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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Tauscher 6

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 6

Inzwischen begann es zu dämmern. In den Häusern waren die ersten Fenster erleuchtet. Max steuerte eine Eckkneipe an. Er schlenderte durch eine enge Toreinfahrt und kam in einen Hinterhof. Es war ein schmaler dunkler Durchgang, der perfekte Ort für einen Überfall, wie Florian sich sagte. Aber was dann kam, war völlig unerwartet. Er betrat einen weiten, luftigen Hof. Hier standen Tische unter einigen alten Bäumen, zwischen den Stämmen waren Seile mit Lampions gespannt, eine junge Akkordeonspielerin sorgte für Unterhaltung. Sie hatte ein wenig Mühe, die Gespräche der zahlreichen Gäste zu übertönen. Max blieb neben einem Tisch hinter einem dicken Ulmenstamm stehen. Zwei Männer saßen an dem Tisch. Max beugte sich zu ihnen herunter, sprach mit ihnen und winkte dann Florian heran. Er deutete auf den einen freien Stuhl und verschwand zwischen den anderen Tischen.

Die beiden Männer schauten Florian misstrauisch an. Beide waren gut gekleidet, und wenn da nicht diese Köpfe auf den Hälsen gesessen hätten, wären sie als seriöse Kaufleute oder brave Vertreter durchgegangen. Aber Florian registrierte die Art, wie sie mit wieselflinken Augen immer wieder die Umgebung absuchten, er bemerkte die Narbe des einen, die nicht vom Rasieren kam und den brutalen Zug um den Mund des anderen.

Es gab eine kurze Verhandlung. Florian schob den Geldschein in der verlangten Höhe zwischen den hohen Biergläsern durch und erhielt im Gegenzug einen kleinen Zettel. Darauf war nur der Name Franz Kuszinsky gekritzelt.

Hammerstain verzog das Gesicht. »Unter einem Tipp stelle ich mir was anderes vor als die Bezeichnung für Fallobst.«

Die beiden Männer nickten und grienten.

Dann beugte sich der eine vor. »Zucker setzt auf ihn.«

Florian pfiff durch die Zähne und der andere nickte noch einmal bestätigend. »Zucker lässt in der ganzen Stadt Wetten auf diesen Kuszinsky setzen. Er hat überall seine Strohmänner, die irrsinnige Mengen an Moos auf diese Pfeife setzen. Die Quoten sind überirdisch. Es lohnt sich auch noch, fünf Minuten vor Wettschluss zu setzen.«

Hammerstain nickte und stand auf. Für jeden anderen sah es aus, als hätte er sich kurz mit guten Bekannten unterhalten. Er ging aus dem Biergarten, während die Kellner die ersten Lampions entzündeten.

Florian hatte die Befürchtung, er würde sich verlaufen. Aber sobald er aufhörte über den Weg nachzudenken und einfach seinen Füßen folgte, kam er zu einer Haltestelle, wartete auf den Bus und stieg die enge Treppe zum Oberdeck hoch, während der Bus schon schwankend losfuhr. Hier oben wehte ein angenehmer Fahrtwind. Er brachte ein wenig Abkühlung, war aber noch immer voll von Benzingeruch, Abgasen und dem scharfen Gestank, den die Hitze aus der Kanalisation zu saugen schien.

Florian drückte sich an die hölzerne Rückenlehne, ließ sich von den Bewegungen durchschütteln und dachte nach. Schon wieder Zucker. Zucker wettete auf einen Sportler, dem keiner einen Sieg zutraute. Als der Bus an einer Ampel anhielt, konnte Florian die Schrift auf einem großen Plakat lesen. Großkampftag in der Kaiserhalle lautete die Überschrift. Darunter waren die einzelnen Kämpfe aufgeführt. Und irgendwo in der Reihe, Florian bekam es gerade noch mit, als der Bus schon wieder anruckte, stand Jungbeck gg. Kuszinsky, bis zur Aufgabe.

