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Die Geschichte vom Werwolf Teil 13

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 13
Wie Thibaut noch mehr rote Haare bekommt

Vom Haus des Amtmanns bis zum Walde war es nicht weit. Thibaut hatte daher in wenigen Augenblicken das kleine Schloss Les Fossés hinter sich und betrat den Waldweg.

Kaum war er hundert Schritte im Wald fortgegangen, so bemerkte er seine gewohnte Begleitung. Alle seine vierfüßigen Trabanten glotzten ihn gar zärtlich an und wedelten mit dem Schweif. Thibaut beachtete die Wölfe nicht mehr, als ob es eine Schar von Pudeln gewesen wäre. Er sagte ihnen einige schöne Worte, streichelte die ihm am nächsten Kommenden und ging weiter.

Er war sehr guter Laune. Er hatte ja seinen Wirt bei der Weinflasche, seinen Gegner im Faustkampf besiegt. Der Hochmutsteufel hatte nun vollends Besitz von ihm genommen. Fürwahr, Freund Thibaut, sagte er zu sich, du bist ein Glückskind! Denn Susanne ist ganz für dich geschaffen. Ein stattliches Liebchen und bald eine stattliche Frau. Aber sie mag nun als Liebchen oder Frau an meiner Seite wandeln, wird man mich für einen Edelmann halten. Es kann mir gar nicht fehlen, ich müsste denn einen argen Missgriff machen … Ich kann freilich den Tod des kleinen Monsieur Magloire nicht wünschen, und ein solcher Wunsch kommt mir gar nicht in den Sinn. Seinen Platz will ich sehr gern einnehmen, wenn er das Zeitliche gesegnet hat. Aber einem so gastfreien Mann das Leben nehmen, während ich seinen köstlichen Wein noch im Magen habe, das wäre eine Untat, die sogar mein Freund, der schwarze Wolf, nicht auf sein Gewissen nehmen würde … Es ist ja besser, dass ich schon Ansprüche auf die Dame habe, wenn das Männchen abfährt. Und das kann bei dem kugelrunden Bacchusdiener nicht mehr lange dauern … Nein, nein, setzte er nach einigem Besinnen hinzu, ich will ihm weder Tod noch Krankheit wünschen, nur einen häuslichen Zwist … und der Kleine wird ein Aktäon mit einem ebenso sichtlichen Geweih wie der Damhirsch, den ich unlängst verfolgte.

Er rieb sich schmunzelnd die Hände bei dem Gedanken an alle Freuden, die ihm das sichtliche Zehnendergeweih des Amtmännchens in Aussicht stellte.

So kam er nach Villers-Cotterets. Er gab seiner Eskorte einen Wink. Es wäre unbesonnen gewesen, das Städtchen in Begleitung einer Ehrenwache von zwölf Wölfen zu betreten. Es konnten ja Hunde auf der Straße sein und einen heillosen Lärm machen.

Die Wölfe teilten sich. Sechs von ihnen gingen rechts, und die übrigen sechs gingen links, um sich auf der anderen Seite des Städtchens wieder zusammenzufinden.

Als Thibaut vor seiner Hütte angekommen war, nahmen die Wölfe Abschied von ihm und verschwanden. Aber ehe sie sich entfernten, gebot er ihnen, sich am folgenden Abend pünktlich an derselben Stelle einzufinden.

Thibaut war erst um zwei Uhr Früh nach Hause gekommen, aber er stand schon bei Tagesanbruch auf. Er hatte einen Plan. Er dachte an sein Versprechen, dem kleinen Amtmann Wildbret »aus seinem Gehege« zu schicken. Sein »Gehege« war in sämtlichen Waldungen des Herzogs von Orleans.

Es hatte von zwei bis vier Uhr Früh geschneit. Er durchsuchte den Wald in allen Richtungen wie ein Spürhund. Er suchte die Lager der Hirsche und Wildschweine, der Rehe und Hasen und beobachtete die Stellen, wo das Wild wechselte. Als die Nacht angebrochen war, begann er zu heulen – mit den Wölfen muss man ja heulen, wie das Sprichwort sagt. Die ganze Schar der Wölfe kam herbei. Thibaut erklärte ihnen, dass er eine ganz famose Jagd von ihnen erwarte, und um sie zu ermutigen, zeigte er ihnen an, dass er mit von der Partie sein werde.

