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Die Tauscher 9

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 9

Die Telefonanrufe konnte er erst am nächsten Tag machen, inzwischen war es schon Nacht. Die Lampen tauchten den Bahnhofsvorplatz in ein grelles weißes Licht, als wäre es ein Gebiet auf einem fremden Planeten. Alle Passanten, die über den Platz eilten, wurden von einem Stern von zuckenden Schatten begleitet. Die Straßenbahnen und Busse waren hell erleuchtet, hinter den Fenstern saßen die Fahrgäste wie Schaufensterpuppen oder wie Fische im Aquarium. Florian öffnete das Fenster. Die Straße und die Gebäude dünsteten die Tageshitze aus, aber immerhin roch die Luft jetzt nicht mehr so stark nach Abgasen. Ein Flugzeug zog niedrig über die Stadt hinweg, deutlich waren die drei oder vier Reihen der Fenster erkennbar, helle Lichter, die übereinander liegend den schwarzen Schatten des Rumpfes durchbrachen. Dem Dröhnen der Motoren nach zu urteilen, musste das Flugzeug ein Dutzend Propeller haben. Florian schaute dem Schatten fasziniert nach. Das Flugzeug wich einem einlaufenden Luftschiff aus und verschwand dann in der Schwärze.

»Alexandria«, sagte Fräulein Levinsohn. Florian hatte nicht bemerkt, dass sie direkt neben ihm stand. Ihr bloßer weißer Oberarm berührte den seinen.

»Wie bitte?«

»Die Maschine aus Alexandria. Zweimal die Woche, seit letztem Herbst. Landet jetzt auf dem Müggelsee. Mit …«, Fräulein Levinsohn warf einen kritischen Blick auf die Wanduhr hinter ihnen, »… drei Stunden Verspätung. Wahrscheinlich von der Zwischenlandung in Triest oder Probleme, über die Alpen zu kommen.«

»Muss ja ein Riesenteil sein.«

»Eindecker mit Doppelpropellern, vierzehn Motoren in sieben Gondeln, vier Decks, Schnellfracht, Post und dreihundertfünfzig Passagiere. Aber ob die gegen die Konkurrenz der Luftschiffe ankommen? Ich finde Luftschiffe für längere Reisen einfach stilvoller, bequemer sind sie sowieso.«

»Gehört das Flugzeug vielleicht Zucker?«

»Wieso«, fragte die Levinsohn mit deutlichem Misstrauen.

»Weil Sie so viel darüber wissen.«

»Ich habe das erste Flugzeug der Baureihe angeschaut, als es auf dem Müggelsee besichtigt werden konnte. Übrigens – falls ich vorhin etwas schroff gewesen sein sollte, dann tut es mir leid.«

Fräulein Levinsohn schaute neben Florian auf den Bahnhof. Aus der Ferne erklangen Sirenen, kurz danach jagte eine Kolonne Lastwagen vorbei. Die offenen Ladeflächen waren mit Menschen besetzt. Einer der Laster fuhr ein wenig näher an der Laterne vorbei, im Lichtschein konnte Florian Uniformen erkennen, auf den Köpfen schimmerten lackierte Helme mit goldenem Emblem an der Stirn.

Die Levinsohn stieß einen Pfiff aus.

»Was?«

»Haben Sie die Wappen nicht gesehen?«, fragte sie, »das war die Gardeinfanterie. Die kommt nur, wenn es brenzlig wird. Und offensichtlich muss es schnell gehen, denn sonst wären die schön mit ihren eigenen Fahrzeugen angekommen, statt sich auf ordinäre Polizeilaster zu hocken.«

»Und das heißt?«, fragte Florian. Seine Kehle war trocken.

Fräulein Levinsohn machte sich lang und schaute den Lichtern der Kolonne hinterher. Dabei drängte sie sich ein wenig an ihn, was überraschend, angenehm und verwirrend war.

