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Die Flusspiraten des Mississippi 4

die-flusspiraten-des-mississippiFriedrich Gerstäcker
Die Flusspiraten des Mississippi
Aus dem Waldleben Amerikas

4. Squire Daytons Wohnung

Als Squire Dayton den Wirt Jonathan Smart verließ, schlug er einen Weg ein, der ihn zur äußersten Grenze des Städtchens führte. Fr erreichte bald ein zierlich gebautes Haus an der Westseite Helenas, um das herum die gewaltigen Bäume des Urwalds nur eben weit genug niedergehauen waren, um nicht mehr mit ihren Wipfeln das Dach erreichen zu können. Von dem weiß angestrichenen Haus hoben sich die hellgrünen Jalousien um so freundlicher ab, und der jetzt aufsteigende Mond schien hell und klar gegen die blitzenden Fensterscheiben im ersten Stock, ein Luxus, der in dem einfachen Westen gar selten angetroffen wurde.

Aber auch das Innere der kleinen Wohnung entsprach vollkommen dem soliden, gemütlichen Äußeren. Allerdings war es nicht prächtig und kostbar eingerichtet, aber die massiven Mahagonimöbel, die schneeweißen Vorhänge, die mit dunklem Damast überzogenen Ruhesessel und Stühle verkündeten deutlich genug, dass hier Wohlhabenheit, wenn nicht Reichtum herrsche. Viele andere Kleinigkeiten, wie die zierlichen Nippesfiguren und der Nähtisch am linken Eckfenster mit geflochtenen Strickkörbchen an der Seite, gaben dem Zimmer jenen Zauber, den nur die Gegenwart von Frauen einem Gemach zu verleihen imstande ist.

Ein kleiner fröhlicher Kreis hatte sich um den runden, zum Sofa gerückten Tisch versammelt. auf dem die dickbauchige Teemaschine zischte. Fröhliches Lachen scholl dem jetzt eben an die Haustür pochenden Squire entgegen, der seltsamerweise einen ernsten, ja fast traurigen Blick zu den hellerleuchteten Fenstern hinaufwarf.

Da verstummte das Lachen plötzlich oder wurde wenigstens von den rauschenden Klängen eines deutschen Walzers übertönt, den geübte Finger einem wohlklingenden, kräftig besaiteten Flügel entlockten. Mr. Dayton musste auch wirklich zur Klingel seine Zuflucht nehmen, den Dienstboten, die oben auf der Treppe standen und den so gern gehörten Melodien lauschten, seine Gegenwart zu verkünden.

Nachdem er das Haus betreten hatte, schien aber auch seine frühere Heiterkeit zurückgekehrt zu sein, wenigstens blitzten seine Augen freier und fröhlicher. Er sprang schnellen Schrittes die Stufen hinauf und stand im nächsten Augenblick im Zimmer, von all dem Lärmen und Jubel umgeben,

»Endlich – endlich!«, rief die Klavierspielerin, sprang auf und eilte, als Mr. Dayton in der Tür erschien, diesem entgegen. »Der gestrenge Herr haben heute unverzeihlich lange auf sich warten lassen.«

»Wirklich?«, fragte der Squire lächelnd, während er die im Zimmer Befindlichen freundlieh grüßte und dann seiner ihm entgegenkommenden Frau einen leichten Kuss auf die Stirn drückte. »Hat mich meine kleine wilde Schwägerin heute einmal vermisst?«

»Heute einmal«, rief das fröhliche Mädchen und warf sich mit schneller Kopfbewegung die langen dunklen Locken aus der Stirn. »Heute nur einmal? Ei, mein liebenswürdiger und gestrenger Friedensrichter glaubt wohl, seine Schwägerin fühlte sich ohne ihn nur einen Augenblick wohl und glücklich. Heute hat die Sache aber noch eine besondere Bewandtnis. Hier wartet nun Mr. Lively schon eine volle Stunde auf Sie und trägt sicherlich ein schweres, fürchterliches Geheimnis auf dem Herzen, denn keine Silbe ist ihm in dieser Stunde über die Lippen gekommen – auch Mrs. Breidelford …«

»Bitte um Verzeihung, mein Fräulein«, unterbrach die Genannte, die es kaum hatte abwarten können, das Wort zu nehmen. »Das ist keineswegs der Fall, denn ich glaube doch wirklich nicht, dass Sie sich über meine Zungenfaulheit beklagen können. Ich kenne meine Schwäche, mein Fräulein, und wie der ehrwürdige Mr. Sothorpe so schön sagt, ist das schon ein Schritt zur Besserung, wenn man seine eigenen Schwächen wirklich kennt. Mein seliger Mann freilich – ein Engel von Geduld und Sanftmut – behauptete immer das Gegenteil. Glauben Sie wohl, Squire Dayton, dass das gute Herz mir einreden wollte, ich spräche wirklich nicht zu viel? Breidelford, sagte ich aber, Breidelford, versündige dich nicht. Ich weiß, wie ich bin, ja, Breidelford. Ich kenne meine Schwächen, und wenn ich dir auch nicht zu viel rede, so fühle ich doch selbst recht gut, dass das ein Fehler von mir ist, den ich mir aber, da ich ihn einmal kenne, auch alle Mühe geben werde, abzugewöhnen?«

»Eine Tasse Tee, beste Mrs. Breidelford«, unterbrach hier Mrs. Dayton den Zungenschwall, »bitte, langen Sie zu.«

Adele aber, die augenblickliche Pause benutzend, setzte sich wieder ans Klavier, und ein so furioser Tanz dröhnte durch das Gemach, dass jede Fortsetzung von Mrs. Breidelfords begonnener Selbstbiografie dadurch schon im Keim erstickt wurde.

»Ist der Madrider noch nicht hier gewesen?«, fragte Mr. Dayton endlich, als die Ruhe wieder ein wenig hergestellt war.

»Der Mailrider? Nein, aber Mr. Lively hier scheint seinen Auftrag gern ausrichten zu wollen«, erwiderte Adele und blinzelte schelmisch zu dem sich allem Anschein nach höchst unbehaglich fühlenden jungen Mann hinüber.