Es war in der Tat eine famose Jagd. Die ganze Nacht war unaufhörliches Geheul und Geschrei im Hochwald als auch im Dickicht. Hier wurde ein Rehbock von einem Wolf angefallen und bei der Kehle gefasst, dort eilte Thibaut, wie ein Fleischer das Messer in der Hand haltend, einigen seiner eifrigsten Henker zu Hilfe, die einen schönen vierjährigen Keiler gehackt hatten. Eine alte Wölfin kam mit einem halben Dutzend Hasen, welche sie mitten in ihren Liebeständeleien überrascht hatte, und sie hatte große Mühe der angeborenen Gefräßigkeit ihrer Jungen, die ein ganzes Volk Rebhühner gefangen hatten, Einhalt zu gebieten.

Madame Susanne Magloire hatte nicht die geringste Ahnung von dem, was ihr zu Ehren im Wald von Villers-Cotterets vorging.

Nach zwei Stunden hatten die Wölfe ein ganzes Fuder Wildbret vor Thibauts Hütte aufgeschichtet.

Thibaut traf seine Wahl, das Übrige ließ er seiner Eskorte.

Das ausgesuchte Wildbret lud er sodann auf zwei Maultiere, die er von einem Kohlenbrenner unter einem glaubwürdigen Vorwand borgte, und begab sich nach Villers-Cotterets, wo er dem Wildbrethändler einen Teil seiner Beute verkaufte. Die besten und am wenigsten beschädigten Stücke behielt er für Madame Magloire.

Anfangs war er Willens gewesen, dem Amtmann das Geschenk persönlich zu überreichen, aber Thibaut fing an, ein Weltmann zu werden. Er hielt es für anständiger, sein Geschenk vorauszuschicken. Er gab daher einem Bauer ein Dreißigsousstück und übergab ihm das Wildbret nebst einem Zettel, auf welchem nur die Worte standen: »Von Herrn Thibaut.« Er selbst wollte bald folgen.

Er beeilte sich sehr, dass er in das Haus des Amtmannes kam, als dieser das eben überbrachte Wildbret auf einem Tisch ausbreiten ließ.

Magloire, der in seiner vollen Herzensfreude war, empfing seinen neuen Freund mit offenen Armen und machte einen fruchtlosen Versuch, ihn trotz seines Schmerbauches und seiner kurzen Ärmchen an sein Herz zu drücken. Aber er meinte, Madame Magloire könne im Ausdruck des Dankes und der Herzensfreude seine Stelle vertreten.

Er lief an die Tür und rief aus allen Kräften: »Susanne! Susanne!«

In seiner Stimme lag ein so ungewöhnlicher Ausdruck, dass Susanne meinte, es müsse etwas Neues geben. Ob es etwas Gutes oder Schlimmes war, wusste sie freilich nicht.

Sie kam schnell die Treppe herunter, um zu sehen, was es gab.

Sie fand ihren Mann ganz freudetrunken. Er klatschte in die Hände und trippelte um den Tisch, der einem Feinschmecker in der Tat einen höchst appetitlichen Anblick darbot.

»Da sehen Sie, Madame«, rief der Amtmann seiner Frau entgegen, »sehen Sie, was unser Freund Thibaut uns gebracht hat. Er ist ein Mann von Wort, er versprach uns einen Korb voll Wildbret aus seinem Gehege und schickt uns ein Fuder. Bedanke dich, drücke ihm die Hand, umarme ihn und dann sieh das schöne Wildbret an.«

Madame Magloire gehorchte aufs Wort. Sie reichte Thibaut die Hand, ließ sich von ihm küssen und betrachtete mit Wohlgefallen die köstlichen Bissen, welche so schöne gastronomische Genüsse in Aussicht stellten.

Unter dem ausgesuchten Wildbret bemerkte man ein junges Wildschwein, einen dreijährigen Rehbock, einige große fette Hasen, wie sie sich fast nur auf der Gondreviller Heide finden, Fasane und rote Feldhühner.

Der kleine, dicke Feinschmecker labte sich bereits im Geist an den duftenden, saftigen Speisen. Seine kühne Fantasie zerhackte die Rippen des Schweins zu Karbonade, sulzte den Kopf, beizte die Schinken ein, bereitete den Rehrücken mit pikanter Soße, die Hasen in Pasteten, die Fasane mit Trüffeln und die Feldhühner à laVaupalière. Sein breiter Mund machte so ausführliche Schilderungen, dass jedem Gourmand der Mund gewässert haben würde.