»Keine Ahnung. Im Osten hat es wohl eine Betriebsbesetzung gegeben, nachdem dort ein undichter Gastank die halbe Belegschaft vergiftet hat. Ich glaube, die wollten die Anlagen für die Kohleverladung besetzen, und darauf reagiert die Stadt immer sehr piefig, weil dadurch auch die städtischen Kraftwerke betroffen werden.«

»Und was passiert nun?«

Fräulein Levinsohn hob die Achseln. »Im einfachsten Fall hauen die Besetzer ab, wenn sie die Garde anrücken sehen. Im schlimmsten Fall haben beide Seiten Waffen und dann kracht es die ganze Nacht. Himmel, ich rede schon wie Sie.«

Nach einer Weile räusperte sich Fräulein Levinsohn. »Wo waren wir stehen geblieben?«

»Ich glaube, dass es Ihnen leidtat, weil Sie schroff waren oder so.«

»Oder so«, wiederholte die Levinsohn, als hätte Florian irgendeine Unanständigkeit gesagt. »Nun, ich gehe dann mal ins Bett oder so.« Damit rauschte sie ab und hinterließ einen Hauch von bisher unbekanntem Parfüm, das schwerer, orientalischer und dunkler duftete, und mitten in dieser Wolke einen gänzlich verwirrten Florian.

Der fürchtete sich davor, einzuschlafen. Eigentlich sehnte er sich danach, weil er todmüde war, aber er fürchtete die Träume, die in der Nacht kommen würden.

Tatsächlich konnte er sich an keinen Traum erinnern, nur, dass er irgendetwas beinahe zu fassen bekommen hätte, dass es ihm aber im letzten Moment doch wieder entglitten war.

Dennoch fühlte er sich erfrischt. Als er die Augen aufschlug, erblickte er als Erstes das frisch geschminkte Gesicht der Sara Levinsohn. Sie saß am Frühstückstisch und betrachtete ihn, ganz gewiss eine Retourkutsche, mit der amüsierten Überlegenheit, die ein Wachender gegenüber einem Schlafenden empfindet. Wie eine Katze, die die Maus beobachtet, fuhr es Florian durch den Kopf.

Er streckte sich gähnend, auch um seine Verlegenheit zu überspielen.

»Kaffee, Tee, Kakao«, zählte Fräulein Levinsohn das Angebot auf, »nicht zu vergessen der frisch gepresste Orangensaft. Auf Alkohol habe ich bei der Bestellung verzichtet oder werden Sie langsam wieder Sie selbst?«

Florian kam irgendwie in die Höhe und beantwortete die Frage wortlos, aber mit leisem Schlürfen, indem er den Apfelsinensaft trank. »Beruhigt oder besorgt?«, fragte er dann.

»Eher verstört. Aber ich gewöhne mich daran. Abgesehen davon werden die Gelegenheiten des gemeinsamen Frühstücks sehr seltene solche bleiben.«

»Weiß man´s«, grunzte Hammerstain und die Levinsohn kaute wütend auf ihrer Unterlippe.

»Ich meine, wir warten noch immer darauf, dass sich Zucker bei dem Bankier Steingold meldet«, schob Florian beinahe hastig hinterher.

»Was sollten Sie wohl sonst meinen«, schnappte die Levinsohn.

Die Zeitungen berichteten von Auseinandersetzungen an einer Kohlenverladenanlage, bei der es mehrere Tote gegeben hatte. Die Meldung stand auf Seite Drei unter Buntes aus unserer Stadt.

»Ich will wissen, wer bei diesem Blatt für die Nachrichtenauswahl verantwortlich ist«, erklärte Florian energisch.

»Warum?«

»Darum!«

Fräulein Levinsohn blies sich eine Strähne aus der Stirn. Bisher hatte Florian diese hübsche Frisurvariante nicht bei ihr gesehen.

»Wird erledigt, Chef. Sonst noch was? Soll ich einen Zettel holen oder werde ich es mir noch merken können?«

»Das hängt von Ihnen ab. Mir fällt schon noch was ein. Aber wenn ich gefrühstückt habe, werde ich in aller Ruhe einige Anrufe hinter mich bringen. Mal sehen, ob ich diesem ominösen Institut nicht ein Stück näher kommen kann.«

Florian hatte einige Namen im Kopf. Keine Ahnung, woher sie kamen, vielleicht ließ die Wirkung der Droge ja inzwischen nach. Auf jeden Fall waren die Namen da, sie lagen parat und Hammerstain machte sich an die Anrufe.

