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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Flusspiraten des Mississippi 5

die-flusspiraten-des-mississippiFriedrich Gerstäcker
Die Flusspiraten des Mississippi
Aus dem Waldleben Amerikas

5. Die nächtliche Fahrt ∙ Die Insel

Der Mond schien hell und freundlich auf die rasch dahin strömende, undurchsichtige Flut herab, während nur dann und wann einzelne dünne Wolken die helle Scheibe für kurze Momente verdüsterten und ihre Schatten über die weite Niederung deckten. Leise gurgelte das Wasser unter den schweren Booten, und die Strömung warf schmutzig gelbe Schaumblasen gegen ihre Planken. Hier und da trieb ein Baumstamm vorüber, und der Schrei des Seetauchers gab manchmal, oft wie spottend, das rohe Gelächter der Zechenden zurück, das noch immer aus einem der hell erleuchteten Boote und einem weiter oben gelegenen Trinkhaus erschallte. Oft sprang auch ein gewaltiger Katzenwels aus seinem kühlen Element empor, und die glatte, silbrige Haut blitzte dann im Mondlicht. Sonst aber lag Ruhe – stille, unheimliche Ruhe – auf der breiten Fläche des Stromes und stach nur um so schauriger gegen das Geschrei der wilden, ausgelassenen Gesellen ab.

Smart schritt langsam am Ufer hin und hatte eben den abgebrochenen Stamm einer jungen Sykomore erreicht, der hier von den Flussleuten benutzt wurde, die Bootstaue daran zu befestigen, als sich ihm die Gestalt eines anderen Mannes näherte, den er augenblicklich als den vor wenigen Stunden geretteten Iren erkannte. Langsam kam dieser ihm entgegen und schien nur dann und wann einmal die Boote mit einem misstrauischen Blicke zu betrachten.

»Ei, ei, O’Toole«, rief der Yankee, »juckt Euch das Fell schon wieder und tragt Ihr so absonderliches Verlangen nach kaltem Flusswasser, dass Ihr Euch, alle Vorsicht vergessend, in die Nähe von Leuten wagt, die erst vor kurzer Zeit ein Todesurteil über Euch gefällt hatten? Ich möchte zum zweiten Mal nicht ausreichend sein, Euch ihrem Griff zu entreißen.«

»Hol sie der Böse«, murmelte der Ire, der bei den ersten Worten, und ehe er recht unterscheiden konnte, wer zu ihm sprach, schnell nach der Seite und einer dort wahrscheinlich verborgenen Waffe gegriffen hatte. Durch den Anblick des Wirts zwar beruhigt, doch immer noch mit verbissenem Ingrimm fuhr er fort: »Eine Bande ist’s, eine raubgierige, schurkische Bande von lauter Schuften, die aneinander hängen wie die Kletten. Smart – Ihr mögt mir’s nun glauben oder nicht, aber St. Patrick soll mich in meiner letzten Stunde verlassen, wenn ich nicht fürchte, hinter den Burschen steckt etwas Schlimmeres, als wir jetzt noch vermuten.«

»Hinter den Bootsleuten?«, fragte der Wirt verächtlich lächelnd, »da tut Ihr ihnen wahrlich zu viel Ehre an. Wildes, rohes Volk ist’s, das gedanken- und sittenlos in den Tag hineinlebt und, wie die Matrosen jeden Dollar verspielt und vertrinkt, den es sich vorher mit saurem Schweiß verdienen musste.«

»Das ist’s nicht allein«, erwiderte der Ire kopfschüttelnd, »das ist’s bei Gott nicht allein. Die Kerle halten zusammen wie ein Sack voll Nägel und haben auch Zeichen untereinander. Darauf wollte ich meinen Hals verwetten. Sobald der eine Halunke pfiff – ich habe mir übrigens den Pfiff gemerkt – stürmen sie alle miteinander auf mich los, wie eine Meute Bracken, wenn sie das Horn hören. Aber wartet, wartet, Kanaillen, ich komme euch noch auf die Spur. Darauf könnt ihr euch verlassen, und dann sei euch Gott gnädig.«

»Dort unten stößt ein Boot ab«, sagte smart und zeigte den Fluss hinab, wo gerade unterhalb der Flatboote ein kleines scharf gebautes, jollenartiges Fahrzeug hervorschoss, zuerst eine Strecke in den Strom hineinhielt und dann stromab seine Bahn verfolgte. Ein Mann saß darin, wer es aber war, konnten sie nicht erkennen.