Die Begeisterung des kleinen Amtmannes ließ die Dame Susanne vergleichsweise etwas kalt und gleichgültig erscheinen. Sie erklärte jedoch dem neuen Gast sehr zuvorkommend, er dürfe sich nicht wieder auf seine Meierhöfe begeben, bis alle diese köstlichen Bissen verzehrt sein würden.

Thibaut war natürlich hocherfreut, dass die schöne Dame seinen teuersten Wünschen so bereitwillig entgegenkam. Er versprach sich goldene Berge von diesem Aufenthalt zu Erneville und in seiner heiteren Laune bat er den vormaligen Oberküchenmeister um einen appetitanregenden Trunk, der den Magen in die gehörige Verfassung setzen möge, das in Aussicht stehende köstliche Mahl würdig zu empfangen, und der Jungfer Perrine dadurch ein praktisches Lob zu erteilen.

Magloire war ganz entzückt, dass Thibaut nichts vergessen hatte, selbst nicht den Namen der Köchin.

Es wurde Wermut gebracht. Dieses Getränk war damals in Frankreich noch fast unbekannt. Der Herzog von Orleans ließ es aus Italien kommen, und der Haushofmeister Seiner Königlichen Hoheit machte seinem Vorgänger von Zeit zu Zeit einige Flaschen zum Geschenk.

Thibaut schnitt ein Gesicht. Er fand, dass das ausländische Getränk mit dem einheimischen Chablis durchaus nicht zu vergleichen sei. Aber als ihm der Herr des Hauses versicherte, er werde in einer Stunde einen ungeheuren Appetit haben, machte er keine Bemerkung mehr und leerte mit wahrer Selbstverleugnung ein paar Gläser.

Dame Susanne hatte sich unterdessen in ihr Zimmer begeben, um »ein bisschen Toilette« zu machen. Dieser »bisschen Toilette« besteht aber allgemein in einem völligen Dekorationswechsel.

Sie kam wieder in den Salon. Sie war wirklich reizend in ihrem schönen grauen Damastkleid. In seiner Bewunderung dachte Thibaut nicht an die Verlegenheit, in welche er bei Tisch kommen konnte. Wir müssen indes zu seinem Lob sagen, dass er in der schönen aristokratischen Gesellschaft nicht sehr befangen war. Er schickte seiner schönen Wirtin nicht nur sehr feurige, vielsagende Blicke zu, sondern näherte auch allmählich sein Knie den ihren und der Druck desselben wurde immer bezeichnender.

Plötzlich, als Thibaut immer zärtlicher wurde, sah ihn Dame Susanne scharf an und brach in ein heftiges Gelächter aus, dass man einen Nervenanfall fürchten musste. Der Hausherr sah seinem Gast ebenfalls ins Gesicht, um die Ursache des Gelächters zu erforschen.

»Ei der Tausend!«, rief er seine Händchen ausstreckend, »Sie brennen ja, Gevatter!«

Thibaut sprang rasch auf. »Was sagen Sie?«, fragte er.

»Sie haben Feuer in Ihren Haaren«, antwortete Magloire und ergriff in seinem Schrecken die Wasserflasche, um den vermeinten Brand auf Thibauts Kopf zu löschen.

Thibaut griff unwillkürlich nach seinem Kopf. Aber da er keine Hitze fühlte, so erriet er die wahre Ursache des Gelächters der Dame. Er wurde leichenblass und sank kraftlos auf seinen Sessel zurück.

Er war seit zwei Tagen so zerstreut und mit so vielen anderen Dingen beschäftigt, dass er die vor dem Besuch bei der Müllerin angewandte Vorsicht ganz vergessen hatte. Die brandroten Haare waren daher nicht unter den übrigen versteckt. Während dieser Zeit hatte er freilich eine Menge kleiner Wünsche ausgesprochen, und die Vermehrung der feurigen Haare hatte sehr rasche Fortschritte gemacht. Der Unglückliche hatte bereits 279 solcher Haare, deren jedes ziemlich so stark leuchtete, wie die auf dem Tisch brennenden zwei Wachskerzen.

»Der tausend!«, erwiderte Thibaut, der sich zu bezwingen suchte. »Sie haben mir einen großen Schrecken eingejagt!«

»Aber was ist denn das?«, fragte Magloire, indem er auf Thibauts Haare zeigte.