Professor Grünwang war in der Abteilung für dimensionale Transgression des paraphysikalischen Instituts und schien aus allen Wolken zu fallen. »Hammerstain, bist du da?«

»Wo soll ich sonst sein?«, antwortete Hammerstain gereizt und Grünwang stotterte auf der anderen Seite in die Sprechmuschel und redete davon, dass es keine praktischen Erfahrungen gäbe und nur theoretische Berechnungen und dass sie unbedingt miteinander darüber reden müssten. Hammerstain ließ stirnrunzelnd den Hörer sinken. Was sollte das nun schon wieder? Selbst für einen Professor wirkte Grünwang konfus.

Immerhin hatte Grünwang klargestellt, dass das Institut für seelische Amelioration an keiner der hiesigen öffentlichen Universitäten zu finden war und dass es sich somit nur um ein privates Institut handeln konnte.

Fräulein Levinsohn kam mit einem Namen auf einem Zettel. Der Name sagte Hammerstain nichts.

»Er ist der Nachrichtenchef«, erklärte die Levinsohn, »er bestimmt, was wann wo erscheint, und nimmt auch die Bildauswahl vor. Hilft uns das jetzt weiter?«

Florian schaute auf Fräulein Levinsohn, die den Kopf mit übertriebener Neugier vorschob.

»Fragen Sie mich noch mal, wenn die Sache ausgestanden ist«, antwortete er dann.

»Hauptsache, ich kann dann noch fragen. Wohin gehen Sie?«

»Keine Ahnung. Ich brauche Bewegung.«

»Ich auch«, entschied die Levinsohn, »ich komme mit.«

Sie nahmen den inzwischen schon üblichen Weg durch das Labyrinth des Untergeschosses, nutzten einen rangierenden Lieferwagen, um ungesehen auf die andere Straßenseite zu kommen und verschwanden dann im Gewühl der Passanten.

»Kein besonderes Ziel?«, erkundigte sich Fräulein Levinsohn.

Florian schüttelte den Kopf. Es ging ihm ausgesprochen auf die Nerven, dass er bei seiner Suche nach dem Institut kein Stückchen weitergekommen war. Er hatte mit Personen gesprochen, die ihn teilweise schon seit Langem kannten, deren Stimmen ihm bekannt vorkamen und teilweise sogar so etwas wie eine Erinnerung an ein Gesicht oder eine Gestalt oder eine Begebenheit in ihm auslösten. Aber das alles war nebelhaft wie ein Traum, nicht greifbar und darum versetzte es ihn um so mehr in Furcht. Und darüber hinaus war das alles vergeblich gewesen, das machte es noch schlimmer.

Er achtete nicht auf die Auslagen der Geschäfte, aber Fräulein Levinsohn, die bisher neben ihm gegangen war, verfiel in Schlenderschritt und blieb immer wieder vor den großen Schaufenstern stehen.

Hammerstain ging einige Schritte zur Seite, wo die Auslagen eines Antiquitätengeschäftes waren. Er betrachtete die Vasen, das Geschirr und das Porzellan. Irgendetwas tat sich in seinen Gedanken. Aber er wusste nicht was. Unzufrieden stellte er sich neben die Levinsohn.

»Ja, es gibt so viele feine Sachen«, verkündete sie, »schon darum müsste man ab und zu auch den zustehenden und sauer verdienten Lohn ausgezahlt bekommen.«

Sie sagte das im Anblick eines mit Perlen und Pailletten verzierten Abendkleides mit gefährlichem Decollete und langen Fransen am Saum. »Bei dem Preis würde Ihr Gehalt gerade mal für den linken Träger reichen«, spottete Florian und die Levinsohn antwortete kühl: »Damit wäre immerhin ein Anfang gemacht.«

Nach einer Weile steuerte sie auf ein großes Café zu. »Ich lade Sie ein«, erklärte sie großzügig, »diesmal kommt es nicht auf die Rechnung.«

Sie fanden in der dritten Etage noch einen freien Tisch mit Blick auf die Straße. Es roch nach Kaffee, Kakao, Kuchen und Zigarrenrauch, die Bedienungen huschten lautlos über dicke Teppiche, das leise Klappern von Tassen und Kuchengabeln und das Gemurmel der Gäste schufen eine feierliche Atmosphäre, als würde hier gerade ein großes Familienfest stattfinden.

