsezeichen unterbrochen. Die Farbschreiber aller Telegrafenstationen hörten in diesen Minuten auf, die Depeschen ihres Betriebes zu schreiben und zeichneten die Botschaften der Macht auf: »Die Macht: Der Krieg ist aus! Die Macht fordert Gehorsam. Sie straft Ungehorsam.«

Die Welt zuckte unter den Worten der Botschaft zusammen. Wie Peitschenhiebe trafen die lapidaren Sätze, die ihr den neuen Herrn verkündeten. Wie eine schwere dunkle Wolke legte sich der Druck eines fremden zwingenden Willens über die Menschheit. Die Regierungen und die einzelnen Staatsmänner waren ratlos. Es war nicht möglich, an dem Ernst dieser Depesche zu zweifeln. Dazu waren die Proben der Macht, die man bisher zu kosten bekommen hatte, zu stark und zu beweisend.

Die äußere Politik bot zwar in diesem Augenblick keine Schwierigkeiten. Die Macht befahl den Frieden, und es gab nur einen Weg, bedingungslos zu gehorchen. Dafür aber zeigten sich Schwierigkeiten im Inneren. Die einzelnen Völker wurden gegen ihre Regierungen mehr oder weniger aufsässig. Der Einzelne fragte sich, ob es überhaupt noch Zweck hätte, den Anordnungen einer Regierung zu gehorchen, die nur von Gnaden der Macht auf ihrem Stuhl saß, in jeder Minute von dieser selben Macht ausgelöscht werden konnte. Es waren nicht einmal die schlechtesten Elemente, die unter solchem Druck von einer allgemeinen Unlust befallen wurden und in gleicher Weise das Interesse am Staat wie an den eigenen Angelegenheiten verloren.

Professor Raps saß in seinem Arbeitszimmer. Es war ein hoher, schlicht eingerichteter Raum. Vor dem Gelehrten lag das Manuskript einer fast vollendeten Arbeit. Daneben deckten ganze Stapel von Briefen und Depeschen den großen Arbeitstisch. Anfragen von staatlichen Behörden, von wissenschaftlichen Instituten, von Einzelpersonen und auch von fremden Regierungen.

Der Professor warf keinen Blick auf diese Tausende von Briefen und Fragen. Auf diese Schriftstücke, deren Beantwortung ein ganzes Büro Monate hindurch beschäftigen konnte. Er sah grau und verfallen aus und hielt den Papierstreifen mit der Depesche der Macht in den Händen. Seine Lippen zuckten und formten abgerissene Worte.

»… Mein Gott! … Kann die Natur das dulden … kann ein Einzelner der Welt ewigen Winter oder ewige Sonne bringen … das soll ein Mensch sein … dem das Schicksal der ganzen Menschheit in die Hand gegeben ist …«

Der Professor blickte von der Depesche auf. Sein Auge hastete auf dem Bild über dem Schreibtisch. Es war ein alter wertvoller Kupferstich aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ein Geschenk seiner Hörer. Der Stich zeigte den Schweden Karl von Linné. Der Geist des Gelehrten klammerte sich an das Gemälde wie an ein Heiligenbild.

»Es ist nicht möglich … wo bleiben die ehernen Gesetze der Kausalität … Es ist ein Irrtum … ein Irrtum oder ein Missgriff der Natur … aber kann die Natur irren?«

Sein Blick blieb an der Unterschrift des Bildes haften. Lateinische Worte: »Natura non facit saltus.« (Die Natur macht keine Sprünge.) Das Leitwort jenes genialen Naturforschers, durch das er sich zum Vorläufer Darwins stempelte.

Professor Raps las die wenigen Worte des Satzes wieder und immer wieder.

»Die Natur macht keine Sprünge … auf einen scheinbaren Sprung folgt das … muss folgen nach dem höheren Gesetz der stetigen Entwicklung …«

Es wurde Zeit, zur Vorlesung zu gehen. Der Professor legte den Depeschenstreifen beiseite. Mit ruhigen Händen füllte er seine Aktenmappe.