Florian stieg vor dem Hotel aus. Er zögerte einen Moment, dann schloss er sich einer Karawane von Hotelboys an, die Koffer aus einer schweren Limousine in die Eingangshalle schleppten. Die neuen Gäste waren mit zwei Wagen vorgefahren, der eine diente nur dem Transport des Gepäcks. In der Deckung eines Überseekoffers, der von drei Pagen bewegt werden musste, gelangte Florian in die Halle. Er hielt sich hinter einigen Glasvitrinen auf, in denen unerschwingliche Schmuckstücke eines Juweliergeschäfts ausgestellt waren. Von dort konnte er die Halle gut überblicken, ohne selbst aufzufallen. Dort hinten saß Fräulein Levinsohn, genauer Frau Steingold. Sie blätterte in einer Zeitschrift und wirkte so gelangweilt wie eine ganze Schulklasse. Ein lautes Keifen unterbrach die gedämpfte Atmosphäre der Halle. Einem Pagen war ein Koffer vom Stapel geglitten und auf den Boden gefallen. Der Sturz hatte kein Geräusch verursacht, dafür nun aber die Stimme der Besitzerin. Hätte sie geschwiegen, dann wäre sie für Florian als durchaus attraktive Dame im besten Alter durchgegangen. Jetzt, wo ihre Schimpfkanonade über den unglücklichen Pagen hereinbrach, ging ein wenig der Lack des äußeren Scheins ab. Nun war das Kleid ein wenig zu kurz und zu eng, der Ausschnitt zu offenherzig, der Schmuck zu viel und zu glitzernd und die sorgfältig aufgetürmte Frisur zeigte zu deutlich, dass sie ihre Fülle künstlichem Haar verdankte. Drei Kinder hüpften hinzu, wurden von einem panischen Kindermädchen abgefangen und in eine Ecke getrieben und schließlich kam eiligen Schritts ein Herr und beruhigte seine Gattin. Wahrscheinlich waren deren Stimmbänder auch schon knapp vor dem Zerreißen. Der Empfangschef stürzte ebenfalls zum Ort des Geschehens, schickte den Pagen weg, winkte andere herbei und steckte mit dem Gatten den Kopf zusammen. Dieser Gatte, deutlich jünger als die ungnädige Frau Gemahlin, trug auf der Stirn die unsichtbare, aber für jeden lesbare Aufschrift Pantoffelheld. Irgendwann war er wohl mal beim Militär gewesen und hatte sich einen Rest von Haltung und Straffheit bewahrt. Und irgendwann hatte er wohl einmal blendend ausgesehen, aber nun war das Gesicht aufgedunsen und von ungesunder Blässe. Ein starker Trinker, dachte Hammerstain, auch sonst allen leiblichen Genüssen nicht abgeneigt. Trägt wahrscheinlich ein Mieder, um seinen Spitzbauch zu verbergen. Irgendwann ist ihm seine Wampe egal, dann wird er zur Made. Der Mann redete erneut beruhigend auf seine Frau ein, er hatte einen geschmeidigen Wiener Dialekt, der wie geschaffen für derartige Charme-Offensiven war – wie auf der Operettenbühne. Schließlich nahm er mit einstudierter Zärtlichkeit ihren Arm, während sich seine freie Hand zur Kralle verzerrte. Die Koffer waren inzwischen schon längst auf dem Weg in die Suite. Die Frau spielte zuerst die ungnädige, dann ließ sie sich mit einem allzu demonstrativen Lachen zum Empfang geleiten. Die anderen Gäste hatten die Szene mit dezenter Schadenfreude beobachtet. Nur Fräulein Levinsohn fand die ganze Sache offenbar genau so peinlich, wie sie auch war und hatte sich hinter der Zeitschrift verkrochen. Florian verließ grinsend die Empfangshalle, umrundete das Gebäude und schlüpfte durch den Personaleingang.

Kurze Zeit später saß der Bankier Armin Steingold im Café des Hotels und schlürfte an einem Kakao. Florian hatte sich einen Stapel Zeitungen aus dem Ständer geholt und studierte die Sportseiten.

Er brauchte nicht lange, bis er wusste, dass Franz Kuszinsky eine hoffnungsvolle Karriere als Faustkämpfer durch Alkohol, Weibergeschichten und andere anstrengende Eskapaden ruiniert hatte. Eine Weile tingelte er durch die Provinz und ließ sich als Aufbaugegner verprügeln. Er nahm an Gewicht zu, aber nicht an Muskulatur und wurde älter. Und nun trat er gegen Harald Jungbeck an, der zwei Klassen über ihm kämpfte, einen Meistertitel besaß, wesentlich jünger war und zudem mit einem Kampfrapport versehen, der nur Siege durch Niederschlag in den ersten fünf Runden aufwies. Es war nur Zufall, dass Kuszinsky gegen Jungbeck in den Ring steigen durfte und alle Reporter waren der Meinung, dass Franz Kuszinsky öffentlichen Selbstmord begehen wollte. Irgendwo, in einer versteckten Halbzeile, wurde angedeutet, dass Jungbeck aus einem Boxstall kam, der Zucker gehörte.

