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Die Tauscher 8

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 8

Morgens im Badezimmer erschrak er vor dem Gesicht im Spiegel. Es war ihm fremd, er kannte es nicht, aber alle Welt wusste es besser als er selbst und behauptete, es wäre das passende Gesicht für ihn, für Silwester Hammerstain, den fröhlichen Saufkumpan, den niemand respektierte, aber den man heimlich fürchtete wie einen bissigen Köter.

»Sie sollten wieder mit dem Rauchen anfangen«, sagte Fräulein Levinsohn beim Frühstück, »Ich glaube, ich werde es auch bald mal wieder versuchen, soll ja sogar gesund sein.«

»Warum soll ich wieder rauchen? Und gesund ist es sicherlich nicht.«

»Sie glauben nicht an wissenschaftliche Untersuchungen, was«, gab sich die Levinsohn schnippisch, »und schauen Sie mal in den Spiegel, Sie sehen aus wie Ihr eigener Großvater.«

»Was wissen Sie denn über meinen Großvater? Und es schmeckt mir nicht mehr, das ist alles.«

»Mir ja auch nicht«, jammerte die Levinsohn, »aber es heißt doch, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, dann wird es besser.«

»Lassen Sie es einfach. Können Sie mir was über Franz Kuszinsky heraussuchen?«

»Den Sensationssieger von gestern?« Fräulein Levinsohn hielt die Zeitung hoch. »Mal sehen«, griente sie dann und las in Stichworten vor, was in dem Bericht stand. »Übt jetzt im Boxlager Wedding«, murmelte sie und blickte erstaunt auf, als Florian abwinkte. »Danke, das reicht.«

»Sie verschweigen mir etwas«, stellte Fräulein Levinsohn mit gerunzelten Brauen fest.

»Wie üblich.«

»Das ist nicht witzig. Vor allem nicht, wenn ich bedenke, dass ich diesen Tag wieder als blondiertes Pummelchen mit diesem peinlichen Königsberger Akzent im Foyer erleiden muss. Dieses Äch komme aus Keeenichsbarch, da kriege ich Pickel«, murrte Fräulein Levinsohn.

Florian seufzte und gab ihr eine Kurzform seiner Erkenntnisse.

»Also wieder Zucker«, überlegte die Levinsohn.

»Was sonst. Diese Stadt ist wie industriell hergestellte Lebensmittel, überall ist Zucker beigemischt. Aber ich weiß nicht, wohin mich das alles führt.«

»Im schlimmsten Fall zum finalen Zuckerschock oder zur lebensbedrohlichen Überzuckerung«, meinte die Levinsohn sarkastisch.

Florian griff zu einem Teil der Zeitung, weil ihn das Foto interessierte. Erster gelungener Aufstieg an Sicherungsschienen lautete die Überschrift. Darunter zeigte ein Foto eine Rakete, die zwischen einige Pfählen in der Luft stand. Aus den Düsen stachen Flammen, Rauch hüllte die Umgebung ein. Die Rakete selbst war zapfenförmig, mit verdickter Mitte und zackigen Heckflossen, die zugleich als Standbeine dienen konnten, denn sie ragten weit über die Heckdüse nach unten. In der Raketenspitze waren die Fenster der Pilotenkanzel zu erkennen.

»Unfug«, kommentierte Fräulein Levinsohn, als Florian den Bericht durchlas.

»Warum?«

»Weil nach übereinstimmender wissenschaftlicher Meinung die Menge an weißer Materie jenseits der Lufthülle jede Fortbewegung unmöglich macht. Da braucht man einen Bagger oder eine Tunnelbohrmaschine, jedenfalls nicht so einen abergläubischen Kikikram.«

»Und was halten Ihre Wissenschaftler von Sonne, Mond und Sternen? Stecken die auch im Sack der schwarzen Materie?«

Fräulein Levinsohn runzelte einmal mehr empört die Brauen. »Wie wäre es zum Beispiel mit Reflexion oder der Tatsache, dass weiße Materie nicht bedeutet, dass sie undurchsichtig ist. Selbst Sie können nicht durch Glas wandern, nur weil es Licht durchlässt. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass Sie es versuchen würden. Jedenfalls ist diese Raketentheorie Unfug.«

Florian starrte gegen die Decke. Die Form der Rakete erinnerte ihn an etwas, genau diese Zapfenform mit der mittleren Schwellung, den Flossen und der verglasten Bugkanzel. Und wieder bekam er die Erinnerung nicht zu fassen, als würde er im Dunkeln nach einem Gegenstand suchen, ihn mit den Fingerspitzen berühren, aber nicht zu greifen bekommen.

