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Die Tauscher 5

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 5

Am frühen Nachmittag betraten der Bankier Armin Steingold und seine Gemahlin das Foyer des Berliner Hofes.

Der Marmorboden in dem großen Säulensaal schimmerte, als wäre er in Wirklichkeit eine Flüssigkeit, in der man versinken konnte. Wahrscheinlich war das der Grund, warum die meisten Gäste ganz unbewusst die dicken Teppiche wie Brücken benutzten. Die hohen Decken wurden von Säulen mit ägyptisch anmutenden Verzierungen getragen. Ein an den Wänden entlanglaufender Fries zeigte die bemalten Reliefs von Sportlern und Wettkämpfern aller Epochen. Darunter waren auch Rennfahrer und Flieger abgebildet. Im Gegensatz zu den anderen Athleten wurden diese nicht in heroischer Nacktheit gezeigt, trugen aber derart engsitzende Overalls, dass sie fast noch unbekleideter wirkten.

Bankier Steingold schnaufte ungerührt über den schimmernden Marmor direkt auf die Rezeption zu. Neben ihm trippelte seine Gattin, eine etwas billig wirkende, pummelige Wasserstoffblondine in einem für die Temperatur unpassenden Pelzmantel.

»Armin Steingold«, stellte sich der Mann vor, »meine Sekretärin hatte hier eine Suite bestellt.«

Der Empfangschef blätterte rasch durch eine dicke Kladde und warf zwischendurch einen prüfenden Blick auf die Hotelpagen, die mit dem Gepäck anmarschierten.

»Steingold, Schönkatz und Brandwein-Bank in Königsberg. Ihr Sekretariat hatte telegrafiert«, erklärte er dann mit der natürlichen Würde, die ein Empfangschef ausstrahlt. »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sie hatten Glück, dass wir die Suite noch frei hatten, gnädiger Herr.«

Der gnädige Herr Steingold nickte gelassen. Dann verschob er die lästigen Formalien der Anmeldung auf einen späteren Zeitpunkt und begab sich mit seiner Gattin in die Fürstensuite.

»Die blonde Perücke steht Ihnen absolut nicht«, stellte Hammerstain fest, als die letzten Pagen mit einem erfreulichen Trinkgeld in der Hand abgezogen waren.

Fräulein Levinsohn riss sich mit einem unterdrückten Fauchen die Perücke vom Kopf.

»Ich weiß, dass ich nicht der arische Typ bin«, murrte sie, »zum Blondchen muss man bekanntlich geboren sein.«

»Mir würde es reichen, wenn Sie der nette Typ wären«, sagte Hammerstain und zog den Kopf ein, weil nun irgendein Gegenstand in seine Richtung flog.

»Ich muss dieses ganze Zeug loswerden«, erklärte Fräulein Levinsohn und wickelte sich aus den Tüchern, die ihr die erwünschte rundliche Kontur gegeben hatten. »Ich komme mir so billig vor«, klagte sie dann und verschwand im Bad.

»Warum haben Sie diese Verkleidung gewählt?«, rief Florian hinter ihr her.

Die Dusche begann zu rauschen.

Durch das Geräusch des Wasserstrahls war die Stimme der Levinsohn zu hören. »Weil das genau der Typ Bankiersgattin ist, um die es geht. Ich meine, um eine kleinere Bank, die Direktoren hat, die solche Frauen haben.«

»Sie kennen sich damit aus, ja?«, spottete Hammerstain.

Es kam keine Antwort.

Silwester Hammerstain folgte dem Beispiel seiner Assistentin und entledigte sich aller Tücher, mit denen er sich ausgestopft hatte wie zu einem Karneval.

Er trat an das Fenster und blickte auf den kleinen Platz vor dem Hotel, die mehrspurige Straße und den weitläufigen Bahnhofsvorplatz. Außer den Plakatsäulen und der großen Uhr auf ihrer gusseisernen Säule schien sich alles hektisch, mit schwindelerregender Schnelligkeit, zu bewegen. Am Hotel rauschte und lärmte der Verkehr vorbei. In der Mitte der Straße lag eine Straßenbahnhaltestelle, die wie eine Insel aus dem rasenden Strom des Verkehrs ragte, immer in Gefahr, im nächsten Augenblick überschwemmt zu werden. Die Straßenbahnzüge ratterten in schneller Folge heran, sie schepperten mit metallischem Klang über Weichen, während die Stromabnehmer knallend Funken aus der Oberleitung zogen. Die Bremsen kreischten, die Türen wurden krachend aufgeschoben oder öffneten sich mit zischendem Luftdruck, Schaffner sprangen heraus, eine Menschenmenge ergoss sich aus der Bahn, es gab einen Knäuel von Menschen, dann sprangen die neuen Fahrgäste auf, dann klingelten die Signalglocken, die Motoren begannen schrill zu heulen und die Straßenbahn sauste davon und machte Platz für den nächsten Zug. Die Motoren der Doppeldeckerbusse dröhnten, Wolken von schwarzem Rauch wurden über den Gehsteig geblasen, wenn sie von der Haltestelle kurz hinter dem Hotel losfuhren. Quäkendes Hupen, das Brüllen beschleunigender Maschinen und das schrille Kreischen heftiger Bremsmanöver gingen ineinander über und füllten Florians Ohren, als würde er in den Lärm untertauchen. Die Fußgänger passten sich dem Tempo an, sie hasteten vorbei, mit laut tappenden Schritten, sich lautstark unterhaltend oder lachend, rannten zwischen den hupenden Autos auf die andere Straßenseite oder versammelten sich zu ungeduldigen, wie Gänse schnatternden Gruppen, die darauf warteten, dass zwei Verkehrspolizisten auf die Fahrbahn traten, den Verkehr für einen kurzen Moment anhielten und die Gelegenheit zum Übergang schufen. Kaum traten die Polizisten zur Seite, als die Autos schon weiterjagten, mit gierig knurrenden Motoren, als wäre das Stückchen freie Straße vor ihnen eine Beute, die sie zwischen den Zähnen ihrer Chromkühler zerfetzen könnten.