Florian lehnte sich zurück. Zucker setzte gegen den eigenen Mann. Was sollte das? Das roch förmlich nach Schiebung. Nach Kampfabbruch wegen verletzter Hand von Jungbeck oder so etwas ähnlichem. Ja, das konnte sein. Wahrscheinlich war es genau das.

»Da bist du, liebster Armin.«

Florian zuckte zusammen, als sich das wasserstoffblondierte Pummelchen auf den zweiten Stuhl fallen ließ. Sara Levinsohn spielte ihre Rolle als Bankiersgattin mit Hingabe, allerdings hatte sie den Schönheitsfleck über der Oberlippe vergessen. Erstaunt bemerkte Florian, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.

»Was ist los?«

Fräulein Levinsohn beugte sich über den Tisch. Anscheinend wurde in dieser Stadt immer so gesprochen – halb über den Tisch gebeugt und mit misstrauischem Blick nach links und rechts.

»Ich habe Sie überall gesucht«, zischelte die Levinsohn, »in der Bar, im Rauchersalon. Und wo finde ich Sie – in der Nichtraucherecke des Café bei einem Kakao.« So wie sie Kakao aussprach, musste es sich um eine gefährliche Droge oder um etwas außerordentlich Widerwärtiges handeln.

»Was ist gegen Kakao einzuwenden«, knurrte Hammerstain.

Fräulein Levinsohn brach in leises Schluchzen aus. »Dass er von Ihnen getrunken wird. Ich meine – ich meine …« Sara Levinsohns Hände mit den rot lackierten Nägeln wirbelten hilflos in der Luft, »… Sie sind nicht ganz bei sich, offensichtlich, Sie saufen nicht, Verzeihung, Sie trinken nicht, Sie rauchen nicht und Sie benehmen sich, als hätten Sie so etwas wie Kinderstube genossen. Sie sind manchmal richtig nett zu mir. Und all das jetzt, wo wir wirkliche Probleme haben.«

Hammerstain streckte die Beine aus und schaute zur Decke. »Sagen wir, ich habe schon was am Laufen, ich habe vorgesorgt«, erklärte er.

»Und wie? Särge bestellt?«

»Sagt Ihnen der Name Franz Kuszinsky etwas?«

Nein, so wie Sara Levinsohn ihn anschaute, war ihr der Name völlig unbekannt. Aber als Florian auf den Großkampftag in der Kaiserhalle zu sprechen kam, wusste die Levinsohn, um was es ging. Sie behauptete, sie habe keine Ahnung. Aber Florian erkannte sofort, dass sie log. Sie hatte eine Ahnung.

»Na ja, macht ja nichts, eine Dame sollte sich wohl nicht um Veranstaltungen kümmern, bei denen sich Männer gegenseitig blutig schlagen«, lächelte Florian.

Fräulein Levinsohn nickte, dass ihre Perücke in Rutschgefahr geriet.

Florian wartete, bis sie später am Abend im Badezimmer verschwunden war. »Das ist jetzt mein Badezimmer, ich brauche zwei Stunden zum Baden«, hatte sie erklärt und ihn so angeschaut, als müsste er nun zwangsläufig vor Wut toben. Florian wünschte ihr viel Vergnügen. Als er hörte, wie sie in der Wanne planschte, machte er sich daran, ihr Gepäck zu durchsuchen.

Aus dem Bad kam schon das Gluckern des ablaufenden Wassers, als er fündig wurde. Zwischen den zahlreichen Fläschchen und Dosen in der Kosmetiktasche steckte ein Bündel Karten. Es waren Eintrittskarten für den Großkampftag, der morgen stattfinden sollte. Florian zögerte nur kurz, dann zog er eine Karte aus dem Bündel und musste sich beeilen, die Tasche wieder an ihre ursprüngliche Stelle zu praktizieren. Er war keine Sekunde zu früh damit fertig. Fräulein Levinsohn rauschte im weißen Bademantel, eingehüllt in einen neuen Duft heran und begann eine Diskussion über die Schlafplätze. Florian hatte keine Bedenken, sich auf dem breiten Sofa auszustrecken, bestand aber darauf, dass die Laken des Doppelbetts, das die Levinsohn für sich in Anspruch nahm, beidseitig zerwühlt werden sollten.