»Es hat nichts zu bedeuten«, erwiderte der Letztere. »Die ungewöhnliche Farbe eines Teiles meiner Haare kommt daher, weil meine Mutter sich in ihrer Schwangerschaft vor einem plötzlich ausbrechenden Feuer entsetzte.«

»Und das Sonderbare ist«, sagte Susanne, die ein großes Glas Wasser getrunken hatte, um ihrer Lachlust ein Ende zu machen, »das Sonderbarste ist, dass ich diese leuchtende Haarlocke heute zum ersten Mal bemerke.«

»Wirklich!«, sagte Thibaut, der nicht recht wusste, was er antworten sollte.

»Vor einigen Tagen«, fuhr Dame Susanne fort, »schienen Ihre Haare so schwarz wie mein Samtmantel, und ich habe Sie doch sehr aufmerksam angesehen.«

Diese letzten Worte gaben ihm seine Hoffnung und mit derselben seine gute Laune wieder.

»Madame«, erwiderte er, »ich habe immer gehört, dass man der Farbe des Haares keine große Wichtigkeit beilegen soll. Rote Haare, warmes Herz, sagt das Sprichwort.«

Dame Susanne machte ein sehr höhnisches Gesicht. Aber der kleine Amtmann war, wie sehr oft, auch bei dieser Gelegenheit keineswegs ihrer Meinung.

»Gevatter Thibaut hat vollkommen recht«, sagte er, »und ich brauche nicht weit zu gehen, um seine Sprichwörter bestätigt zu finden … Diese Brotsuppe zum Beispiel sah keineswegs einladend aus, und gleichwohl schmeckt sie mir köstlich.«

Von nun an wurde die feurige Locke Thibauts nicht mehr erwähnt. Aber die Augen der Dame schienen zu dem Haupt des Gastes unwiderstehlich hingezogen zu werden. So oft ihr Blick dem seinen begegnete, glaubte Thibaut auf ihren Lippen eine Anwandlung der früheren Lachlust zu bemerken. Dies ärgerte ihn. Er griff von Zeit zu Zeit unwillkürlich nach seinem Kopf und versuchte die brandrote Locke unter den übrigen Haaren zu verbergen. Aber die Locke war nicht allein von ungewohnter Farbe, sondern auch sehr unbiegsam, wie Pferdehaare. Er mochte immerhin die dem Teufel verfallenden Haare unter den seinen verbergen, es war nichts imstande, ihnen eine andere Form zu geben.

Mitten in dieser Zerstreuung begannen Thibauts Füße ihre zärtlichen Demonstrationen wieder. Dame Susanne ließ dieselben unerwidert, aber sie schien auch keineswegs die Absicht zu haben, sich denselben zu entziehen. Der eingebildete Thibaut zweifelte nicht mehr an der Gewissheit dieser Eroberung, dachte an seinen letzten Wunsch und sah im Geist bereits den Kopf des kleinen Männleins mit einem noch auffallenderen Schmuck, als der seine trug.

Es wurde ziemlich lang getafelt.

Dame Susanne, welche den Abend etwas langweilig zu finden schien, stand oft vom Tisch auf und entfernte sich.

Magloire benutzte diese häufigen Abwesenheiten seiner Frau, um in den Keller zu gehen.

Er schmuggelte auf diese Weise viele Flaschen in das Schlafzimmer und stach dieselben so geschwind aus, dass sein immer tiefer nickender Kopf auf die Notwendigkeit deutete, dem Trinken ein Ende zu machen.

Thibaut beschloss, die günstige Gelegenheit zu einer Liebeserklärung zu benutzen. Er sagte, es würde ihm gar nicht unlieb sein, sich zur Ruhe zu begeben. Man stand vom Tisch auf, Perrine wurde gerufen und erhielt Befehl, dem Gast sein Zimmer anzuweisen.

Das Zimmer der Dame war zwischen dem Schlafgemach des Amtmanns und dem Zimmer des Gastes. Die beiden ersteren Zimmer standen indes nur durch eine innere Tür miteinander in Verbindung. Thibauts Zimmer hingegen war nur vom Korridor zugänglich. Überdies hatte er bemerkt, dass Dame Susanne in das Zimmer ihres Gatten gegangen war. Er fand dies ganz natürlich, denn der kleine Mann war in einem Zustand wie weiland Noah, als er von seinen Kindern verspottet wurde. Magloire hatte freilich nicht das Glück oder Unglück Kinder zu haben, aber Dame Susanne schien es aus Anteilnahme oder aus irgendeinem anderen Gefühl für ihre Pflicht zu halten, ihn zu Bett zu bringen.