James Lively saß auch wirklich da, als ob er nicht bis drei zählen könne. Seine Arme und Beine schienen ihm im Wege zu sein. Bald streckte er die Beine aus, dass sie in die Stube hineinragten, bald zog er die Füße unter den Stuhl zurück, faltete die Hände und hetzte seine Daumen umeinander. Dann wieder griff er mit dem rechten Arm hinunter nach dem hinteren rechten Stuhlbein und versuchte mit allem möglichen Eifer die Politur herunterzukratzen, dann holte er mit der Linken das mächtige seidene Tuch aus der Tasche, um es gleich darauf wieder sorgfältig zurückzuschieben. Kurz, James befand sich wohl, wie ein Hecht auf dem Sand oder ein Hase auf dem Eis, und wenn er auch manchmal den Blick scheu auf das schöne, muntere Mädchen richtete, so brauchte er nur den schelmischen Augen zu begegnen, als sich schon sein Gesicht in der prachtvollen Farbe eines gesottenen Hummers wieder senkte. Dann, wie in einem wilden Fluchtversuch, griff er tief unter den Stuhl, wo vorher sein Filzhut gestanden, den aber inzwischen, auf einen Wink Mrs. Daytons, die junge Mulattin weggenommen und hinten auf das Klavier gestellt hatte, und saß nun in voller Verzweiflung auf dem weiß gepolsterten Stuhl wie auf glühenden Kohlen.

James Lively war übrigens sonst keineswegs so verschämt und blöde. Im Wald aufgewachsen, gab es keinen besseren Jäger und Landmann im ganzen County als ihn. Mutig dabei bis zur Tollkühnheit, hatte er vor Kurzem erst den Einzelkampf mit einem Jaguar gewagt und gewonnen und im Boxen die Besten überwunden. Aber im Wald musste er sein, wenn er all diese Fähigkeiten entwickeln sollte. In Damengesellschaft getraute er sich nicht den Mund zu öffnen, und wenn er auch – wie Mrs. Breidelford – genau seine Schwäche kannte, so wäre es ihm dennoch nicht möglich gewesen, die Scheu zu überwinden, die ihm Zunge und Glieder lähmte. So auffallend wie heute hatte sich diese Befangenheit übrigens noch nie gezeigt. Sie schien sogar durch Adeles leise Anspielungen ihren höchsten Grad zu erreichen, als sich Squire Dayton ins Mittel schlug, auf den jungen Mann zuging und ihm mit einem freundlichen »Gott zum Gruß, Mr. Lively – was macht der Vater und wie steht’s daheim mit der Farm?« plötzlich wieder Mut und Selbstvertrauen gab.

Die Worte, die ganze Anrede, die Beziehung auf die heimische, ihm bekannte Umgebung wirkten wie ein wohltätiger Zauber auf den Waldbewohner. Er sprang auf, holte tief Atem, ergriff schnell die dargebotene Rechte und antwortete, als ob ihm eben eine Zentnerlast von der Brust gewälzt wäre.

»Danke, Squire – alle wohl – so ziemlich wenigstens – die braune Kuh wurde gestern krank, und darum bin ich eigentlich hierher in die Stadt gekommen – aber – ich hatte noch was Besonderes …« Er warf einen scheuen Seitenblick nach den Frauen, während wieder hohe Glut sein Gesicht überflog, »Ich – ich weiß nur nicht …«

»Ist es etwas, was mich allein betrifft?«, fragte der Squire.

»Bitte, junger Herr, genieren Sie sich nicht«, fiel hier, ohne vorherige Warnung, Mrs. Breidelford wieder ein. »Glauben Sie ja nicht, dass wir, weil wir Ladys sind, etwa ein Geheimnis nicht ebenso sicher und gut bewahren könnten wie Männer. Im Gegenteil, Mr. Lively, gerade im Gegenteil. Ich zum Beispiel weiß zwar, dass ich ein bisschen viel rede, es ist nun einmal meine Schwäche, und wofür hat uns denn eigentlich der liebe Gott Mund und Zunge gegeben? Was aber Geheimnisse anbetrifft, so hat da schon mein seliger lieber Breidelford immer gesagt, obgleich man sich eigentlich nicht selbst rühmen sollte, doch das liebe Herz liegt ja jetzt kalt und starr im Grab. ›Louise‹, sagte er immer. ›Louise, du bist wahrhaftig zu verschwiegen. Zehn Inquisitoren brächten dir das nicht über die Zunge, was du nicht hinüber haben wolltest – ich glaube, du bissest sie dir eher in Stücke‹, sagte Mr. Breidelford, aber …«

Ein rauschendes Allegro von Adeles schnellen Fingern schnitt hier wiederum Mrs. Breidelfords Faden ab, und Lively, der bis jetzt vergebens versucht hatte, Squire Daytons Frage zu beantworten, gewann wenigstens Zeit, Atem zu holen.

»Nein, Squire«, sagte er und schob, da er in diesem Augenblick nicht wusste, wohin er mit seinen Händen sollte, diese aus lauter Verzweiflung in die Taschen, aus denen er sie aber, das Unschickliche solchen Betragens wohl fühlend, so schnell wieder herausriss, als ob er heiße Kohlen

darin gefunden hätte. »Nein, Squire, Mutter meinte nur – Vater sagte -ob Sie und – und die Ladys dort nicht Lust hätten oder – so gut sein wollten, morgen ein bisschen zu uns herauszukommen und – solange Sie wollten und solange es Ihnen bei uns gefiele, draußen zu bleiben. Mutter meinte …«

Adele horchte auf. Mrs. Breidelford aber, obgleich diese Einladung wohl keineswegs ihr gegolten hatte, nahm die Beantwortung schnell auf sich, und ohne einem der übrigen Anwesenden auch nur die geringste Zeit zu lassen, erhob sie sich ein wenig von ihrem Platz und rief, den jungen Mann dabei mit etwas niedergebeugtem Kopf über die Brillengläser hin ins Auge fassend: »Oh, Mrs. Lively ist gar zu gütig, Sir, gar zu gütig, und wenn sich auch allerdings in jetziger Zeit, wo der Fluss wieder zu steigen anfängt und Waren in Hülle und Fülle stromab kommen, die Geschäfte häufen, so müssen doch schon einmal ein oder zwei Wochen gefunden werden, um seine Nachbarn aufzusuchen und mit ihnen im guten alten Einverständnis zu bleiben. Mr. Breidelford hatte ganz recht, wenn er sagte, ›Louise‹, sagte er, ›du glaubst gar nicht, wie schön es ist, mit seinen Nachbarn in Frieden und Freundschaft zu wohnen – Verträglichkeit ist das halbe Leben.‹ Nächste Woche, Montag spätestens, denk’ ich mir das Vergnügen machen zu können, Mr. Lively, bitte, mich Ihrer Frau Mutter bestens zu empfehlen.« Nieder setzte sie sich und trank ihre Tasse aus, als ob sie nach der eben gehabten Anstrengung der Ruhe und Stärkung bedürfe.