»Wir wollen ja kein Zimmermädchen ins Grübeln bringen, warum einer vom Ehepaar Steingold dort schläft, ohne Spuren zu hinterlassen.«

Sara Levinsohn schaute ihn aus schmalen Augen an und schob die Unterlippe vor.

»Sie denken auch an alles, was?«, fragte sie in bekannt schnippischer Manier.

»Bis jetzt schon.«

»Dann wollen wir hoffen, dass es auch so bleibt«, kommentierte die Levinsohn. Sie hatte damit das ihr wichtige letzte Wort behalten und rauschte zufrieden von dannen. Florian machte es sich auf dem Sofa bequem. Vor dem Fenster brauste der Verkehr ohne Unterbrechung. Manchmal drang der Pfiff einer Lokomotive aus dem Bahnhof, das Brummen überfliegender Luftschiffe oder Fetzen von Lautsprecherdurchsagen in den Raum.

Florian schlief ein und erwachte scheinbar in der nächsten Sekunde. Es war dunkel. Er starrte gegen die Decke, an der die Lichter der Autos entlang huschten. Panik überkam ihn, er war in einem unbekannten Zimmer, wie war er nur hierhin geraten? Die Panik schwand, aber die Frage klang nach wie ein Echo.

Sein Pyjama war schweißnass und klebte an der Haut. Florian setzte sich auf, als er sich über den Kopf strich, spürte er klatschnasses Haar, als käme er direkt aus der Dusche. Er drehte sich, stemmte die Füße auf den Boden und blieb so eine Weile sitzen, gespannt und aufmerksam, als könne sich die ganze Welt im nächsten Moment bewegen wie die Kabine einer Achterbahn.

Der Traum war so real gewesen, so wirklich und auf eine beunruhigende Weise selbstverständlich. Er war nicht Hammerstain, sondern ein Jugendlicher oder ein junger Erwachsener, der sich Gedanken um den Abiturdurchschnitt machte und der die Fahrprüfung bestehen wollte. Wie hatte er noch geheißen?

Florian schlurfte ins Badezimmer und trank ein Glas Wasser. Aus dem Spiegel starrte ihm sein Gesicht entgegen, verschwitzt, mit Bartschatten auf den Wangen und einer Narbe, die rötlich leuchtete. Ob es Menschen gab, die mit ihrem Gesicht vertrauter waren als er? Hammerstain seufzte, wechselte den Schlafanzug und legte sich wieder auf das Sofa. Im Nebenraum knarrte die Matratze ein wenig, als sich Fräulein Levinsohn herumwälzte.

Hammerstain schloss die Augen und hoffte, dass ihm ein weiterer Alptraum erspart bliebe.

Fräulein Levinsohn kreischte auf, als sie schlaftrunken aus ihrem Raum schlurfte und direkt in die aufmerksamen Blicke Silwester Hammerstains lief, als würde der ihr ein Messer entgegenhalten.

»Seit wann sind Sie um diese Zeit schon mit der Welt in Kontakt?«, fragte sie verwirrt und schloss ihren Morgenmantel bis zum obersten Knopf.

»Es ist halb acht«, sagte Florian.

»Um diese Zeit kommen Sie meist gerade nach Hause.«

»Jetzt offensichtlich nicht. Sie können über das Bad nach Belieben verfügen«, sagte Florian. Er saß frisch gewaschen und rasiert und nach einem teuren Aftershave duftend in einem Sessel. Fräulein Levinsohn zupfte nervös an einer Haarsträhne, was ihre völlig verwuschelte Frisur allerdings nicht wesentlich verbesserte. Sie hatte in diesem Moment etwas von einem erschreckten Kaninchen. Florian genoss mit breitem Grinsen die Überlegenheit, die jeder wache Mensch gegenüber einem gerade erst aufgestandenen Halbschläfer hat.

»Krawatte passt nicht«, meckerte Sara Levinsohn, bevor sie im Bad verschwand. Ein netter Versuch, ein wenig an seiner Überlegenheit zu rütteln.

Sie ließen das Frühstück auf das Zimmer kommen, Florian dirigierte den Kellner durch die halb geöffnete Tür, ohne sich blicken zu lassen. So ersparten sie sich die Kostümierung.

»Sie scheinen schlecht geschlafen zu haben«, sagte Sara Levinsohn über ihr Frühstücksei hinweg.