Das Liebesfieber, welches Thibaut verzehrte, machte ihn außerordentlich kühn. Er schlich aus seinem Zimmer, schloss leise die Tür, lauschte an der Tür der Dame, und da er kein Geräusch im Zimmer hörte, so öffnete er vorsichtig die Tür.

Es war ganz dunkel im Zimmer. Aber Thibaut hatte durch den Umgang mit den Wölfen einige ihrer Eigenschaften angenommen, und er konnte unter anderen auch im Finstern sehen. Er bemerkte rechts den Kamin, dem gegenüber ein Sofa mit einem großen Spiegel, neben dem Kamin ein Bett mit Vorhängen, eine mit Spitzen behängte Toilette. Die beiden Fenster hatten gleiche Vorhänge wie das Bett.

Er versteckte sich hinter einem Fenstervorhang.

Nach einer Viertelstunde kam Dame Susanne in ihr Zimmer. Er hatte anfangs die Absicht gehabt, sogleich aus seinem Versteck hervorzukommen, ihr zu Füßen zu fallen und seine Liebe zu erklären. Aber er bedachte, sie könne in ihrer Überraschung und ehe sie ihn erkannt hatte, vielleicht laut aufschreien. Es sei besser, zu warten, bis Magloire fest eingeschlafen sei. Thibaut blieb daher still hinter dem Fenstervorhang. Die Situation war übrigens gar nicht unangenehm, denn die Dame hatte ihre Nachttoilette zu machen, und die Nachttoilette einer Dame ist voll Details, die für einen Anbeter keineswegs langweilig sind.

Thibaut erwartete daher mit Ungeduld, dass die schöne Dame die Hand an die erste Nadel legen werde. Aber zu seinem größten Erstaunen schien sie neue Toilette machen zu wollen. Sie setzte sich vor den Toilettenspiegel und begann sich zu putzen, als ob sie auf einen Ball gehen oder an einer Prozession teilnehmen wollte. Sie versuchte zehn Schleier, ehe sie einen davon wählte, sie legte die Falten ihres Kleides zurecht, schmückte ihren Hals mit einer dreifachen Perlenreihe, ihre Arme mit einer Menge goldener Spangen und ordnete ihr Haar mit der größten Sorgfalt.

Thibaut erschöpfte sich in Vermutungen über den Zweck dieser Koketterie, als er auf einmal ein Geräusch am Fenster hörte. Dame Susanne löschte sogleich das Licht aus, ging leise ans Fenster und öffnete es mit der größten Vorsicht.

Einige Worte wurden geflüstert, welche Thibaut nicht verstehen konnte. Aber er bemerkte in der Dunkelheit eine riesige Gestalt, welche ins Fenster zu steigen schien. Er erinnerte sich seines Abenteuers mit dem Unbekannten, den er beim Mantel festgehalten und dessen er sich durch einen Steinwurf entledigt hatte. Es schien ihm dasselbe Fenster zu sein, aus welchem der Unbekannte gestiegen war und ihm die Füße auf die Schultern gesetzt hatte.

Dame Susanne reichte dem nächtlichen Gast die Hand, und der Koloss sprang so schwerfällig in das Zimmer, dass der Fußboden zitterte und alle Möbel wankten. Es war offenbar kein Geit, sondern ein Körper, und zwar ein schwerer Körper.

»O! Nehmen Sie sich in acht, gnädigster Herr«, sagte Dame Susanne. »Sie machen zu viel Geräusch!«

»Bei des Teufels Hörnern!«, antwortete der Unbekannte, welchen Thibaut an der Stimme als seinen Gegner erkannte. »ich bin ja kein Vogel, aber als ich unter Ihrem Fenster wartete, glaubte ich, Flügel zu bekommen!«

»O, ich war auch sehr traurig«, antwortete die Dame, sich zierend, »Sie draußen im Sturm und Wetter zu wissen, aber unser Gast hatte uns erst vor einer halben Stunde verlassen!«

»Und was haben Sie in dieser halben Stunde gemacht, meine schöne Freundin?«

»Ich musste den Amtmann zu Bett bringen.«

»Sie haben immer recht, schöne Susanne.«

»Sie sind zu gütig, gnädigster Herr …«

Diese letzten Worte schienen unter dem Druck eines fremden Gegenstandes, der sich auf die Lippen der Dame legte, zu ersticken.