Sara Levinsohn war noch nicht bereit, das Thema fallenzulassen. »Was haben Sie eigentlich in der Schule gemacht?«, stichelte sie, »den Weltkundeunterricht haben Sie jedenfalls nicht besucht.«

»Ich habe kleine Mädchen verprügelt«, knurrte Hammerstain, »hat mir eine tiefe seelische Befriedigung verschafft und ich beherrsche die Technik noch immer. Habe sie sogar perfektioniert!«

Immerhin konnte er in den nächsten Minuten ungestört vor sich hinstarren und Kaffee in sich hineinschütten, bis der Puls merklich schneller wurde.

»Sie sehen wirklich nicht gut aus«, begann Fräulein Levinsohn nach längerem Schweigen. Wahrscheinlich hatte sie das Bedürfnis, die Stimmung wieder etwas freundlicher zu gestalten.

»Mag sein«, blaffte Hammerstain, »wahrscheinlich dieses verdammte Zeug, das die mir in den Tee getan haben. Ich laufe herum, als hätte ich Löcher im Hirn. Reicht das als Erklärung?«

»Zumindest dieser Tonfall reicht mir«, konterte die Levinsohn und warf ihre Serviette auf den Tisch. Damit war für die nächste Zeit jedes weitere Gespräch unnötig. Fräulein Levinsohn wickelte sich seufzend in Decken und setzte die Perücke auf. Dabei murmelte sie vor sich hin, um den Königsberger Tonfall zu treffen.

Florian starrte aus dem Fenster. Er fragte sich, ob sein Zustand schlimmer wurde oder ob er sich nur nicht richtig erinnern konnte. Irgendetwas war geschehen und er musste dagegen ankämpfen. Aber es war so, als wollte er mit den Armen wedeln, um in die Luft aufzusteigen. Kraftzehrend und hoffnungslos.

Das Boxlager Wedding befand sich im vierten Hinterhof einer kasernenartigen Wohnanlage. Mit jeder Toreinfahrt, die Florian durchschritt – lange, dunkle Tunnel, in denen es nach Müll und Fäkalien stank – wurde der folgende Hof dunkler, kühler und feuchter, als wäre es kein Hof, sondern nur ein Lichtschacht oder ein Loch in schlammiger Erde. Angesichts der hohen Temperaturen schien die Kühle eigentlich ein Vorteil zu sein, aber sie hatte etwas Erstickendes, als würde man eine Gruft betreten. Aus den Fenstern klangen Stimmen, Geschrei in einem Dutzend Sprachen, Lachen, Radiomusik, das Klimpern von Kochgeschirr. In einigen Fenstern lagen Frauen und unterhielten sich über den Hof hinweg. Die Gerüche von Kohl, Bratkartoffeln, Reibekuchen und Waschmitteln vermischten sich. Zwischen Müllhaufen, alten Möbeln und demolierten Autos spielten Kinder. Ihre hellen Stimmen schallten verstärkt von den hohen Wänden wider. Sie erstarrten und glotzten Hammerstain an, als hätte man bei ihnen einen Schalter umgeworfen.

Das Boxlager befand sich in einer riesigen, heruntergekommenen Halle, deren Wände aus einem Fachwerk aus Eisenträgern und Ziegeln bestanden. Das Gebäude wirkte zwischen den Wohnkasernen wie ein Ozeanriese, der an Klippen gestrandet ist und nun langsam verfällt.

Auf der Fassade war noch eine verwaschene Aufschrift zu erkennen: Textilfabrik Schronnemaier.

Aus dem Inneren klangen rhythmisches Stampfen und Hämmern, als wären noch immer Maschinen in Betrieb. Der Haupteingang war verschlossen, ein Kreidepfeil zeigte zur Längsseite, wo eine rostige Stahltür halb offen stand.