»Wieso sollte ich?«

»Weil Sie einige Male im Schlaf geschrien haben«, erklärte die Levinsohn befriedigt, »war das vielleicht Ihr schlechtes Gewissen wegen Ihrer zahlreichen Untaten?«

»Nein, ich wollte Sie aufwecken«, knurrte Hammerstain. Er lief unruhig durch das Zimmer. Er hatte Lust auf einen Wodka, aber irgendetwas sagte ihm, dass ihm der Alkohol ebenso wenig schmecken würde wie die Zigarre, nach der er sich sehnte. Seufzend ließ er sich wieder am Tisch nieder und schlürfte ein weiteres Glas Orangensaft. Das war auch nicht schlecht.

»Keine Angst vor Vitaminvergiftung?«, fragte Fräulein Levinsohn ironisch.

»Wollen wir zu Mittag einen leckeren Schweinebraten bestellen?«, erkundigte sich Florian unschuldig.

Die Levinsohn verdrehte nur die Augen und legte die Serviette weg, auf der deutliche Spuren ihres Lippenstiftes zu sehen waren.

»Haha, das war ja jetzt ein Klassiker«, giftete sie, und fuhr dann fort: »Ich muss heute morgen weg.« Es folgte eine kurze Pause, weil sie offensichtlich Widerspruch oder eine Bemerkung von ihrem Chef erwartete. Florian wünschte ihr viel Vergnügen und stellte sich an das Fenster.

Die Strahlen der Morgensonne stachen durch den bläulichen Dunst, der über dem Verkehr lag. Wie am Vortag wuselten Autos, Busse, Straßenbahnen und Passanten durcheinander, wieder schien alles krachend im Chaos zusammenzustürzen und sortierte sich im nächsten Moment neu. Brummend zog ein Luftschiff über die Dächer, hinter den Fenstern standen die Passagiere und winkten. Eine Schulklasse, die sich vor dem Bahnhof versammelt hatte, winkte mit Hingabe zurück.

Fräulein Levinsohn kam am frühen Nachmittag wieder. Als sie an Florian vorbeiging, bemerkte der einen fremden Geruch, der sich durch das Blumenparfüm der Levinsohn durchdrückte wie ein Stachel durch Seidenstoff. Er musste eine Weile überlegen, bis er darauf kam: Schmieröl. Sie war mit dem Auto gefahren.

»Ich muss mir heute Abend frei nehmen«, erklärte Fräulein Levinsohn und Florian zuckte mit den Achseln. Sie verbrachten den Rest des Tages damit, als Ehepaar Steingold im Restaurant zu sitzen, in der Eingangshalle zu sitzen, im Café zu sitzen, in der Bar zu sitzen und vor dem Hotel zu promenieren. Falls jemand sie beobachtete, konnte der nur eine Schlussfolgerung ziehen: Die Steingolds hatten Ferien, ein wenig Langeweile und daher jede Menge Zeit, um mit neuen Bekannten ins Gespräch zu kommen.

Fräulein Levinsohn wühlte in ihren Koffern und verschwand dann ziemlich schnell. Florian verzichtete auf jede Form von Tarnung. Er trug einen hellen Anzug mit rotem Hemd, heller Krawatte, rotem Einstecktuch und einen hellen Hut mit einem roten Hutband. Für die Auswahl hatte er eine ganze Weile gebraucht. Er verließ das Hotel durch den Personalausgang, ging zum Bahnhofsvorplatz und bestieg dort eine Taxe.

»Ich werde Sie nicht direkt bis zum Eingang fahren können«, erklärte der Fahrer, als Florian das Ziel nannte, »oder wir stehen eine halbe Stunde im Stau.«

»Fahren Sie so weit, wie Sie können, ich habe zwei Beine«, erklärte Florian und schaute auf die vorbeigleitende Stadt. Die Kaiserhalle war ein Kuppelbau von furchterregenden Ausmaßen. Sie lag im Kreuzungspunkt von vier Zufahrtsstraßen und Florian dachte im ersten Moment, sie würden auf ein Gebirge zufahren. Über dem rechteckigen Unterbau erhoben sich mehrere Türme, zwischen denen sich die Kuppel in den Abendhimmel reckte. Scheinwerfer auf den Galerien strahlten das Bauwerk in verschiedenen Farben an und ließen Licht und Schatten auf der Fassade spielen. Obwohl die Zufahrtsstraßen in beiden Richtungen sechsspurig waren, stockte der Verkehr bald und erstarrte hundert Meter weiter im Stau.