Adele schien aber diesmal, aus lauter Erstaunen über Mrs. Breidelfords Bereitwilligkeit, ganz ihre musikalische Hilfe vergessen zu haben, und selbst James, obgleich er den Ruf kannte, dessen sich Mrs. Breidelfords in Helena erfreute, stand ganz stumm da und wusste kaum, ob er sie wirklich aus Versehen mit eingeladen habe oder nicht. War das übrigens geschehen, so half hier weiter nichts, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Was aber seine eigene Mutter dabei von Mrs. Breidelford hielt, hatte er – zu seinem Entsetzen fiel es ihm gerade jetzt wieder ein – erst an diesem Morgen gehört. Wie sie sich also zu Hause über den glücklich von ihm erlegten Bock freuen würden, ließ sich ungefähr denken.

Voller Angst haftete sein Blick jetzt auf Mrs. Daytons sanften Zügen, denn das andere schelmische, immer lachende Ding wagte er gar nicht anzusehen.

Jene sagte denn auch freundlich: »Meinen besten Gruß an Ihre liebe Mutter, Sir. Und wir würden sehen, es möglich zu machen. Sie soll sich aber auch in Helena nicht so selten blicken lassen und einmal bei uns einkehren, wenn sie ihr Weg hierherführt. Doch kommen Sie, rücken Sie Ihren Stuhl zum Tisch und langen Sie zu – trinken Sie mit Milch? Hier – hier steht alles – bedienen Sie sich. Wie geht es eigentlich Ihrem Vater?«

»Danke, Madam, danke«, sagte James, der jetzt, da er Adele den Rücken zuwenden durfte, freier zu atmen anfing. »Es macht sich mit dem Alten. Wir sind schon wieder zusammen auf der Bärenjagd gewesen, und da können Sie sich wohl denken, dass er nicht mehr todsterbenskrank ist. Von so ein wenig Fieber erholt er sich schnell wieder.«

»Geht er denn noch immer barfuß in den Wald?«, fragte Adele und glitt in den dicht neben dem Sofa stehenden Stuhl, sodass sie dem jungen Hinterwäldler jetzt gerade gegenüber zu sitzen kam.

James fing wieder an, unruhig auf seinem Sessel umhe zu rücken. Er musste sich den Rock aufknöpfen, es wurde ihm siedend heiß. Mrs. Breidelford schien übrigens auch diese Antwort übernehmen zu wollen, denn mit einem »Ja, ja, Miss Adele – was das Barfußgehen anbetrifft« wandte sie sich an das junge Mädchen.

Dayton parierte aber in lobenswertem Mitleid ihre Rede, indem er Mrs. Breidelford selbst in ein Gespräch verknüpfte. Dadurch gewann James Zeit, sich zu sammeln, und weil sich überdies das Gespräch seinem eigenen heimischen Gebiet zuwandte, so wurde er auch immer unbefangener und zuversichtlicher.

»Die Erkältung des alten Mannes rührte gewiss von der hässlichen Angewohnheit her, weder Schuhe noch Strümpfe zu tragen«, sagte Mrs. Dayton. »Mrs. Lively sollte es nicht leiden.«

»Ach, das würde nichts helfen«, meinte James. »Vater ist darin ganz eigensinnig. Was er einmal will, davon bringt ihn kein Mensch wieder ab.«

»Gerade wie mein Seliger, Mr. Lively«, mischte sich hier Mrs. Breidelford trotz aller Ablenkung wieder ins Gespräch, »ganz so wie mein Seliger. ›Breidelford‹, sagte ich oft, ›du wirst dich noch ruinieren, das nasskalte Wetter ist dein Tod. Ich rate dir. zieh die wollenen Strümpfe an.‹ Glauben Sie, er hätte es getan? Nicht um die Welt. ›Louise‹, sagte er, ›das verstehst du nicht, menschliche Konstitution ist wie …‹«

Leider erfuhr die Familie Dayton an diesem Abend nicht, wie menschliche Konstitution eigentlich beschaffen sei, denn gerade hier. Als Adele schon im Begriff war, ihren kaum verlassenen Platz am Piano wieder einzunehmen, riss auf einmal jemand so stark an der Klingel, dass

Mrs. Breidelford mit einem »Jesus, meine Güte« erschrocken emporfuhr und auch Mrs. Dayton und Adele überrascht nach der Tür blickten.

Nur Squire Dayton blieb ruhig sitzen und sagte lächelnd: »Es wird Mr. Smart sein. Ich bat ihn, heute Abend noch ein wenig herüberzukommen. Ja, das ist sein Schritt.«

»Ist das Mr. Smart, der Wirt des Unionhotels?«, rief Adele und sprang zum Glasschrank, um noch eine Tasse für den neuen Gast herbeizuholen.

»Der nämliche«, sagte der Squire, »doch da ist er selbst.«

Herein trat, den Hut, den er ganz in Gedanken auf dem Kopf behalten hatte, schnell abreißend, Jonathan Smart. Allen im Kreis, Mrs. Breidelford ausgenommen, der er eine stumme Verbeugung machte, reichte er die Hand zum Gruß und setzte sich hierauf mit einem höchst selbstzufriedenen und behaglichen Lächeln auf den ihm von der Mulattin Nancy schnell hingerückten Stuhl nieder.

»Well, Ladys und Gentlemen, freut mich ungemein, Sie alle wohl zu sehen«, sagte er dabei. »Danke, Miss, danke – ich trinke keine Milch, lieber ein bisschen Rum in den Tee.«

Miss Adele hatte ihm die Tasse gereicht, und es war hierdurch, da sich die letzten Worte des Gesprächs gerade auf den Eingetretenen bezogen hatten, eine kleine Pause entstanden. Smart bemerkte das und wandte sich an Mrs. Dayton.