Zögernd trat Florian ein. Der gewaltige Raum war dämmrig, lediglich durch eine Fensterreihe unter dem Dach sickerte Licht. Von den Stahlbalken, die das offene Dach trugen, hingen einige Lampen herab und tauchten die zahlreichen Boxringe in einen grellweißen Schein. Es mochten zehn oder zwölf Boxringe sein, in jedem fand gerade ein Übungskampf statt und an den Seiten warteten weitere Paare, die sich hüpfend warm machten, bis sie an der Reihe waren. Ganz hinten waren Schattenboxer in einem Ring. Unter dem harten Licht machten sie konzentriert ihre Schlagübungen und achteten darauf, dem Nachbarn nicht zu nahe zu kommen. An den Seiten hingen Sandsäcke und Punchingbälle von den Wänden, dazwischen mühten sich Sportler mit schweren Hanteln ab, machten Dehnübungen auf Matten oder trainierten mit dem Springseil. Aus einer Tür im hinteren Bereich quoll Dampf, dort mussten also die Duschen und die Umkleide sein.

Es roch nach Schweiß, Seife und Reinigungsmitteln. Außer den kurzen Anweisungen der Trainer hörte man nur die Schläge, die die Sandsäcke trafen, das Scheppern der Hanteln und das Schnauben der Boxer, wenn sie ihren Sparringspartner angriffen.

»Kann ich was für Sie tun?«, kam eine Stimme von der Seite. Kein Schwergewichtler, stellte Hammerstain fest. Nicht mal Mittelgewicht. Der junge Mann kam offensichtlich direkt unter der Dusche hervor, seine kurzen Haare waren nass und er roch nach irgendeiner Seife mit Tabakparfüm. Er war muskulös, schien aber Probleme mit der Deckung zu haben, denn im Laufe seiner bisherigen Kämpfe hatten seine Gegner die ursprüngliche Nasenform stark in die Breite gehämmert. Außen an den Augenbrauen waren zahlreiche Narben, die sich als weiße Fädchen unter dem Hautton abzeichneten. Nicht unbedingt ein Siegertyp. Aber der Kerl hatte kluge Augen und auch seine Gestik verriet eine Art von nervöser, alarmbereiter Intelligenz. Er war möglicherweise eine Ratte, aber auf jeden Fall ein Nager mit Grips. Genau die Sorte, die Hammerstain jetzt brauchte.

»Ach, ich weiß schon«, sagte der Mann, bevor Florian überhaupt zur Antwort ansetzen konnte, »Kuszinsky!«

»War doch naheliegend«, stellte Florian fest.

»Sie sind aber keiner von der Presse oder vom Rundfunk«, stellte der andere mit einem kritischen Blick auf Florians Kleidung fest, »die waren nämlich schon hordenweise hier.«

»Habe ich auch nicht behauptet. Mein Interesse ist anderer Art.« Florian schaute sich um. Natürlich war der neue Meister aller Klassen hier nicht zu sehen. Der brauchte erst einmal sechs Wochen Urlaub an der Ostsee und eine gute medizinische Behandlung, um sich wieder unter Menschen trauen zu können.

»Welcher Art?«, fragte der andere.

Hammerstain betrachtete den Geldschein, den er aus der Tasche gezogen hatte. »Ernsthafter Art. Finde ich hier jemanden, der mir was über den neuen Champion erzählen würde?«

»Viel gibt es nicht zu erzählen.«

»Aber Kuszinsky hat doch hier trainiert?«

»Bis vor einiger Zeit. Er war eine Pfeife. Langsam, keine Reflexe. Und feige. Im Sparring wurde er regelmäßig vermöbelt. Auch drei Mal von mir. Irgendein Pole oder Ruthene hatte ihn vor einiger Zeit umgehauen, erste Runde, erste Minute, Volltreffer und der Franz lag lang, für einige Minuten. Seitdem war er eine Null. Man sah ihm die Angst förmlich an, wenn man ihm gegenüberstand. Der war fertig. Hat auch angefangen zu trinken, selbst hier. Hatte Schnaps im Spind, wäre sonst wohl nie mehr zwischen die Seile gegangen. Vorher war er Durchschnitt, nach dem Niederschlag war er ein Nichts«, erklärte der Boxer grinsend.

»Irgendwas muss ja wohl passiert sein.«

»Muss wohl. Aber er hatte immer denselben Trainer.«

Florian schaute auf den fleckigen Betonboden, der noch die Spuren der früher hier verankerten Maschinenfundamente trug.

»Es muss eine Änderung gegeben haben«, sagte er entschieden.

Der andere nahm das Handtuch von den Schultern und trocknete sich den Kopf. Dabei beobachtete er aus schmalen Augen die Halle. Immer noch achtete niemand auf die beiden Männer.