Florian bezahlte und stieg aus, während sich der Taxifahrer von einem Polizisten zu einer Durchfahrt im Mittelstreifen dirigieren ließ und auf der völlig leeren Gegenfahrbahn verschwand. Florian drückte sich zwischen den wartenden Autos durch. Von den Kühlern stieg faulige, von Benzindämpfen gesättigte Hitze auf. Auf dem breiten Gehweg strömten die Menschen der Kaiserhalle zu. Hammerstain ging an den Schlangen vor den Kassen vorbei direkt zum Eingang. Er wurde zu den Tribünen ganz unten geleitet. Das waren die teuersten Plätze. Florian drückte sich in eine Ecke des abgesperrten Blocks, vielleicht wäre eine weniger auffällige Kleidung besser gewesen. Aber ein Blick um sich herum, und er war wieder beruhigt. Florian war zwar nicht Teil der Masse, aber er stach auch nicht besonders heraus und vor allem achtete niemand auf ihn. Blieb die Frage, wie Fräulein Levinsohn reagieren würde, wenn sie einem ihrer Gäste keine Ehrenkarte überreichen konnte. Aber auch damit würde Florian fertig werden. Er wechselte den Platz und schaute sich um.

Die Sitzplätze für die Ehrengäste und für die anderen, die dafür offensichtlich sehr viel Geld hingeblättert hatten, befanden sich direkt am Rund der Arena. Wenn sich Florian über die Brüstung beugte, sah er vielleicht drei Meter unter sich den Boden. Er konnte nicht einschätzen, welchen Durchmesser die Arena haben mochte, aber sie war auf jeden Fall riesig. Auf dem Weg durch die Vorhalle hatte er einen Blick auf die Plakate geworfen. Hier fanden auch Fußballspiele und Leichtathletikmeisterschaften statt. Am heutigen Tag war in der Mitte der Halle ein Gerüst mit dem Boxring hochgefahren worden. Es war genau auf der Höhe der untersten Sitzreihen. Neben dem Boxring waren die Plätze der Schiedsrichter, auf der anderen Seite wurden Kabel verlegt und Mikrofone aufgestellt. Hier sollten offensichtlich die Berichterstatter der Radiosender ihren Platz finden. Den restlichen Raum nahmen Reihen schwerer Plüschsessel ein, die für die Zuschauer der ganz besonders besonderen Sorte reserviert zu sein schienen. Florian beobachtete, wie ein älterer Herr in Begleitung zweier wesentlich jüngerer Frauen aus einem Tor trat und sich zu den Plätzen führen ließ. Er und seine aufgedrehten Begleiterinnen genossen es, von befrackten Angestellten geleitet zu werden und Getränke zu bestellen, die kurz darauf serviert wurden. Die Frauen tuschelten und kicherten, so dass Florian es trotz des Lärms hören konnte. Der Mann stand noch einmal auf und warf einen Blick in die Runde. Sein Monokel blitzte. Er wollte niemanden sehen, er wollte gesehen werden.

Wer sich dort unten im Sessel räkeln konnte, wusste, wer er war. Und alle anderen wussten es auch.

Die Ränge füllten sich. Jetzt, wo der Beginn der Veranstaltung näher rückte, wurden die Stimmen lauter, die Schritte schneller, an den Eingängen drängelte man sich und beeilte sich dann, seinen Platz einzunehmen. Der Lärm der Stimmen schwoll an und wurde zu einem beständigen Tosen. Inzwischen hatte auch Hammerstain den Sitz eingenommen, den ihm die Karte zuwies, denn auch hier füllten sich die Reihen. Keine Spur von Fräulein Levinsohn. Aber Florian saß auch nicht allein, direkt neben ihn setzte sich eine blondierte hagere Frau und machte mit ihrer aufdringlichen Parfümwolke das Atmen schwer.

Florian bedauerte, dass er nicht daran gedacht hatte, einen Blick auf die Sitznummern der anderen Karten zu werfen, die er bei der Levinsohn gefunden hatte. Möglicherweise waren es ja keine nebeneinander befindlichen Plätze gewesen. Dann saßen die Levinsohn-Gäste irgendwo verteilt um ihn herum. Unmöglich, sie zu erkennen. Hauptsache, sie selbst tauchte nicht auf. Die Vorstellung, Fräulein Levinsohn könnte sich vor ihn aufbauen und ihn in ihrer bekannten Art wegen Kartendiebstahls anklagen, war unerfreulich für Florian.