»Nun, wo will denn der hin?«, fragte der Ire.

»Es wird irgendein Flatbooter sein, der hier wie gewöhnlich seine paar Dollar verspielt hat und nun in aller Eile hinter seinem indessen vorausgefahrenen Boot herrudern muss.«

»Dann kommt dort noch die übrige Mannschaft«, sagte der Ire, denn jetzt glitt ein großes Segelboot in den Strom, das aber nicht dieselbe Richtung wie das einzelne Boot nahm, sondern den Bug etwas stromauf scharf in den Fluss hineinhielt, als ob es so hoch wie möglich am anderen Ufer landen wolle.

»Weathelhope drüben bekommt heute Besuch«, sagte smart, »er wird sich sehr freuen.«

»Sollten die bei Weathelhope einkehren?«

»Wenn nicht, so haben sie noch wenigstens fünf Meilen heut Abend zu marschieren, ehe sie noch ein anderes Haus erreichen können, und fünf Meilen bei Nacht und Nebel durch den Sumpf zurückzulegen, dafür danke ich. Lieber blieb ich die Nacht dicht am Ufer des Stromes. Da ließen die Moskitos doch wenigstens noch etwas von mir übrig, in dem Sumpf aber drin fräßen sie, glaube ich, einen Menschen bis auf die Knochen auf.«

»Es wäre bei Gott kein Verlust, wenn das den Kanaillen heute passierte«, brummte der Ire. »Doch gute Nacht, smart, es wird spät, ich will mich schlafen legen. Von heut an bin ich übrigens Euer Schuldner, denn ohne Euch läge ich jetzt tief dort unten in der schmutzigen Flut. Gebe Gott, dass ich Euch das einmal vergelten kann!«

»Ei, O’Toole«, erwiderte der Wirt lachend, während er ihm die Hand reichte. »Das war bloß Eigennutz von mir, ich hätte ja sonst einen meiner besten Gäste verloren. Doch – ohne Spaß – nehmt Euch vor dem rohen Volk künftig lieber ein wenig mehr in acht. Es hat niemand Ehre davon, sich mit ihnen einzulassen.«

Jonathan smart schritt langsam zu seiner Wohnung in die Stadt zurück. O’Toole aber blieb noch stehen und lauschte aufmerksam nach den Ruderschlägen des Bootes hinüber, bis sie endlich ganz plötzlich aufhörten oder die Drehung des Windes die Geräusche nicht mehr zum westlichen Ufer trug. Der Irländer horchte noch eine Weile und murmelte dann ärgerlich vor sich hin: »Hol sie der Teufel – jetzt lässt sich doch nichts mit ihnen anfangen. Aber wartet, morgen will ich hinüber zu Weathelhope, und dann müsste es ja mit dem Henker zugehen, wenn man nicht auf die Fährte der Schufte kommen könnte.«

Das Boot strebte übrigens keineswegs, wie der Ire vermutet hatte, dem anderen Ufer zu, obgleich es, von Helena aus gesehen, den Anschein hatte. Es hielt nur in gerader Richtung durch den Strom, bis kurz vor seinem scheinbaren Ziel.

»Stopp!«, sagte da plötzlich eine raue, tiefe Stimme.

Die vier Bootsleute hoben gleichzeitig ihre Riemen hoch aus dem Wasser, dass die glänzenden Tropfen bis zu dem Bootsrand zurückliefen. Es war der Steuermann, der den Befehl gegeben hatte, und zugleich ein alter Bekannter von uns. Der Narbige, der in Helena dem armen Iren beinahe gefährlich geworden wäre. Auch die neun Männer an Bord, vier an den Riemen und fünf behaglich zwischen diesen ausgestreckt, bildeten die Mehrzahl derer, die an dem Kampf gegen O’Toole einen so ungerechten Anteil genommen hatten.