»Es hat sich was geändert. Aber ab jetzt kostet es, weil Sie das nicht mehr in der Zeitung lesen können.«

Hammerstain wechselte ein wenig die Position, stand nun mit dem Rücken zur Halle und senkte die Hand mit dem Geldschein. Der andere drehte sich, schnappte beim Abtrocknen der Haare mit einer kurzen Bewegung den Schein und steckte ihn in den Ausschnitt.

»Da tauchte ein Mann auf, feiner Pinkel, Mitte dreißig, schätze ich. Hat mit Boxen garantiert nie was zu tun gehabt. Der fragte mich Sachen, die wissen unsere Kleinen nach einer Stunde. Ich habe mir mal sein Jackett vorgenommen, als er auf dem Klo war. Ich war einfach neugierig, dachte mir, vielleicht ist der Kerl doch eine große Nummer im Geschäft und es wäre gut, den Namen zu kennen. Laut Visitenkarte hieß der Kerl Karl-Heinz Sperber, Doktor der seelischen Medizin und Diplompsychologe. War seitdem immer da und kurz danach verschwand der Franz und machte irgendwo anders Training. Mehr weiß ich nicht.«

Florian tippte an seinen Hut und schlenderte wieder aus der Halle. Möglicherweise war das Geld gut angelegt. Die Levinsohn hatte am Morgen erklärt, dass sie sich etwas Geld beschafft hatte, wollte aber nicht damit rausrücken, wie. Florian wusste es auch so, wichtig war aber nur, dass sie noch einige Tage in der Deckung des Hotels bleiben konnten und dass er nicht mit leeren Taschen durch die Stadt laufen musste.

Sonst hätte Florian auch nicht in der kleinen Kneipe zu Mittag essen können. Er bestellte Eisbein mit Sauerkraut und trank eine Weiße, obwohl die absolut nicht zum Essen passte. Der Raum war klein und niedrig und lag unterhalb des Straßenniveaus. Durch die Fenster schaute man auf das Pflaster und konnte von den vorbeieilenden Passanten nur die Beine sehen. Zur Mittagszeit füllte sich die Kneipe, es gab zwar nur zwei Gerichte, aber die schienen sich großer Beliebtheit zu erfreuen. In der Nähe heulte eine Fabriksirene, kurz danach strömten Arbeiter herein und ließen sich ihre Henkeltöpfe füllen. Damit und mit einer Flasche Bier, zogen sie wieder ab. Man konnte sehen, wie sie sich auf der anderen Straßenseite auf den Gehsteig setzten, den Rücken an die rauchschwarze Ziegelmauer gelehnt und ihr Mittagessen verzehrten. Die Männer, die an den Kneipentischen Platz nahmen, waren Vorarbeiter oder Meister. Sie unterhielten sich anfangs mit dröhnend lauten Stimmen, als müssten sie noch immer eine Maschine übertönen und verminderten erst später die Lautstärke. Die wenigen Frauen wirkten wie Sekretärinnen, aber zwei oder drei trugen auch blaue Overalls und saßen mit den anderen Vorarbeitern zusammen.

Hammerstain wartete, bis der langgezogene Heulton der Sirene den Raum leersog. Dann ging er selbst. Jetzt war er sicher, dass er nicht verfolgt wurde.

Florian hatte sich wieder in Armin Steingold verwandelt, als der sich neben seine Frau setzte. Frau Steingold oder besser ein äußerst ungnädig wirkendes Fräulein Levinsohn saß gelangweilt im Foyer und blätterte in einer Zeitschrift. Die Modezeitschrift schien zu Frau Steingold, der Bankiersgattin zu passen, aber Sara Levinsohn hatte sie entweder schon mehrmals durchgelesen oder interessierte sich kein bisschen für die neuesten Erzeugnisse der Modebranche. Florian hielt die erste Variante für wahrscheinlicher.

Eine Weile saßen sie nebeneinander und betrachteten das Kommen und Gehen der Gäste. Jedes Mal, wenn einer der Doppeldeckerbusse die nahe Haltestelle anfuhr, gaben die Kronleuchter an der hohen Decke der Empfangshalle ein leises Klirren von sich.

»Außer dass man mir die Benutzung des hauseigenen Hallenbades, der Massageabteilung und der sonstigen Möglichkeiten der Leibesertüchtigung angedient hat, gibt es nichts zu vermelden«, erklärte Fräulein Levinsohn unzufrieden.

»Immerhin beweist das, wie lebensecht Sie sich die Zusatzpfunde aufgewickelt haben«, grinste Florian. Er erntete einen giftigen Blick und einen unhörbaren Kommentar. Er brauchte kein Lippenleser zu sein, um den Kommentar trotzdem zu verstehen.