»Bitte, Madam, es würde mir leid tun, wenn ich Ihre Unterhaltung unterbrochen oder gestört haben sollte. Ich komme auch allerdings etwas spät, aber Squire Dayton …?«

»Ganz und gar nicht, Mr. Smart, ganz und gar nicht«, fiel ihm hier Mrs. Breidelford schnell in die Rede, »ich sprach nur eben von – ach, du lieber Gott, von was sprach ich denn gleich – ja, mein unglückseliges Gedächtnis, Mr. Smart, mein unglückseliges Gedächtnis. Schon mein lieber seliger Mann sagte immer – ›Louise‹, sagte er, ›du hast deinen Kopf in deiner Jugend zu sehr angestrengt, du hast zu viel gerechnet und gesorgt. Ein allzu straff angezogener Bogen muss am Ende erschlaffen.‹ Das waren seine eigenen Worte, Mr. Smart. ›Ach, Breidelford’, sagte ich dann, ›du hast recht – ich weiß es, ich kenne meine Schwächen, aber das Gedächtnis ist eine Gabe von Gott, und wem der es wieder nimmt, der darf sich nicht beklagen. Das wäre schlecht, Breidelford‹, sagte ich …«

»… lud mich so freundlich ein, dass ich, besonders nach dem, was heute vorgegangen ist, unmöglich nein sagen konnte«, fuhr Mr. Smart, ohne sich weiter beirren zu lassen, in seiner einmal begonnenen Rede, und zwar gegen Mrs. Dayton gewendet, fort.

»Was ist denn heute vorgefallen?«, fragte Adele schnell, »war wieder ein Streit im Ort? Wir haben das Lärmen und Toben gehört, aber noch nichts darüber erfahren.«

Mrs. Breidelford setzte die schon erhobene Tasse wieder nieder und horchte aufmerksam der jetzt erwarteten Mitteilung.

»Hat Ihnen Squire Dayton gar nichts erzählt?«, fragte der Wirt.

»Nicht das Geringste«, riefen die drei Ladys wie aus einem Munde.

»Nun, er hat mir einen Dienst geleistet«, sagte Jonathan Smart, »wie ein Nachbar nur dem anderen …«

»Aber, bester Smart«, fiel ihm der Squire lächelnd ins Wort, »ich habe ja nur getan, was meine Pflicht als Friedensrichter dieses Ortes war.«

»… zu leisten imstande ist«, fuhr Jonathan unbeirrt fort. »Er hat mir das Leben gerettet, indem er sich, die eigene Gefahr ganz außer acht lassend …«

»Die Burschen hätten es nie zum Äußersten kommen lassen. Sie rechnen mir die Sache wirklich zu hoch an.«

»… einer Bande zu allem fähiger Bootsleute entgegenwarf und sie davon zurückhielt, mich umzubringen und mein Haus niederzubrennen. Das ist das Kurze und Lange dieser Geschichte.«

Der Richter sah wohl ein, dass er den Wirt ausreden lassen müsse, und ergab sich lächelnd darein. Erst als dieser schwieg, erwiderte er: »Das aber erwähnen Sie nicht, dass Sie vorher unter wirklicher Lebensgefahr, da sogar einer der Buben schon auf sie abdrückte, das Leben des armen Iren gerettet hatten.«

»Das muss ja schrecklich heute in Helena zugegangen sein«, rief Mrs. Dayton entsetzt.

»Nicht schlimmer heute als an vielen anderen Tagen«, sagte der Wirt achselzuckend. »Helena ist nun einmal in dieser Hinsicht berühmt oder besser gesagt, berüchtigt.«

»Gerade was mein lieber seliger Mann immer sagte, Mr. Smart, gerade dasselbe. ›Louise‹, sagte er, ›bleibe nicht in Helena wohnen, wenn ich einmal tot bin – ziehe fort von hier. Du bist zu sanft, du bist zu schwach für solch wildes Leben und Treiben – du passt nicht hierher in diese rohe Umgebung‹ – der liebe Mann. Und es ist wahr, ich habe es ihm auch noch auf dem Sterbebett versprochen, ich wollte fort. ›Breidelford‹, sagte ich zu ihm, ›stirb ruhig – ich gehe nördlich, wenn du einmal nicht mehr bei mir bist‹ Aber, du lieber Gott, eine arme alleinstehende Frau, die kann ja nicht, wie sie wohl gern wollte. Man will ja doch leben, und hier, wo ich einmal notdürftig meine Nahrung habe, werde ich wohl bleiben müssen, denn ich sehe nicht ein, wie und womit ich an einem anderen Ort wieder beginnen könnte. Fleißig bin ich, dass muss mir der Neid lassen. Mein lieber seliger Mann sagte immer: ›Louise‹, sagte er. ›Du arbeitest dich noch tot – du bedenkst gar nicht, dass du zum zarten Geschlecht gehörst. Später wirst du es aber noch einmal einsehen‹, sagte er, ›wenn du deine Gesundheit ruiniert hast und wenn ich nicht mehr bin.‹ Sie glauben gar nicht, Mrs. Dayton, wie der Mann alles vorausgesehen und gesagt hat – eine wahre Prophetengabe war es, es könnte einem beinahe jetzt noch schaudern, wenn man bedenkt, dass so etwas möglich ist. Auch was mein Alleinwohnen betrifft, denken Sie sich nur, Mrs. Dayton, auch darüber hat er mir noch eine Stunde vor seinem Tode – ich sehe das liebe Herz noch mit seinem bleichen, eingefallenen Antlitz vor mir liegen – vieles gesagt und mich gewarnt, denn ›Louise‹, sagte er …«

»Ich hoffe doch, dass jetzt jemand bei Ihnen zu Hause ist?«, fiel hier Mr. Smart schnell und, wie es schien, mit besonderer Teilnahme in die Rede.

»Bei mir?«, rief, von dem Ton und der Frage erschreckt, Mrs. Breidelford, während sie von ihrem Sitz emporfuhr. »Bei mir, Mr. Smart? Keine Seele ist zu Hause, denn den Deutschen, den ich bis jetzt für die grobe Arbeit bei mir hatte, musste ich heute fortjagen, weil er einen Ton gegen mich … Aber um Gottes willen, Sir. Sie machen ja ein solch bedenkliches Gesicht. Es ist doch nichts bei mir vorge… Mr. Smart, ich beschwöre Sie, bei Ihrer männlichen Ehre …«

James Lively und Squire Dayton mussten ihre Stühle rasch zurückschieben, denn Mrs. Breidelford kam mit solcher Gewalt hinter dem Teetisch hervor, dass sie ihr kaum aus dem Weg rücken konnten.

Mr. Smart blieb jedoch ganz ruhig und sagte: »Ängstigen Sie sich doch nicht nutzlos, Madam. Das, was ich gesehen habe, hat ja vielleicht …«

»Was um aller lieben Engel im Himmel willen haben Sie denn gesehen?«, rief Mrs. Breidelford, die übrige Gesellschaft kaum mehr beachtend, in Todesangst.