Das Boot, nicht mehr so schnell durch die Flut getrieben, blieb doch noch hinlänglich in Bewegung, um von dem Steuer, und zwar stromab, regiert zu werden.

»Ich wäre lieber noch ein wenig weiter hinübergefahren«, sagte der eine jetzt, während er den Kopf hob und zum Ufer hinüberschaute.

»Und wozu?«, fragte der mit der Narbe. »Erstens liefen wir Gefahr, auf den Sand zu rennen, und dann möchten sie auch oben in dem Haus auf uns aufmerksam werden, und das ist beides nicht nötig«

»Lassen wir die runde Weideninsel links oder rechts liegen?«

»Links.«

»Da ist ja auch wohl das tiefste Wasser?«

»Deshalb nicht, unser kleines, Känguru’ würde schon über die flachen Stellen hinwegspringen. So arg ist es übrigens auch gar nicht, wir haben an beiden Seiten der Insel bei dem jetzigen Wasserstand und an den seichtesten Stellen sechs Fuß und brauchen höchstens anderthalb.«

»Nun, mir ist’s recht – ich weiß mit dem Fluss nicht Bescheid, aber wie lange fahren wir denn wohl bis hinunter?«

»Es mögen etwa vierzehn Meilen von Helena sein«, meinte der Narbige. »Eine Meile weiter unten fangen wir wieder an zu rudern, fahren über den Fluss zurück und müssen den Landungsplatz in spätestens anderthalb Stunden erreichen, vielleicht noch eher. Jetzt seid aber ruhig. Hier am Ufer stehen einige Häuser. Je weniger Geräusch wir machen, desto besser ist es.«

Das scharf gebaute Fahrzeug trieb noch eine ziemliche Strecke geräuschlos stromab, dann aber tauchten, auf ein Zeichen des Anführers, die Männer die Riemen ins Wasser. Der Bug kehrte sich wieder dem westlichen Ufer zu, und hin über die Flut schoss nun das Boot, dass die kleinen Kräusel wellen hoch emporspritzten. Es näherte sich mehr und mehr dem Ufer, ja glitt so nahe an dem düsteren Urwald hin, dass die funkelnden Glühwürmchen sichtbar wurden und der klagende Schrei der Nachtvögel zu hören war.

Hier lag eine Ansiedlung, und um diese so geräuschlos wie möglich zu passieren, waren die Riemen umwickelt worden – kein Laut wurde gesprochen, und so dicht am Ufer glitt nun das Boot hin, dass die Männer die Wipfel der ins Wasser geneigten Bäume berühren konnten. Da blieb einer der Riemen an einem vorragenden Ast hängen und fiel dem, der ihn hielt, aus der Hand. Der Steuermann drückte jedoch das Heck des Bootes schnell dem fort treibenden Holz zu und ergriff ihn eben noch zur rechten Zeit, konnte jedoch nicht verhindern, dass ein paar der Riemen gegen Bord schlugen und dadurch auf dem stillen Wasser ein nicht unbedeutendes Geräusch verursachten.

Sie befanden sich gerade unterhalb des einen Hauses. Die Hunde schlugen dort an und liefen dem steilen Uferrand zu, von dem sie das vorbeigleitende Boot deutlich erkennen konnten.

»Hallo!«, rief eine laute Stimme aus der kleinen Lichtung. Gleich darauf sprang ein Mann in Hemdsärmeln auf einen über die steile Uferbank hinausragenden Sykomorenstamm und schwenkte zum Zeichen, dass er mit den Vorbeirudernden reden wolle, ein helles Tuch.

Dass sie gesehen worden waren, ließ sich nicht mehr verkennen, der Steuermann gab auch ohne Zeitverlust und mit ruhiger Stimme »Was soll’s« zurück und ließ den Bug herumschneiden, dass er gegen die Strömung kam. Dabei rief er dem im Vorderteil sitzenden zu, irgendeinen Ast zu erfassen und festzuhalten, bis er mit dem Mann gesprochen hätte.