»Ich brauche Ihre bewährte Fähigkeit zur Recherche«, sagte Florian.

Sara Levinsohn seufzte zufrieden. »Endlich ein Grund, dieses blöde Rumsitzen zu beenden. Um was geht es?«

Florian erklärte ihr, dass er den Besitzer der Boxhalle wissen wollte, und nannte dann den Namen des Diplompsychologen Karl-Heinz Sperber.

»Den Namen schon mal gehört?«

»Sicher«, antwortete Fräulein Levinsohn spitz, »aber nur als Raubvogel im Kreuzworträtsel. Ich kümmere mich drum. Vielleicht reicht ja schon ein Blick in mein Archiv.«

»Wieso ihr Archiv? Das befindet sich in meiner Wohnung!«

»Mein Archiv«, erklärte die Levinsohn würdevoll, »weil ich einen chaotischen Zettelhaufen vorfand, diesen ordnete und seitdem das Archiv weiterführe und erweitere, während sie seit Jahren keinen Fuß mehr in diesen ihren Raum dieser ihrer Wohnung mit diesem meinem Archiv gesetzt haben.« Damit sprang sie auf, ging die ersten Schritte zu schnell und fiel erst dann wieder in den Bankiersgattinnenschritt.

Für einen Beobachter hätte es nach einem Ehestreit ausgesehen und Florian bemerkte auch das Grinsen eines Hotelboys, der unter Hammerstains scharfem Blick knallrot anlief und gesenkten Kopfes zur Pagenbank floh.

Als Florian in seiner Eigenschaft als Direktor Steingold zum Lift schlurfte, hörte er hinter sich den Tackern von Damenschuhen auf dem Marmor. Es war ein rasanter Rhythmus, der von schnellen, energischen Schritten stammen musste. Unwillkürlich stellten sich seine Nackenhaare auf. Umblicken konnte er sich erst, als er in den Lift trat. Da war die Frau schon verschwunden, aber Florian war schweißnass und fragte sich, woher diese plötzliche Panik kommen mochte.

Er lehnte sich an die Wand, vor sich den Rücken des Liftboys in seiner geschniegelten roten Uniform. Im Spiegel sah Florian dieses Gesicht, das sein Gesicht sein musste, das ihm aber jetzt wieder so fremd vorkam wie nur je. Er starrte sich selbst in die Augen, wütend wie ein Straßenköter, der sich auf eine Beißerei einlassen will.

»Bitte, der gnädige Herr, sechste Etage«, ließ sich der Liftführer hören. Florian musste sich von dem Blickduell mit seinem eigenen Spiegelbild förmlich losreißen und kaschierte die Verzögerung, indem er seine Krawatte richtete. Dann trat er auf den Flur. Irgendwas ist mir dir, dachte Florian und dieses Selbstgespräch war so, als würde er zu einem völlig Fremden sprechen. Der, der er selbst war, hatte irgendwelche Leichen im Keller, er hatte irgendwelche geheimnisvollen Erinnerungen, die verborgen lagen, die aber immer wieder, wie unter der Haut sitzende Dornen, bemerkbar wurden. Florian strich sich den Schweiß von der Stirn und spürte Metall auf seiner Haut. Er starrte auf die Hand und entdeckte den Ring. Welche Schlamperei! Er hatte sich in Armin Steingold verwandelt und trug noch immer Hammerstains Ring. Was immer das zu bedeuten hatte. Was immer dieser Ring zu bedeuten hatte.

Florian lief eine Weile durch die Räume der Suite. Das Schlafzimmer war von den Zimmermädchen aufgeräumt und gelüftet worden, dennoch hing noch immer eine Spur vom Levinsohnschen Parfüm in der Luft.

Die Flaschen und Tiegel und Tuben auf dem Nachttisch standen in Reih und Glied, wie Soldaten auf dem Paradeplatz. Florian lächelte. Das war typisch für seine Assistentin. Für einen Moment überkam Hammerstain das Bedürfnis, ihre Sachen zu durchsuchen, aber er zog sich sofort zurück und beschimpfte sich selbst, noch als er die Tür wieder schloss. So leise, als könne sie ihn hören.