»… gar nicht soviel zu bedeuten, als Sie gegenwärtig zu glauben scheinen«, fuhr Smart in seiner Rede fort.

»Herr – Mensch – Sie bringen mich noch zur Verzweiflung!«, schrie Mrs. Breidelford und ergriff mit der Linken ihr Bonnet, das sie sich in Missachtung jeder Fasson und Mode auf den Kopf stülpte, während sie mit der Rechten einen Knopf von Mr. Smarts blauem Frack zu erhaschen suchte. Diesem Angriff begegnete der Wirt jedoch dadurch, dass er ihre nach ihm ausgestreckte Hand erfasste und herzlich schüttelte.

»Was haben Sie gesehen? So sprechen Sie doch nur in des Teu…, in des lieben Himmels Namen!«

»Eigentlich gar nichts von Bedeutung«, erwiderte Smart, noch immer die Rechte der so in Eifer geratenen Frau nicht loslassend. »Als ich vor etwa einer Viertelstunde an Ihrem Haus vorbeiging, stand jemand am hintersten Fensterladen und klopfte dort an. Wie wir uns nun so manchmal, wenn wir weiter nichts zu tun haben …«

»Und was machte der Mann weiter?«, fragte Mrs. Breidelford ungeduldig.

»… um allerlei Sachen bekümmern, die uns sonst wenig interessieren würden, so blieb ich einen Augenblick stehen und sah, was dieser jemand – von dem ich übrigens keineswegs gesagt habe, dass es ein Mann gewesen sei, im Gegenteil, es war eine Frau — denn eigentlich wollte.«

»Eine Frau?«, rief Mrs. Breidelford erstaunt.

»Der Laden blieb verschlossen«, erzählte der Wirt weiter. »Und die Dame ging jetzt um das Haus herum – wobei ich mir die Freiheit nahm, ihr zu folgen – und probierte dort, an der Tür angelangt, nachdem sie auch hier wieder einige Male angeklopft, zwei verschiedene Schlüssel.«

»Ei, die Kanaille!«, rief Mrs. Breidelford in höchster Entrüstung. »Und schloss sie auf?«

»Es tut mir wirklich leid, Ihnen das nicht genau sagen zu können, Madam. Ich sah in diesem Augenblick nach meiner Uhr und fand, dass ich schon eine halbe Stunde später herkommen würde, als ich dem Squire versprochen hatte. Ich verließ also die Dame bei ihrer, wie ich jetzt allerdings hoffen will, vergeblich gewesenen Bemühung.«

»Und Sie haben sie nicht gefasst und den Gerichten übergeben?«, rief Mrs. Breidelford in unbeschreiblicher Entrüstung, während sie in wilder Eile ihren Mantel umwarf, ihre große Arbeitstasche ergriff und überall im Zimmer noch nach einem anderen Gegenstand suchte. »Sie haben nicht nach Hilfe gerufen und die Diebin zu Boden geschlagen, die in friedlicher Leute Häuser bei Nacht und Nebel einbrechen wollte? Sie haben …«

»Aber, beste Mrs. Breidelford«, fragte Adele besorgt, »was suchen Sie denn noch – kann ich Ihnen nicht helfen?«

»Nein – mein Bonnet, beste Miss, mein Bonnet«, sagte die Dame, während ihre Blicke von einem Ende des Zimmers zum anderen flogen.

»Ist auf Ihrem Kopf, Madam«, sagte mit freundlicher Verbeugung der Wirt.

»Gute Nacht, Mrs. Dayton, gute Nacht, Mr. Lively, ach! Squire, wenn Sie mir die Liebe erzeigen wollten, mit mir zu gehen«, rief jetzt Mrs. Breidelford, »Sie sind doch hier Friedensrichter, und wenn wirklich Diebe und Mörder …«

Der Richter machte eine Bewegung, als ob er der Bitte Folge leisten wollte. Smart schüttelte aber hinter Mrs. Breidelfords Rücken so angelegentlich und mit so komischem Ernst den Kopf, dass er, wenn das wirklich seine Absicht gewesen war, sie aufgab und nur, die Dame zu beruhigen, sagte: »Recht gern würde ich mit Ihnen gehen, Madam, ich habe aber mit Mr. Lively noch ein wichtiges Geschäft, und zwar gleich jetzt, abzumachen, das keinen Aufschub duldet. Mein Bursche soll Sie jedoch begleiten, und wenn es sich nötig zeigt, dann requirieren Sie nur gleich in meinem Namen den Konstabler und schicken mir jemanden her. Ich komme dann selbst hinunter.«

Mrs. Breidelford hatte die letzten Worte schon gar nicht mehr gehört, packte nur den unten an der Treppe stehenden Mulattenknaben am Handgelenk und zog den Überraschten, der ängstlich nach seinem Master zurückblickte, mit sich fort, der Haustür zu. Mr. Dayton winkte ihm aber lachend, nur getrost zu folgen, und die beiden verschwanden gleich darauf durch die Haustür, der bedrängten Wohnung einer »armen verlassenen Witwe« zu Hilfe zu eilen.

»Aber, bester Mr. Smart«, sagte jetzt Mrs. Dayton, während sie ans Fenster trat und der Frau besorgt nachblickte, »wenn Sie doch nur wenigstens die Fremde angeredet hätten, die an Mrs. Breidelfords Tür einen Schlüssel probierte.«

»Das wäre allerdings ein schwieriges Stück Arbeit gewesen«, meinte der Yankee lächelnd und rieb sich vergnügt die Hände. »Mrs. Breidelford ist auf einer wilden Gänsejagd, das heißt, sie wird sich außerordentliche Mühe geben, jemanden zu finden, der gar nicht existiert.«

»Nicht existiert?«, rief Adele verwundert, und James, der den Yankee von früher kannte, lachte laut auf, »nicht existiert? Die Frau, die Sie gesehen haben …«

»Ich habe keinen Menschen gesehen«, erwiderte Jonathan, während er seinen verlassenen Platz einnahm und Mrs. Dayton die geleerte Tasse so ruhig zum Nachfüllen hinüberreichte, als ob hier nicht das geringste Außergewöhnliche vorgefallen wäre.

»Und die Frau mit dem Schlüssel?«, rief lächelnd Squire Dayton.