»Aber zum Teufel, Ned«, flüsterte der vor ihm Sitzende ängstlich, »bist du nicht gescheit? Du willst es denen an Land wohl …«

»Ruhe, sag’ ich«, unterbrach ihn der Steuermann, »lasst mich nur machen. Wir dürfen keinen Verdacht erregen.«

»Wohin geht das Boot?«, rief abermals die Stimme vom Ufer aus.

»Stromab, bis Montgomerys Point.«

»Noch ein Platz an Bord?«

Der Steuermann zögerte mit der Antwort. »Was zum Teufel mögen sie wollen?«, flüsterte er vor sich hin.

»Noch Platz an Bord für einen Passagier?«, wiederholte der Mann.

»Alle Wetter – da gibt’s was zu angeln«, kicherte der eine der Bootsleute. »Sag ja, Ned – um Gottes willen sag ja. Der Mann hat sicherlich einen vortrefflichen Koffer, den er los werden möchte.«

»Nein!«, rief jedoch der Steuermann, »wir haben schon zu viel hier an Bord. Wenn uns ein Dampfboot begegnet, könnte uns ein Unglück zustoßen.«

Eine nochmalige Frage, die durch das Schäumen des Wassers in der neben ihnen angeschwemmten Eiche ohnedies übertönt wurde, nicht weiter beachtend, gab er laut den Befehl, vorn loszulassen. Der Bug fiel gleich darauf wieder ab, und das Boot nahm seine so plötzlich unterbrochene Fahrt erneut auf.

»Was in Beelzebubs Namen ist dir denn heut Abend in den Kopf gestiegen?«, zürnte der frühere Sprecher, indem er sich unwillig gegen den Steuermann wandte. »Schickst die Leute selbst zurück, die uns ihre guten Sachen bringen wollen, und betrügst uns förmlich um unseren Gewinn? Der Captain wird schön schimpfen, wenn er’s erfährt.«

»Halt dein ungewaschenes Maul«, knurrte der Narbige, »redest, wie du’s verstehst. Wir haben heute genug Unsinn in Helena getrieben. Ich sollte denken, wir ließen es dabei bewenden. Wolltest du eines einzigen erbärmlichen Koffers wegen Gefahr laufen, unseren Schlupfwinkel aufgestöbert zu wissen – he? Willst du hier einen Verdacht erregen, der uns die benachbarten Konstabler in ein paar Wochen auf den Hals hetzen würde? Nein, es war töricht genug, dass wir heute den Streit anfingen, zu dem du ebenfalls wieder den Anlass gegeben hast. Dabei mag’s sein Bewenden haben. Fatal ist mir’s übrigens, dass uns der Laffe am Ufer gesehen hat. Nun, er weiß doch wenigstens nicht, wohin wir gehören. Aber jetzt greift aus, meine Burschen, denn der Captain wird uns erwarten. Ich bin überdies neugierig, was unser nächster Zug sein mag. Heute Nacht bestimmt er’s vielleicht.«

Das Boot flog nun pfeilschnell über die glatte Stromfläche hin, und nicht lange mehr währte es, bis sich eine dunkle, hoch mit stattlichen Bäumen bewachsene Insel von dem düsteren Hintergrund klar abhob, die von den Männern als das Ziel ihrer nächtlichen Fahrt begrüßt wurde.

Diese Insel, die wie alle übrigen im Mississippi mit Schilf, Weiden und hohen Bäumen am Rand bewachsen war, zeichnete sich durch kein besonderes Merkmal aus. Ihre Nummer, unter der die Bootsleute sie kannten und mit der sie auf den Flusskarten verzeichnet stand, war »Einundsechzig«. Wie die meisten jener kleinen Inseln wurde sie aber nur selten und in letzter Zeit nie mehr von den herabkommenden Booten besucht, da ein Hurrikan, wie es hieß, den größten Teil derselben verwüstet habe. Wirklich starrten auch, und zwar besonders an den Stellen, an denen ein großes Boot bequem hätte landen können, eine solche Menge von weitästigen, knorrigen Baumwipfeln überall empor, dass ein Anlegen am Ufer unmöglich gewesen wäre. Nur ein Platz lag offen und frei da und schien auch in früherer Zeit benutzt gewesen. Jetzt aber umgaben ihn viele Snags, die aus der rasch vorbeischießenden Flat hervorragten, und der Flatbooter, der vor einbrechendem Abend vielleicht gehofft hatte, hier sein Boot befestigen zu können, griff mit schnellem, ängstlichem Eifer zu den Riemen und trieb, in fast verzweifelter Kraftanstrengung, das Fahrzeug fort von dem Platz, der ihm Verderben bringen musste.