Aus den Lautsprechern erklang ein Krachen und Krächzen, das die Zuschauer zusammenfahren ließ. Dann setzte Musik ein, irgendetwas wie Swing. Florian wühlte in seinem Gedächtnis, aber die Musik kam ihm unbekannt vor. Das quälte ihn, die Narbe an seiner Stirn begann zu pochen.

»Darf ich?«

Florian fuhr hoch. »Verzeihung«, stammelte er. Er hatte sich in der Tat etwas zu breit gemacht und die Armlehne des Sitzes für sich in Anspruch genommen.

Aber es war nicht allein diese Peinlichkeit. Es gab da etwas anderes – die sanfte, etwas rauchige Stimme vielleicht. Oder die Frau selbst, die neben ihm und vor dem freien Sitzplatz stand. Sie trug ein graues, gestreiftes Sakko und einen passenden wadenlangen Rock. Anzugartige Kleidung, stellte Florian fest. Dazu der breitkrempige Hut, eigentlich eher ein Männerhut. Auf den ersten Blick wirkte sie herb, eine Geschäftsfrau in ihrer Arbeitskluft. Die Frau nahm den Hut ab und warf mit einer schnellen ungeduldigen Kopfbewegung das blonde Haar über die Schultern zurück. Sie hatte Wangenknochen, die ihr Gesicht noch schmaler wirken ließen, so dass die großen tiefblauen Augen und der volle Mund kaum Platz zu finden schienen. Wäre da eine Stupsnase gewesen, dieses Gesicht hätte sogar eine Chance gehabt, als niedlich eingestuft zu werden, trotz der etwas unpassenden Wangen. Aber die Nase war schmal und gerade und wirkte ein wenig, als wäre sie eine technische Installation, bei der eher auf praktischen Nutzen als auf Schauwert geachtet wurde. Diese Nase gab den Ausschlag, dachte Florian, die Frau sah hinreißend aus, aber nicht niedlich. Kein bisschen niedlich.

Sie lächelte Hammerstain an und nahm Platz. Dann hängte sie ihren Hut an den Haken, der vor ihnen an der Brüstung befestigt war und kramte in ihrer Handtasche. Die Tasche war recht klein und schien dennoch Gewicht zu haben, wie Florian mit einem Seitenblick feststellte.

»Haben Sie Feuer?«

Hammerstain klopfte seine Taschen ab, fand das goldene Feuerzeug und ließ die Flamme hochsteigen. Seine Nachbarin schob das Gesicht näher, die Zigarette zwischen den vorgestülpten Lippen. Er bemerkte ihren Blick, sie schaute ihm direkt in die Augen, zog an der Zigarette, dass die Spitze glühte und sich ihre Wangen verengten. Dann, als wäre sie plötzlich entspannt, blies sie den Rauch aus und lehnte sich zurück. Über ihrem linken Mundwinkel war ein kleines dunkles Muttermal, das sich jetzt verschob, als sie Florian anlächelte.

»Danke«, sagte sie oder vielleicht war es eher so, dass sie das Wort gurrte wie eine Taube, »ich habe mein Feuerzeug vergessen und die Zigarettenspitze auch, wie dumm.«

Vielleicht sollte das der Beginn eines Gespräches sein, aber jetzt dröhnte eine Stimme aus den Lautsprechern und verlangte alle Aufmerksamkeit.

Florian machte es sich mit angezogenen Ellenbogen bequem. Neben ihm lehnte sich die Frau zurück, legte ein Bein über das andere und beugte sich noch einmal kurz vor, um den Strumpf über ihrer schlanken Fessel glatt zu streichen. Aber da war keine Falte gewesen. Florian massierte sich die Schläfen. Diese Frau neben ihm war ungeheuer attraktiv. Schon die Art, wie sie mit Kussmund an ihrer Zigarette sog und dann die Lippen öffnete, um den Rauch auszulassen und dabei ein wenig die Zunge bewegte, als müsste sie das weiße Rauchgespinst – Husch husch – hinausjagen …