Hammerstain überlegte kurz, dann griff er zum Telefon. Er wählte das Amt und hatte nach einigen Sekunden eine routinierte weibliche Stimme im Ohr. »Den Anschluss von Karl-Heinz Sperber, Doktor der seelischen Medizin, bitte«, sagte Florian. »Einen Moment, der Herr!«

Durch das Rauschen der Leitung vernahm Florian Stimmen – entweder von anderen Telefonierenden oder von den Mitarbeitern der Amtsstelle. Nein, wahrscheinlich telefonierten Leute miteinander, denn es handelte sich um ein Gespräch zwischen einem Mann und einer Frau. Einmal war deutlich ihr Lachen zu hören, auch wenn die Worte unterhalb der Schwelle der Verständlichkeit blieben. Es war ziemlich unheimlich, als würde Florian hier ein Gespräch aus einer anderen Welt belauschen. Ein Gespräch von Fremden, denen er nie begegnen würde. Und es erinnerte ihn auch zu sehr daran, dass in ihm selbst offenbar Gespräche geführt wurden, die er nicht verstand.

Verstand, dabei dachte Florian sofort an den Verstand verlieren und fühlte erneut, wie ihm der Schweiß den Rücken herablief. Vielleicht war es ja das. Er, Silwester Hammerstain, verlor gerade den Verstand.

»Hören Sie? Es gibt keinen Anschluss.«

Florian räusperte sich verlegen und erstaunt. »Keinen Anschluss? Gab es mal einen?«

»Das kann ich nicht feststellen, mein Herr.«

Es klang so ähnlich wie das darf ich nicht oder das ist mir zu mühsam.

»Es ist so«, setzte Florian an, »dass meine Schwester vor einiger Zeit Herrn Dr. Sperber konsultiert hatte, sich dann aber für längere Zeit im Ausland aufhalten musste und jetzt gewisse Probleme hat. Es wäre wichtig, dass ich den Doktor schnell erreichen kann.«

Aus dem Hörer klang ein Seufzer, ein wenig melodramatisch, allzu sehr nach Kinovorbild gestaltet, aber dann kam das Klappern von Karteikästen oder Schubladen.

»Die Nummer wurde für eine Übergangszeit an das Institut für seelische Amelioration übertragen und dann aufgegeben.«

Florian kritzelte hastig den Namen auf einen Zettel.

»Soll ich Ihnen die Nummer des Instituts geben, mein Herr?«

Florian wollte verneinen, aber Hammerstain bedankte sich überschwänglich, schrieb die Nummer auf und beendete das Gespräch mit einer charmanten Floskel, für die sich das Fräulein vom Amt mit einem kehligen Lachen bedankte. Kein Zweifel, das war ihr Höhepunkt der Woche gewesen.

Florian schaute auf den Zettel. Institut für seelische Amelioration? Was sollte das sein? Er betrachtete den Zettel genauer und spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Warum waren da zwei unterschiedliche Handschriften? Sie waren ähnlich und dennoch deutlich zu unterscheiden, die Telefonnummer mit mehr Schwung und etwas liederlich gegenüber der sorgfältigen und pedantisch-kantigen Schrift.

Florian schritt langsam zum Fenster. Was war das? Was hatte man ihm für eine Pille in den Drink gemischt? Was geschah mit ihm?

Er stellte sich an das Fenster und schaute eine Weile auf die Straße und den Bahnhofsvorplatz. Hier lief alles wie üblich ab – ein hektisches, chaotisches Durcheinander, das dennoch festen Plänen und Regeln folgte. Florian atmete die nach Abgasen riechende Luft tief ein. So musste es auch bei ihm sein – selbst wenn alles chaotisch und unerklärlich schien, es gab einen Plan und eine Regel. Und einen Sinn. Schwer zu glauben, schwer zu finden. Und dennoch …

»Das sollte meine Badewanne sein!«, erklärte Fräulein Levinsohn pikiert, als sie die Tür zum Bad öffnete und Hammerstains Kopf wie einen Felsen zwischen den Eisbergen weißen Schaums entdeckte.

»Die gute alte Sitte des Anklopfens an eine Tür, bevor man den Raum betritt, scheint im Jahre 1944 nicht mehr zu gelten«, grinste Hammerstain.

Fräulein Levinsohn stieß ein empörtes Glucksen aus und wandte der Badewanne errötend den Rücken zu.

»Ich war davon ausgegangen, dass Sie eventuell auch ein wenig Ihre Arbeit tun«, stieß sie hervor.