Der Steuermann fluchte dann wohl, dass der Staat nicht mehr Fleiß darauf verwende, den Strom von solch gefährlichen Gesellen zu räumen. Er Schwur sich’s auch vielleicht heimlich, künftig in dem in seiner Karte angegebenen Fahrwasser zu bleiben, das ihn auf die andere Seite der Insel verwies, und entging dadurch unbewusst einer Gefahr, die ihm als auch seinem Boot weit verderblicher geworden wäre, als alle Snags des Mississippi zusammen. Aus dem Dickicht des Inselufers aber schauten ihm dann ein paar höhnisch lachende Augen nach, und eine raue Stimme brummte in den Bart: »Sei froh, Bursche, dass du dich hast warnen lassen, das Land hier zu betreten. Du hättest sonst eine ruhigere und längere Nacht gehabt, als du es dir wohl je im Leben träumen ließest.«

Dass jene Snags auf künstliche Weise, mittels Anker und versteckter Bojen hergestellt waren, daran dachte freilich niemand. Aus der Ferne sahen sie auch natürlich genug aus, und nur ganz in der Nähe und nach genauer Untersuchung hätte man dem Geheimnis auf die Spur kommen können. Wer von den Schiffern würde aber seine Zeit daran verschwendet haben? Das starre, aus dem Wasser aufragende Holz war ihnen Anlass genug, so weit wie möglich dem »Bootsvernichter« auszuweichen.

Die verhältnismäßig nahe am linken Ufer gelegene Insel war drei englische Meilen lang, oben ziemlich breit und auf dieser Seite von einer Menge angeschwemmter Stämme unzugänglich gemacht, und lief am unteren Teil spitz zu. Dort hatte sich aber eine recht bedeutende und wohl eine Meile stromab reichende Sandbank gebildet, die zu einem eine halbe Meile tiefer gelegenen Eiland führte. Dieses wurde noch mit zur »Nummer Einundsechzig« gezählt, da das Wasser zwischen beiden zu seicht war, größeren Flatbooten eine Durchfahrt zu gestatten. In Wirklichkeit war es aber von der oberen größeren Insel selbst bei niedrigstem Wasserstand völlig getrennt und wurde, wenn im Juli die Schneewasser aus den Felsengebirgen herabkamen, oft gänzlich von diesen bedeckt. Die Insulaner nannten dieses kleine Eiland übrigens, da sie es im Falle einer Entdeckung als letzte Zuflucht betrachteten, die »Notröhre«.

Einen besseren Schutz genoss »Nummer Einundsechzig« von der rechten Seite des Flusses. Hier umgab sie eine ziemlich hohe Sandbank, die etwa zweihundert Schritt vom Hauptufer der Insel wiederum in einen schmalen, mit Weiden und Baumwollholzsprösslingen dichtbewachsenen Landstreifen auslief. Dieser zog sich fast parallel zur Insel hin, wurde aber auch seinerseits wieder am rechten Ufer durch eine jedoch nur wenige Klafter breite Sandfläche geschützt.

Demnach konnte man sich dieser Insel nur von der linken oder Ostseite, wo ihr nächstes Ufer der Staat Mississippi war, nähern. Hier hielten die getroffenen Vorkehrungen sicherlich jeden vom Landen ab, der dazu Lust haben mochte. Die eigentliche Strömung und das Fahrwasser des Mississippi lag denn auch ganz auf der rechten Seite der Insel, und die Entfernung zwischen jenem schmalen Zwischenstreifen und Arkansas betrug eine englische Meile, der Raum zwischen »Nummer Einundsechzig« und dem Staat Mississippi aber kaum die Hälfte dieser Entfernung.