»War der beste Einfall, den ich je gehabt habe«, bemerkte, immer noch ohne eine Miene zu verziehen, der Yankee. »Mrs. Breidelford hätte uns sonst noch den ganzen Abend Selbstbiografien und geschichtliche Abrisse aus dem Leben ihres ›lieben Mannes‹ zum besten gegeben.«

Hätte die arme, in Schweiß fast gebadete Mrs. Louise Breidelford das Gelächter hören können, das in diesem Augenblick die Fenster des kleinen freundlichen Zimmers erzittern machte, und dann auch noch die Ursache desselben gewusst, ihr Zorn hätte keine Grenzen gekannt. Unaufhaltsam aber, den unglücklichen Mulattenknaben im Schlepptau, stürmte sie ihrer bedroht geglaubten Wohnung zu, und geheimnisvolle, düstere Worte waren es, die sie dabei vor sich hinmurmelte.

Die kleine, jetzt von ihrer lästigen Gegenwart befreite Gesellschaft rückte aber indessen in der besten Laune dichter um den Tisch herum, und selbst James verlor zum großen Teil seine frühere Scheu. Die allgemeine Fröhlichkeit hatte ihn den Frauen nähergebracht, und er gestand

nun in aller Unschuld, dass er zu Tode erschrocken sei, als Mrs. Breidelford die Einladung, die doch eigentlich nur den beiden Damen des Hauses gegolten hatte, so ganz ohne Weiteres auf sich bezogen und angenommen habe.

»Daheim«, sagte er, »würden sie schön schauen, wenn sie ihre Drohung wahr machte, denn böse Geschichten sind es, die über die Frau erzählt werden.«

»Weiß auch der liebe Gott, wie wir zu der Ehre ihres Besuches kommen«, meinte Mrs. Dayton. »Das ist nun schon das dritte Mal, dass sie uns aufsucht und bis spät in die Nacht dableibt, ohne dass wir je einen Fuß über ihre Schwelle gesetzt oder sie auch nur gebeten hätten, ihren Besuch zu wiederholen. Was will ich aber machen? Sie kommt, setzt sich hin, quält uns stundenlang mit ihren schrecklichen Erzählungen und borgt beim Weggehen gewöhnlich noch eine Menge Kleinigkeiten, wie Nadeln, Seide, Stückchen Leinenzeug oder Küchengeschirr und sonstige Sachen, die sie ebenso regelmäßig wieder zurückzuschicken vergisst.«

»Ich kann wohl gestehen«, sagte Smart, »dass ich erstaunt war, sie hier in Ihrer Gesellschaft zu finden. Mrs. Breidelford genießt in Helena nicht einmal mehr einen zweideutigen Ruf, und das will viel sagen. Die wirklich wenigen Guten, die noch hier sind, haben sich nicht allein von ihr zurückgezogen, sondern ihr sogar das Haus verboten. Auch Mrs. Smart hatte eines schönen Morgens ein sehr lebhaftes und für Mrs. Breidelford keineswegs schmeichelhaftes Gespräch mit dieser Dame, das seitens meiner Frau von dem oberen, seitens jener Lady von dem unteren Teil der Veranda geführt wurde. Allerdings behauptete in diesem Zungenkampf Mrs. Breidelford das Feld, denn von einem sehr großen und sehr zerlumpten Teil der jungen Leute Helenas unterstützt, verblieb sie noch mit eingestemmten Armen und rotem Gesicht eine ganze Weile auf ihrem eingenommenen Posten, während ich Mrs. Smart, freilich nicht ohne bedeutenden Widerstand, in das Haus zurückzog. Seit dieser Zeit hat Mrs. Breidelford natürlich unsere Wohnung nicht wieder betreten dürfen, scheint aber den darüber gehegten Groll keineswegs bis auf mich ausgedehnt zu haben, denn sie war heute Abend ungemein, ja fast auffällig freundlich und zuvorkommend gegen mich.«

»Ich glaube, man tut dieser Mrs. Breidelford, sowenig ich sie auch selbst persönlich leiden kann, doch unrecht«, nahm hier der Squire das Wort. »Ich kenne so ziemlich alles, was an Gerüchten über sie im Umlauf ist, und habe sie scharf beobachtet und beobachten lassen. Das Einzige jedoch, dessen ich sie verdächtige und was wirklich gegen das Gesetz wäre, ist der geheime Verkauf von Whisky an Schwarze. Zeigt sich das als begründet, so werde ich sie auch deshalb, wie es ja als Richter meine Pflicht ist, in Strafe nehmen, und weder ihre Freundschaft noch ihr Hass sollen mich daran hindern. Lieb wäre es übrigens auch mir, wenn sie uns mit ihren Besuchen verschonen wollte, doch – Sie wissen, wie das hier in Arkansas ist. Wollte man es den Leuten förmlich verbieten, die ganze Stadt würde dann über Stolz und Hochmut schreien. Da unterzieht man sich lieber dem kleineren Übel und hat dafür mit weniger Unannehmlichkeiten zu rechnen.«

»Ja, Squire«, sagte James und wurde feuerrot, hier vor den beiden Damen das Wort zu nehmen. »Das mag schon richtig sein. Wenn aber bei uns auf dem Lande draußen jemand einmal als schlecht erkannt ist und man gibt sich dann nicht mit ihm ab, dann wirft einem das kein Mensch mehr vor, meine ich.«

»Mr. Lively hat ganz recht, Dayton«, fiel hier Adele lebhaft ein. »Mit solcher Frau würde ich auch keine Umstände weiter machen. Was kann sie uns denn tun, wenn wir ihr das Haus verbieten? Und wir würden dadurch eine Pein los, die manchmal wirklich kaum zu ertragen ist. Nun, Mr. Lively wird es noch bereuen, uns eingeladen zu haben.«

»Maß Adele«, stotterte James und erfasste mit beiden Händen fest und krampfhaft den unteren Teil seines Stuhls. »Mutter wird – Sie können gar nicht glauben wie – ich wollte sagen – versuchen Sie’s nur. Kommen Sie nur einmal heraus – und wenn’s auch nicht draußen so schöne Blumen gibt wie …« Um sein Leben gern hätte er »wie Sie« gesagt, aber es ging nicht – es ging wahrhaftig nicht. Die Worte steckten ihm Harpunen gleich in der Kehle, und er brachte sie nicht heraus.