»Habe ich«, griente Florian, »und im Übrigen ist die Wanne ein guter Ort, um Ideen zu haben.«

Fräulein Levinsohn knallte die Tür zu. Nach einer Weile und weil die Reaktion ihres Chefs wohl nicht wunschgemäß war, klopfte sie und öffnete die Tür einen winzigen Spalt, gerade genug, um den Mund daran zu drücken.

»Wollen Sie auch in Ihrem Quietscheentchenparadies wissen, was ich herausgefunden habe?«

»Ich brenne danach«, erklärte Florian, »jedenfalls soweit das in einer gefüllten Badewanne möglich und zuträglich ist.«

»Also, der ganze Block gehörte früher einer Weberei und Textilfirma. Die Arbeiter bekamen verbilligte Wohnungen, die Fabrik lag direkt mitten in der Anlage.«

»Erzählen Sie mir etwas, das ich noch nicht weiß«, unterbrach Florian.

»Gemach, werter Herr Hammerstain«, fuhr Fräulein Levinsohn fort, ihre Stimme bekam einen leicht kratzigen Klang vor Verärgerung. »Vor einigen Jahren machte die Firma Pleite, weil es zu zahlreichen Streiks und in dem Zusammenhang zu Sabotage kam. Es gab mehrere Gewerkschaften, die unterschiedliche Forderungen stellten, die Mitglieder gerieten aneinander, dann kamen die üblichen Solidaritätstruppen, es gab richtig Ärger. Also alles wie üblich. Aber«, Fräulein Levinsohn machte eine dramatische Kunstpause, »bei zweien dieser Gewerkschaften hat Alfred Zucker die Finger drin. Seine Leute führen jeweils den Laden.«

»Warum überrascht mich das nicht?«

»Wahrscheinlich, weil Sie seit einiger Zeit in Berlin leben«, redete die Levinsohn weiter, »jedenfalls – Probleme mit den Arbeitern, finanzielle Probleme, Pleite, alles verkauft. An eine Firma, die Zucker gehört. Was folgt waren deftige Mieterhöhungen, da gab es auch wieder soliden Ärger. Die Fabrikationsmaschinen wurden übrigens verscherbelt, Zucker besitzt selbst Textilfabriken, der macht sich nicht selbst Konkurrenz. Weil er sich mal wieder ein soziales Mäntelchen umhängen wollte, nahm sich Zucker einen kleinen Hinterhof-Boxverein, überließ ihm die Fabrikhalle als Trainingslager und schoss zugleich auch noch Geld dazu. Und was diesen Doktor Sperber angeht – der hat sich zeit seines Lebens als Taschenträger für irgendwelche bekannteren Seelenmediziner betätigt, mehr gibt es über den nicht zu berichten.« Fräulein Levinsohn verstummte und wartete. Als sich im Bad nichts rührte, setzte sie hinzu: »Das war ´s.«

Florian klatsche Beifall, dass die Schaumflocken flogen.

»Ich bekomme ein Lob von Silwester Hammerstain, ich bin gerührt.«

»Aber Fräulein Levinsohn, Sie sind doch sowieso die Beste, und wie man weiß, werden solche Menschen seltenst gelobt, weil man ihre herausragenden Fähigkeiten als selbstverständlich nimmt«, schmeichelte Florian.

»Selbsterkenntnis ist der erste Weg und so weiter«, murrte Fräulein Levinsohn. Dennoch war sie jetzt deutlich besserer Laune, als sie sich wieder aus der Haut der Königsberger Bankiersgattin schälte.

»Sagt Ihnen das Institut für seelische Amelioration etwas?«, fragte Florian, als er, lieblich duftend wie ein frisch gepuderter Säugling, im Bademantel auftauchte.

Fräulein Levinsohn stürzte sich ins Badezimmer wie ein Hai auf die Beute. »Nie gehört«, rief sie durch das Plätschern einlaufenden Badewassers hindurch, »klingt aber so, als ließe sich das leicht herausfinden.« Die Tür wurde kurz geöffnet. »Und klingt, als könnte Sie dort eine Behandlung gebrauchen!« Damit wurde die Tür erneut geschlossen und sie hätte sicherlich geknallt, wenn die Türdichtungen des noblen Hotels eine solche unziemliche Geräuschentwicklung erlaubt hätten.