An den beiden der Insel gegenüberliegenden Ufern standen nun allerdings ein paar niedrige Blockhäuser, wie sie die Holzschläger am Mississippi gewöhnlich aufrichten, um die geschlagenen Klafter an die vorbeifahrenden Dampfschiffe zu verkaufen. Sie waren aber nur selten bewohnt und auch fast unbewohnbar geworden. Das in Arkansas stehende hatte nicht einmal mehr ein Dach und drohte dem nächsten Sturmwind nachzugeben, der es unfehlbar in den Strom hinabstürzen musste.

Etwas besser erhalten zeigte sich das Haus auf der Mississippi-Seite, jedoch glich es viel eher einem Stall als einer menschlichen Behausung. Zahlreiche Pferdespuren gaben auch Zeugnis, dass es hierzu oft genug benutzt gewesen war. Mehrere, nicht gerade wenig begangene Pfade führten östlich auf einen Sumpf zu, in dessen schwammigem, fast zehn Monate im Jahr unter Wasser stehendem Boden sie sich verloren.

Wer nun, trotz all der getroffenen Vorsichtsmaßregeln, zufällig an der Insel gelandet und nicht gleich auf den einzigen gangbaren Pfad gekommen wäre, der hätte seinen Weg mehrere hundert Schritte weit durch den fürchterlichsten Schilfbruch hin suchen müssen, der je eine Insel bedeckte.

Dazwischen lagen dann nicht gefällte, sondern mit der Wurzel dem Boden entrissene Stämme so wild durcheinander, dass niemand auch nur hoffen konnte, dieses Pflanzengewirr zu durchdringen, der sich nicht mit Messer und Axt erst eine Bahn hieb. Da aber nicht der geringste Vorteil zu erhoffen war, so fiel es natürlich auch niemandem ein, Zeit und Mühe an eine solch nutzlose Arbeit zu verschwenden.

Dennoch lag hier – so tief versteckt und schlau angelegt, dass sie selbst den scharfen Augen der Jäger entging – eine ganze Ansiedlung verborgen, die aus neun kleinen Blockhütten, einem ziemlich geräumigen Speicher und fünf dicht aneinander gebauten und miteinander verbundenen Pferdeställen bestand. Das Ganze bildete eine Art Hofraum und war nach Art der indianischen Forts so gebaut, dass es gegen einen plötzlichen Angriff selbst einer Übermacht recht wohl verteidigt werden konnte. Der Speicher und eine der kleinen Blockhütten standen in der Mitte, und ringsherum bildeten auf der Ostseite, nach dem Staat Mississippi zu, die Ställe eine feste, undurchdringliche, mit Schießscharten wohl versehene Wand, während auf der westlichen, minder bedrohten Seite nur hohe und doppelte Fenzen die einzeln stehenden Gebäude miteinander verbanden. Als besonderen Schutz betrachteten aber die Inselbewohner eine lange Drehbasse, die oben auf dem flachen Dach des Speichers angebracht war und mit der sie, als letztes Rettungsmittel, Tod und Verderben auf etwaige Angreifer hinabschleudern konnten.

Der Raum vor dem Speicher und dem kleinen Blockhaus, in welchem der Captain mit seiner Frau wohnte, war frei und jetzt, in der Sommerzeit, mit großen, buntgestreiften Sonnenzelten bespannt. In den übrigen Häusern aber wohnten (das eine breit und geräumig gebaute ausgenommen, das zu einer gemeinschaftlichen Junggesellenwirtschaft bestimmt blieb) die verheirateten Mitglieder der Gesellschaft. Das Junggesellenhaus oder »Bachelors Hall«, wie es gewöhnlich genannt wurde, diente auch als

 Versammlungsort. Nur bei geheimen Beratungen kamen die Führer der Schar in einem kleinen, zu diesem Zweck eingerichteten Kämmerchen des Speichers zusammen, um erst dann die gefassten Beschlüsse in »Bachelors Hall« zur Abstimmung zu bringen.