Es folgte eine kurze Pause, in welcher Thibaut Zeit hatte, die neue Täuschung, welche ihm vorbehalten schien, zu ermessen.

»Wie wäre es, mein Engel«, sagte der Fremde, »wenn wir das Fenster zumachten?«

»Entschuldigen Sie, gnädigster Herr«, erwiderte die Dame, »es hätte längst geschehen sollen.«

Sie ging ans Fenster, machte es leise und sorgfältig zu und ließ den Vorhang herab.

Unterdessen tat der Fremde, als ob er zu Hause gewesen wäre. Er rückte einen Stuhl vor das Kaminfeuer, setzte sich und wärmte sich die Füße.

Dame Susanne stützte sich mit anmutiger Haltung auf die Rückenlehne des Sessels.

Thibaut sah mit Ingrimm die Gruppe, deren Umrisse gegen das Kaminfeuer grell abstachen.

»Wer ist denn der Gast?«, fragte der Fremde nach einer Weile.

»Ach, gnädigster Herr«, sagte die Dame, »mich dünkt, Sie kennen ihn nur zu gut.«

»Wie! Ist es etwa der ungeschliffene Mensch von vorgestern Abend?«

»Ja, gnädigster Herr.«

»O, wenn der mir wieder in die Hände fällt …«

»Gnädigster Herr«, erwiderte die sanfte Stimme der Dame, »man muss seinen Feinden verzeihen …«

»Ja, mein Engel, ihm und dem Steinwurf verdanke ich die lange gesuchte Gelegenheit, hier Zutritt zu bekommen, denn als Sie mich bewusstlos liegen sahen, riefen Sie um Hilfe und man brachte mich ins Haus, in der Meinung, ich sei von Räubern angefallen worden. Aber wenn der Lümmel je wieder in den Bereich meiner Hetzpeitsche kommt, so mag er sich in acht nehmen!«

»Es scheint«, dachte Thibaut, »dass mein Wunsch auch dieses Mal einem anderen Nutzen gebracht hat. Ich werde künftig erst überlegen, ehe ich etwas wünsche … aber die Stimme kenne ich.«

»Sie werden noch weit mehr erzürnt gegen ihn sein, gnädigster Herr, wenn ich Ihnen ein Geständnis mache …«

»Reden Sie, Teuerste.«

»Denken Sie sich, gnädigster Herr, der Mensch macht mir den Hof.«

»Was! Dieser Tölpel hat die Kühnheit? Wo ist er? Wo versteckt er sich? Ich will ihn von meinen Hunden fressen lassen!«

Jetzt erkannte Thibaut den Baron Jean de Vez.

»Fürchten Sie nichts, gnädigster Herr«, sagte Dame Susanne, indem sie die beiden Hände auf die Schultern ihres Anbeters hielt und ihn nötigte, seinen Platz wieder einzunehmen. »Man liebt Sie, und überdies würde ich einem Menschen, der eine brandrote Haarlocke über der Stirn hat, nie mein Herz schenken.«

Die Erinnerung an diese verhängnisvolle Haarlocke versetzte die Dame wieder in eine ungeheuere Heiterkeit.

»O, die treulosen Weiber!«, sagte Thibaut für sich. »Ich weiß nicht, was ich geben würde, dass dein Mann, dein ehelicher, braver Mann, hereinkäme und dich überraschte!«

Kaum hatte Thibaut diesen Wunsch ausgesprochen, als die Seitentür sich auftat und der kleine kugelrunde Mann mit einer hohen spitzen Nachtmütze bekleidet und mit einem brennenden Licht in der Hand erschien.

»Ha! Ha!«, lachte Thibaut frohlockend, »ich glaube, dass ich jetzt Ursache habe, um zu lachen.«

Während er mit sich selbst sprach, hörte er nicht die wenigen Worte, welche die Dame dem Junker Jean zuflüsterte. Er sah nur, wie sie niedersank und ohnmächtig von den Armen ihres Anbeters aufgefangen wurde.