»Wie hier, Mr. Lively?«, warf Adele lachend ein, die das wie auf Helena bezog, »wie hier? Ach, du lieber Gott, hier sieht’s mit Blumen trüb und traurig aus, denn der Wald in der ganzen Nachbarschaft herum ist zerstampft und zertreten, und selbst den Bäumen scheint der ewige Qualm und Rauch und das wilde, rohe Toben der Menschen nicht zu behagen. Sie sehen in der Nähe der Stadt hässlich und krank aus, während sie weiter entfernt viel frischere, lebendigere Farben, einen viel würzigeren Duft zu haben scheinen.«

»Ach Miss, Sie sollten nur jetzt einmal sehen, wie schön, wie herrlich es bei uns ist!«, rief James, dem der Gedanke an seinen Wald neuen Mut gab, wenn er es auch nicht wagte, dem jungen Mädchen zu sagen, wen er vorhin mit den Blumen gemeint hatte. »Es ist ja nirgends herrlicher in der Welt als im Wald draußen, und ein Morgen, ein Sonnenaufgang unter den frischen, tauigen Blättern wiegt ein ganzes Jahr im hässlichen Treiben der Städte auf. Die wilden Tiere und Vögel wissen das auch recht gut. Dorthin, wo es am heimlichsten, am ungestörtesten ist, dahin flüchten sie sich, und wo kein menschliches Auge sie erreichen kann, da spielt die Hirschkuh mit dem Kalb, und die munteren Sänger schlagen die herrlichsten Triller dazu und singen so lange und so wunderschön, bis die Blätter anfangen, unruhig zu werden und zu tanzen.«

,»Ei, sieh da, Mr. Lively«, meinte lächelnd Squire Dayton, während er sich ein schmales Stück Kautabak abschnitt und das übrige Jonathan Smart hinüberreichte, »ob er uns am Ende nicht noch ganz poetisch wird. Haben Sie schon einmal Verse gemacht?«

»Ich?«, rief James und sah jetzt erst zu seinem grenzenlosen Entsetzen, dass die Augen der ganzen Gesellschaft auf ihn allein gerichtet waren,. »Ich – nein- im Leben nicht.« Seine Hände griffen vergebens nach ihrem früheren, im Eifer des Gesprächs verschmähten festen Halt.

»Mr. Smart soll aber schon Verse gemacht haben«, sagte Mrs. Dayton und suchte durch diese Wendung dem armen Burschen aus der Verlegenheit zu helfen.

Jonathan Smart blickte Mrs. Dayton von der Seite an.

»Ein Yankee und Verse machen?«, fragte er endlich schmunzelnd und nahm sein linkes Knie zwischen die beiden Hände. »Prächtige Idee das. Nein, Mrs. Dayton, damit befasse ich mich weniger. Verse bringen nichts ein. Und doch – so komisch Ihnen das auch vorkommen mag, habe ich wirklich einmal ein Gedicht, und zwar an meine Alte, gemacht, als wir noch Brautleute waren.«

»O bitte, bitte, Mr. Smart, das Gedicht müssen Sie uns einmal zeigen«, bat Adele. »Ich lese so ungemein gern Gedichte.«

»Und solche besonders«, sagte lächelnd der Wirt. »Nicht wahr, wo man sich vor Lachen dabei recht ausschütten kann? I nun, wenn ich’s noch hätte, wär’s mir recht. Später musste ich nämlich selbst darüber lachen.«

»So haben Sie es vernichtet?«

»O nein, im Gegenteil, das ist in den Händen derselben, an die es gerichtet gewesen ist.«

»In Mrs. Smarts Händen?«

»Zu dienen, und wird jetzt etwa in derselben Art wie die schlecht geschleuderten Wurflanzen der Indianer als Waffe gegen den Absender gebraucht.«

»Das ist ein Rätsel«, sagte Mrs. Dayton.

»Aber leicht zu lösen«, fuhr der Yankee fort. »Ich machte nämlich in einer mehr als gewöhnlich schwärmerischen Stunde – nicht wahr, Mr. Lively, Sie haben deren auch manchmal? – ein Gedicht auf die damalige Miss Rosalie Heendor. Darin pries ich denn, wie das in solchen Gedichten gewöhnlich geschieht, nicht allein ihre unvergleichliche Schönheit und Liebenswürdigkeit, wobei ich die einzelnen Reize unter den Rubriken Alabaster, Perlen, Elfenbein, Sterne, Samt, Rosen und Veilchen besonders aufführte, sondern ich bekannte auch mit einer wirklich alles hintansetzenden Bescheidenheit und – Unvorsichtigkeit meinen eigenen Unwert, ein solches Ideal zu besitzen, hielt aber am Schluss nichtsdestoweniger sehr ernstlich um deren Hand an. Soweit ging die Sache gut. Miss Rosalie war nicht von Stahl und Jonathan Smart auch damals ein ganz reputierlicher junger Bursche, der seine sechs Fuß zwei Zoll in seinen Strümpfen stand. Mehrere Jahre hatten wir auch so, ruhig und vergnügt, miteinander gelebt, und mir war das Gedicht und dessen Inhalt natürlich ganz und gar entfallen. Da geschah …«

»Ein Brief an Squire Dayton«, sagte Nancy, die in diesem Augenblick die Tür öffnete und ein leicht zusammengefaltetes Papier hereinreichte.

»Wer hat es gebracht?«, fragte der Squire.

»Der Madrider«, erwiderte die Mulattin, »er sagte, es hätte Eile!«

Squire Dayton öffnete das Schreiben und drehte sich damit nach dem Licht herum, um es besser lesen zu können. Jonathan aber, der während der Unterbrechung einen Augenblick geschwiegen hatte, fuhr jetzt ruhig in seiner Erzählung fort, und zwar, nach seiner gewöhnlichen Art, gleich mit dem Wort, bei welchem er stehengeblieben war: »… es einst, dass Mr. und Mrs. Smart, wie das bei Eheleuten wohl manchmal vorkommt, einen kleinen Wortwechsel hatten, in welchem der Gentleman seiner Lady hinsichtlich ihrer persönlichen Eigenschaften einige vielleicht nicht gerade schmeichelhafte Bemerkungen machte. Darauf schien diese übrigens vorbereitet, denn plötzlich und ohne alle vorherige Warnung tauchte jetzt nichts anderes als das längst verjährte Gedicht auf, und mit lauter – ja immer lauterer Stimme, je mehr ich dagegen protestierte, wurde mir der mit meinen eben gemachten Äußerungen allerdings etwas im Widerspruch stehende Inhalt triumphierend vorgelesen. Diese Szene hat sich seitdem einige Male wiederholt, und wenn man nach gemachten Erfahrungen berechtigt ist, die Jugend zu bekehren und vor Missgriffen zu warnen, so möchte ich dem hier anwesenden jungen James Lively

allerdings sehr dringend empfehlen, keine Gedichte solchen Inhalts der jungen Dame zu übersenden, die er dereinst als ehrbare Hausfrau heimzuführen gedenkt. Schon gewählt?« Und die Frage traf den, an den sie gerichtet war, so plötzlich, dass er erschrocken auf seinem Stuhl zusammenfuhr. Mr. Dayton selbst ersparte ihm aber diesmal eine Antwort, denn er stand schnell auf ging zum Fenster und blickte hinaus, sah nach der Uhr und sagte dann : »Liebe Frau, ich bekomme hier eben höchst fatalerweise einen Brief, dass ich heute Abend noch einen sehr schwer Erkrankten besuchen muss.«

»Hier in Helena?«, fragte Mrs. Dayton besorgt.