Der Captain übte jedoch eine eigentümliche, fast unbegreifliche Gewalt über diese wilden, gesetzlosen Menschen aus, die sonst nichts auf Erden anerkannten als ihre eigenen Gesetze. Er hatte freilich auch gewusst, sich auf die einzig mögliche Art Achtung zu verschaffen, und zwar sowohl durch das Übergewicht seines Geistes als auch durch mehrfach bewiesenen persönlichen Mut, der wirklich an Tollkühnheit grenzte. Sie fürchteten ihn deshalb fast so sehr, wie sie ihn verehrten, und Captain Kelly war ein Name, der nie im Scherz oder Spott genannt werden durfte.

Nur zwei gangbare Wege führten zu diesem, durch ein scheinbar natürliches Bollwerk beschützten Zufluchtsort der Verbrecher. Der eine lief vom Ufer aus, und zwar dicht unterhalb der schon erwähnten künstlichen Snags, zuerst der Mitte der Insel zu und zog sich dann ein wenig nach links. Dieser Weg war aber nur dazu bestimmt, um selbst dann noch den Eindringling irrezuführen, wenn er den richtigen Pfad entdeckt hätte, denn er brachte ihn in einen kleinen Sumpf, in dem er, wenn er nicht rechtzeitig umkehrte, unfehlbar versinken musste. Der andere Weg dagegen bog, durch darübergeworfene Äste verdeckt, rechts ab und stieß auf das Fort gerade an dem fünften Stall. Eine ordentlich ausgehauene Straße lief von der Südostseite des Forts, an der rechten oder Ostseite des Sumpfes hin und gerade der Südspitze der Insel zu, und führte zu den hier sorgfältig versteckten und für den letzten Notfall aufbewahrten Booten. Eine Verteidigung des Forts konnte allerdings nur als letztes verzweifeltes Mittel betrachtet werden, um soviel Zeit zu gewinnen, die Boote zu erreichen. Der sicherste Schutz der Gesellschaft blieb das Geheimnis, in das ihre ganze Existenz gehüllt war. Und das zu bewahren, musste ihr wichtigstes Streben sein.

Fürchterliche Eide verbanden die Komplizen. So weit verzweigt und andererseits so eng miteinander verkettet waren die Männer, dass derjenige, der die Bande wirklich hätte verraten wollen, nie wusste, ob der, dem er vertraute, nicht auch zu ihnen gehörte und den Verräter ihrer Rache überantwortet hätte.

Dabei bot die Insel stets dem von den Gerichten verfolgten einen sicheren Zufluchtsort, und einmal dort, blieb jedes Nachforschen der Konstabler vergebens. Es hieß dann gewöhnlich, der Flüchtling sei nach Texas entkommen, während er noch sicher und ruhig auf der Insel saß. Aber es war klugerweise von dem Oberhaupt dieser Schar auch ein Preis dem bewilligt worden, der den Verrat eines Mitgliedes verhinderte und den Täter erschlug. Die Prämie – tausend Dollar in Silber – war an sich schon verlockend genug, die Aufmerksamkeit der im Land verteilten Banditen rege zu erhalten, hätte es nicht fast noch mehr die Sorge um die eigene Sicherheit getan.

Der erste Sonnabend jedes Monats war zum Versammlungstag bestimmt worden, und Captain Kelly führte dabei den Vorsitz. Mit dem Staat Arkansas standen sie in geringer, mit dem Staat Mississippi dagegen in sehr enger Verbindung. Ein Posten, der wie ein Matrose im Mastkorb in dem Wipfel des höchsten Baumes seinen Platz hatte, konnte von dort aus beide Ufer erkennen. Er sollte auf etwaige Signale achten oder bedrängten Kameraden Hilfe zukommen lassen. Zu diesem Zweck lag auch ein Boot an der Nordwestecke der Insel stets zum Auslaufen bereit. Der Pfad aber, der zu diesem Boot führte, konnte nur von Eingeweihten gefunden werden, doch lag das Fahrzeug selbst hier ziemlich offen, da das seichte Wasser größere Boote stets eine bedeutende Strecke davon entfernt hielt und deshalb keine Entdeckung zu fürchten war.

Doch genug über die Einrichtung eines Ortes, den wir im Laufe der Erzählung überdies noch näher kennenlernen werden. Wir müssen uns jetzt den Bewohnern dieser Verbrecherinsel zuwenden.