Tatsächlich war es alles andere als einfach, etwas über das Institut herauszufinden. Selbst die Nummer half nicht weiter, weil sie zwar zu einem Freizeichen führte, aber niemand hob auf der anderen Seite den Hörer ab. Jedesmal kam nach einer Weile die seriöse Stimme des Fräuleins vom Amt: »Das Amt unterbricht diese Verbindung, weil ein Teilnehmer nicht abnimmt.«

Dr. Sperber hatte offenbar kein Interesse an Patienten. Jedenfalls nicht an der Sorte, die sich telefonisch meldete. Aber da Alfred Zucker diesen Dr. Sperber zum Teil seines Kuszinsky-Planes gemacht hatte, schien der Doktor sein Vertrauen zu genießen. Und das wiederum konnte nur bedeuten, dass Zucker ihn schon vorher gekannt hatte.

»Oder Sperber wurde ihm empfohlen«, ergänzte Florian Fräulein Levinsohns Überlegungen. Nach ihrem Bad hatte sich die Levinsohn in Schale geworfen, war aber zu Florians Erstaunen nicht ausgegangen. Nein, sie lümmelte sich malerisch in einem der riesigen Sessel, sie hatte ihre Schuhe ausgezogen und die Beine auf die Sitzfläche gelegt. So hatte Florian Gelegenheit festzustellen, dass Fräulein Levinsohn nicht nur rot lackierte Zehennägel hatte, sondern dass ihre Zehen sich ständig bewegten, wenn sie überlegte.

»Möglicherweise wurde dieser Sperber auch von einem Dritten an Zucker verwiesen, dann wäre Sperber so eine Art Hilfskraft«, setzte Florian fort, »hübsches Rot übrigens. Das auf Ihren Zehen, meine ich.«

Fräulein Levinsohn lief schlagartig genau so rot an, wie sie die Zehennägel lackiert hatte. »Danke«, begann sie verblüfft, um im nächsten Moment mit einem Ruck ihre Füße unter ihrem Rock verschwinden zu lassen und mit meine Zehen gehen Sie … loszulegen.

Hammerstain wedelte abwehrend mit beiden Händen. » …einen feuchten Kehricht an. Ich verspreche, ich werde Ihre Zehen nie wieder in den Mund nehmen«, sagte er und grinste dabei. Ein Grinsen, das angesichts des empörten Quietschens seitens Fräulein Levinsohn noch breiter wurde. Allerdings verstand Florian nicht so ganz, warum sie ihrem Chef diese sorgfältig bemalten Kunstwerke erst so auffällig präsentierte, um dann dermaßen empört zu reagieren.

»Warum schüttelt der Herr Hammerstain sein weises Haupt?«, fragte die Levinsohn.

»Es gibt da einige Dinge, die ich nicht verstehe.«

»Gedächtnislücken?«

»Vielleicht eher mangelnde Erfahrung«, antwortete Florian, »könnte aber auch sein, dass ein Verständnis nicht möglich ist.«

»Mangelnde Erfahrung kann bei Ihnen ja wohl nur auf den Gebieten des Geschirrspülens und des Staubwischens herrschen«, kommentierte die Levinsohn geheimnisvoll.

»Ich verstehe zum Beispiel nicht«, sagte Florian, »wie Sie in recht kurzer Zeit diese Dinge über Zucker und den Boxstall herausfinden konnten. Ich nehme doch stark an, dass Zucker solche Machenschaften nicht in Frauenblättchen inseriert.«

Volltreffer, dachte Florian. Keine Ahnung, warum, aber ich habe, Sara Levinsohn voll erwischt.

Fräulein Levinsohn bekam eine ausgesprochen tomatige Kopffarbe, sodass ihr knallroter Lippenstift nicht mehr ganz so gefährlich und aufreizend wirkte wie eben noch. Sie rutschte unbehaglich im Sessel herum und brachte dabei auch wieder ihre Signalzehen zum Vorschein.

»Ich verstehe Ihre Frage nicht!«, ging sie dann zum Gegenangriff über, »Alfred Zucker hat seine Finger in Berlin überall und meine Aufgabe, für die ich sogar bezahlt werden würde, wenn mir mein Chef Silwester Hammerstain jemals ein Gehalt bezahlt hätte, äh … ich soll doch ein Archiv aufbauen, haben Sie selbst gesagt. Was denn nun? Muss ich mich entschuldigen, weil ich meine Arbeit mache?«

»Wir müssen herausfinden, wo das Institut für seelische Amelioration zu finden ist«, wechselte Florian abrupt das Thema.

»Warum?«

»Weil es uns den Kopf retten könnte«, sagte Florian und fügte noch hinzu: »Intuition!«