Fräulein Levinsohn unterdrückte ein Stöhnen, als Hammerstain einen großen Kakao mit viel Sahne bestellte und für die Karte mit dem Angebot an Zigarillos und Zigarren nur ein abwehrendes Winken übrig hatte.

»Was?«, raunzte Hammerstain.

»Ich komme noch immer nicht über Ihre Veränderung hinweg. Und ich frage mich auch, ob ich mich mit Ihnen nicht sogar blamiere – Sie bestellen, als ob Sie ein naschsüchtiger Siebzehnjähriger wären.«

Allerdings stürzte sich die Levinsohn ihrerseits auf den Kuchen, als wollte sie es einem naschsüchtigen Siebzehnjährigen gleichtun.

»Wenn Sie so weitermachen, haben Sie in zwei Wochen die Figur der Bankiersgattin Steingold und zwar ohne sich Decken umzuwickeln«, stichelte Florian.

Für einen Augenblick schwebte die Levinsohnsche Kuchengabel zitternd in der Luft, bereit in die Hammerstainsche Stirn einzudringen. Im nächsten Augenblick zerteilte sie wieder das Stück Sahnekuchen, an dessen Vernichtung Fräulein Levinsohn intensiv arbeitete.

»Ich habe durch die Aufregung der letzten Tage abgenommen«, erklärte sie, »ich muss schauen, dass ich nicht vom Fleisch falle.«

Florian sprang auf. Irgendetwas – ein Geräusch, ein Schriftzug auf einem draußen vorbeidonnernden Lastwagen, ein aufgeschnappter Gesprächsfetzen – hatte ihm eine Idee eingegeben.

»Was ist los?« Fräulein Levinsohn entfernte mit spitzer Zunge einen Sahnespritzer aus ihrem Mundwinkel.

»Bleiben Sie hier und genießen Sie die Aussicht. Ich habe was zu erledigen.«

Fräulein Levinsohn hob die Achseln. »Na gut, Sie waren heute sowieso nicht besonders unterhaltsam.«

»Wann je?«

Florian eilte auf die Straße, lief zum benachbarten Taxistand und warf sich in den einzigen wartenden Wagen. Die Adresse kam aus seinem Mund, als hätte er die Worte wie ein Bonbon hinter den Zähnen versteckt, um sie im richtigen Moment auszuspucken. Der Fahrer quittierte mit einem Grunzen und warf im Rückspiegel einen Blick auf seinen Fahrgast. Dann mischte er sich mit quietschenden Reifen in den Verkehrsstrom. Die Fahrt führte aus der Innenstadt in die Außenbezirke und Florian verstand nun den prüfenden Blick. Unter den Reifen ratterte Kopfsteinpflaster, der Wagen wirbelte Staub auf. Direkt hinter den Häusern erhoben sich Industrieanlagen, rostbraune Wolken quollen aus den Hallen hervor und krochen träge über die Dächer der Nachbarschaft. Das Sonnenlicht wurde trübe, schräge Strahlen standen in der Straße, als würde ein Gebäude einstürzen.

»Dort drüben ist es«, sagte der Fahrer.

»Warten Sie hier«, befahl Hammerstain, als er bezahlt hatte.

Der Fahrer schaute sich missmutig zu einigen schmutzigen Kindern um, die in der Nähe mit einer Dose Fußball spielten.

»Ich kann es versuchen, aber wenn diese kleinen Ratten anfangen, meinen Wagen abzumontieren, dann bin ich weg.« Er legte die Hände auf das Lenkrad, der Motor ratterte im Leerlauf.