»Nein, leider nicht«, sagte der Squire, »zehn Meilen im Lande drin. Da werde ich denn allerdings vor morgen früh, wenn das überhaupt der Zustand des Patienten erlaubt, nicht wieder hier sein können. Höre, Nancy, sage doch Cäsar, dass er mein Pferd sattelt und aufzäumt.«

Mrs. Dayton seufzte tief auf. »Ach, Georg«, flüsterte sie traurig, »es ist ja wohl recht gut für dich, dass deine Fähigkeiten so in Anspruch genommen werden, aber ich weiß nicht, ich wollte doch, du könntest ein wenig mehr zu Hause bleiben. Die häufigen Nachtritte müssen ja auch deine eigene Gesundheit ruinieren.«

»Sei unbesorgt«, erwiderte der Gatte lächelnd und zog den Überrock an, den auf seinen Wink Nancy gebracht hatte. »Schaden wird es mir sicher nicht, aber allerdings bliebe ich auch lieber bei euch. Doch was will ich machen? Soll ich die Kranken, die mir nun einmal vertrauen, in Angst und Sorge liegenlassen, weil ich mich nicht gern in meiner Bequemlichkeit gestört sehe? Mir tun sie leid, die Armen, da ja überhaupt die Heilkunde des ganzen Staates fast nur in den Händen von Quacksalbern liegt.«

»Da hat der Squire recht«, sagte Jonathan, »eine Wohltat ist’s, für die man nicht dankbar genug sein kann, wenn man imstande ist, einen ordentlichen Arzt zu bekommen. Doch, aufrichtig gesagt, möchte ich der nicht sein, der nie weiß, ob er sich am Abend ruhig in sein Bett legen kann oder nicht. Mit der Bezahlung dafür sieht es nachher auch immer windig aus. Wer ist denn krank?«

»Der Deutsche, der sich erst vor Kurzem dort angesiedelt hat«, erwiderte der Richter. »Brander heißt er, glaube ich.«

»Aha — kaltes Fieber wahrscheinlich – nun, das ist nicht so gefährlich. Doch ich höre das Pferd unten kommen. Also Ladys, ich werde mich jetzt ebenfalls empfehlen. Mr. Lively, gehen Sie auch mit, oder bleiben Sie noch bei den Damen?«

»Nein, bewahre«, sagte James schnell und erschrak gleich darauf wieder über die Ungezogenheit. »Ich – ich wollte nur sagen, dass ich auch nach Hause muss, es wird sonst zu spät. -Reiten wir denselben Weg, Mr. Dayton?«

»Schwerlich«, erwiderte dieser, während er den linken Sporn anschnallte. »Ich reite den Fußpfad, der zu Baily hinüberführt. Es ist etwas näher.«

»Da müssen Sie aber durch den Sumpf unten«, sagte James. »Das ist ein Weg, wo man kaum am hellen Tage durchkommt.«

»Das hat nichts zu sagen«, meinte der Squire lächelnd, »ich kenne da jeden Zoll Land und habe mir erst neulich das überhängende Rohr ein bisschen aus der Bahn gehauen. Also gute Nacht, Kinder, gute Nacht. Morgen früh, hoffe ich, trinken wir wieder zusammen Kaffee, und dann kann ich mich nachher ordentlich ausruhen.«

»Ladys«, sagte Lively und machte, ohne Adele dabei auch nur von der Seite anzusehen, eine tiefe Verbeugung vor Mrs. Dayton, »darf ich also den Eltern sagen, dass Sie morgen kommen werden?«

»Das und noch viele, viele Grüße an die Mutter«, erwiderte Mrs. Dayton freundlich und reichte dem jungen Mann die Hand. Dieser drückte sie herzlich, ließ sie aber in aller Verlegenheit auch gar nicht wieder los, da er im Geist jetzt ebenfalls eine Anrede an Miss Adele vorbereitete.

Mrs. Dayton mochte jedoch eine Ahnung von dem haben, was in James vorging, denn sie sagte lächelnd: »Und darf ich also Adele auch mitbringen?«

James drückte ihr die Hand, dass sie hätte aufschreien mögen, ließ sie dann aber schnell wieder los und sagte: »Miss Adele wird sich freilich draußen gewaltig langweilen.«

»Dann soll ich vielleicht hier bei Mrs. Breidelford bleiben?«, fragte das schelmische Ding.

»Miss!«, rief James erschrocken.

»Nun wird’s, Lively?«, rief Smart schon von der Haustür aus. »Euer Pferd steht auch schon hier.«

»Wir kommen also beide, Mr. Lively – bestimmt«, beruhigte Mrs. Dayton den jungen Mann, dem Nancy indes seinen Hut gebracht hatte. Lively sprang mit einem fröhlichen »Gute Nacht zusammen« die Treppe hinab und unten mit einem Satz in den Sattel des munteren Pferdes, das ihn dort freudig wiehernd begrüßte.

Wenige Sekunden später sprengten Dayton und Lively auf zwei verschiedenen Wegen fort. Smart drückte sich den Hut fest auf die Stirn, schob beide Hände tief in seine Beinkleidertaschen und schritt dann, höchst selbstzufrieden vor sich hin pfeifend, die Straße hinab. Indessen ging er nicht gleich dem eigenen Haus zu, denn die Ruhe der Stadt verbürgte ihm dessen Sicherheit, sondern erst einmal nach dem Flatbootlandeplatz des Flusses, wo etwa zwölf oder dreizehn jener langen unbeholfenen Fahrzeuge angebunden lagen. Die Boote hingen nur an Tauen fest, breite Planken vermittelten die Verbindung mit dem Ufer, dienten doch diese Boote auch als schwimmende Kaufläden, von denen die Bewohner der südlichen Staaten die Produkte des Nordens zugeführt bekamen.