Aber das war es nicht. Auch nicht die Art, wie sie ihn angeschaut hatte. Vielleicht lag darin Interesse. Hammerstain war eitel genug, um sich darüber nicht zu wundern. Aber Florian störte sich daran, nicht an dem Interesse, eher an der Art ihres Interesses. Irgendetwas war anders, irgendetwas verwirrte ihn. Irgendwo in seiner Erinnerung lag die Erklärung für diesen Blick und für das Unbehagen, das ihm diese Frau bereitete. Aber er konnte diese Erinnerung nicht greifen und das machte ihn zugleich wütend und unsicher. Hammerstain verschränkte die Arme. Ohne dass er sich bemühen musste, waren der Rock und die Beine seiner Nachbarin in seinem Blickfeld. Sie trug schimmernde hautfarbene Strümpfe und schmale Schuhe mit enorm hohen und schmalen Absätzen. Diese Schuhe waren wie ein bewusster, vielleicht ironischer Widerspruch zu ihrer sonst so seriös wirkenden Kleidung. Wenn sie die Beine bewegte, glaubte er, das Knistern ihrer Seidenstrümpfe durch den Lärm hören zu können.

»Ich benehme wie mich wie ein achtzehnjähriger Trottel«, dachte Silwester Hammerstain verärgert. Er nahm sich vor, die Nachbarin zur Linken ab jetzt zu ignorieren. Aber Florian bemerkte jede ihrer Bewegungen aus den Augenwinkeln. Er wollte es nicht, aber es drängte sich auf. Ungefragt und unerwünscht. Als der Anruf von Zucker kam und er dieses Bild einer Blondine vor sich sah, die ihren Kopf neben Zuckers Hörer hielt – war sie es? Und Florian erinnerte sich an einem Moment im Hotelfoyer, gestern Abend oder irgendwann, als er in einer verspiegelten Säule exakt dieselbe Geste bemerkt hatte, diese ungeduldige schnelle Kopfbewegung, die die Haare aus dem Gesicht fegte, aber diese Frau war brünett gewesen, aber vielleicht täuschte er sich ja oder es lag an der Beleuchtung oder er bildete sich etwas ein, weil er langsam verrückt wurde. Ich, Silwester Hammerstain, muss mich zusammenreißen, dachte Florian, sonst geht es mir an den Kragen. Aus diesem Grund sitze ich hier und nicht, um einer Unbekannten Feuer zu geben.

Er konzentrierte sich auf die Männer, die jetzt vor dem Boxring Filmkameras in Position brachten. Ein Gerät von der Form eines Kastens und den Ausmaßen eines Automobils wurde herangeschafft. Dicke Kabelstränge wurden an Steckern befestigt, ein Mann setzte sich auf einen ausgeklappten Hocker, zog ein schwarzes Tuch über den Kopf und bediente mit beiden Händen Schalter und Rädchen.

Von der Kuppel wurden zwei riesige Leinwände abgesenkt. Sie schwankten leicht, beruhigten sich und wurden dann auf der Rückseite von starken Scheinwerfern erfasst.

Florian fühlte einen unangenehmen Schwindel. Das Getöse brach in seine Ohren ein, die Luft war zum Schneiden dick, wie viele Menschen mochten hier Atem holen? Er blickte sich um, die Zuschauer auf den oberen Rängen, direkt dort, wo die Wölbung der Kuppel begann, waren nur als farbige, bewegte Mauer erkennbar. Über ihren Köpfen begannen die Flügel der großen Ventilatoren zu rotieren, sie saugten den blauen Dunst an, diese Mischung aus verbrauchter Luft, Zigarettenrauch, menschlichen Ausdünstungen und tauschten ihn gegen die heiße Sommerluft aus.

Der Sprecher krächzte sich durch sein Programm. Begrüßung, volles Haus, Ehrengäste, die Wettquoten, die Abfolge der Kämpfe, letzte Wetten in drei Minuten, viel Vergnügen. Verkäufer mit Getränken, Imbissen und Zigaretten schoben sich durch die Reihen. Florians Nachbarin winkte das junge Mädchen heran, das mit kurzem Röckchen und Bauchladen die Loge betreten hatte. Sie kaufte filterlose türkische Zigaretten.

Goldmundstück, fuhr es Florian durch den Kopf. Er gab ein Zeichen, kaufte Hammerstains Zigarillos und warf einen Blick auf die letzte Schachtel. Die türkischen Zigaretten hatten tatsächlich Goldmundstück. Sie gehörten zu den teuersten Tabakwaren, daher war der Vorrat, den die Verkäuferin bei sich hatte, auch so klein.

Woher wusste er das mit dem Goldmundstück? Florian steckte die flache Blechschachtel mit den Zigarillos in die Tasche. Schon der Gedanke, sich so ein Ding anzuzünden, war ekelhaft. Aber lange nicht so quälend wie die Frage, warum ihn die Frau an seiner Seite so beunruhigte.