Zeitungsjungen liefen umher, schwenkten die Blätter und brüllten die neuesten Schlagzeilen hinaus. In den sekundenkurzen Momenten, in denen sich im Verkehrslärm eine Lücke auftat, füllte das tiefe Brummen der Luftschiffmotoren diese Stille. Und wenn es nicht die Luftschiffe waren, die so zahlreich über den Himmel kreuzten, dass ihr Anblick nicht mehr wert war, den Kopf zu heben, dann waren es die vielen Flugzeuge, mit denen sie sich den Luftraum über der Stadt teilten, als würde bewusst die Vorbereitung für eine Katastrophe getroffen, auf dass die Zeitungsjungen eine fette Schlagzeile herauszuschreien hatten. Und wenn selbst kein Luftschiff oder Flugzeug dröhnte, dann stampften die Dampfloks, brüllten die Dieselloks, ratterten die Waggons, plärrten die Lautsprecher, alles das in dem scheinbar panischen Versuch, keine Sekunde Stille zu erlauben, als wäre sie ein Gift, an dem die Stadt sofort krepieren würde.

Selbst die Plakate auf den Bussen und Straßenbahnen schrien, lärmten, kreischten. Sie taten es mit ihren grellen Farben, ihren riesigen Buchstaben oder überzogenen Illustrationen und ihrem arroganten Besser, Neuer, verbesserte Rezeptur, Kaufen Sie, wählen Sie, nur das Echte, Original zum Sonderpreis.

Florian klammerte sich fest, ein leichter Schwindel überkam ihn. »Die brauchen hier nicht einmal zu schreien, um Lärm zu machen«, fuhr es ihm durch den Kopf.

Alles wirkte unglaublich schnell und hektisch. So, als würde es im nächsten Moment in tausend Stücke zerspringen und in die Luft fliegen wie ein Motor mit überhöhter Drehzahl. Und dann sortierte sich doch alles wieder so, dass es weiterging, nur um im nächsten Moment erneut in die Gefahr zu geraten zu explodieren.

In der Luft lag der Geruch der Abgase, ein Geruch schwarz und blaugrau wie die Auspuffahnen der Wagen, der sich wie ein pelziger Belag auf die Zunge legte.

Gegenüber lag der Wiener Bahnhof. Das Gebäude wirkte wie ein riesiger Tempel aus grauen Steinquadern. Seitlich lagen Hallen, hinter deren großen Fenstern Züge, Dampfwolken, Menschengruppen wie farblose Schemen erkennbar waren. Zwei massive Türme erhoben sich aus den Seitenflügeln und stützten die Haupthalle, eine gewaltige gusseiserne Bogenkonstruktion, die zum Vorplatz hin durch bunt bemalte Glasfenster abgeschlossen war. Soweit Florian erkennen konnte, ging es auch auf den Glasflächen nackt, muskulös, elegant aber heroisch zu.

Manchmal quollen aus den Belüftungsöffnungen des Hallendaches dichte weiße Dampfwolken. Sie wanderten mit dem abfahrenden Zug nach hinten oder mit einem einlaufenden Zug nach vorne und lösten sich dann rasch in der warmen Sommerluft auf.

Kurz nach dem Einfahren eines Zuges strömte ein Schwall Reisender und Gepäckträger aus dem Bahnhof auf den Vorplatz. Taxis wurden beladen und ordneten sich hupend in den Verkehr ein, Busse fuhren vor, während andere Reisende aus Taxis und Bussen stiegen und über den Vorplatz zum Bahnhofseingang eilten.

Der Wind trug die Geräusche zum Hotel hinüber – das Dröhnen der schweren Lokomotivmotoren, das Kreischen der Bremsen, das Fauchen und Stampfen der Dampfloks, die Pfeifsignale der Zugführer. Ein Lautsprecher machte ununterbrochen Durchsagen. Jetzt wurde die Abfahrt des Expresszuges nach St. Petersburg angekündigt. Die Lautsprecherstimme wechselte von Deutsch zu Russisch und wiederholte die Ansage.

»Wieso verstehe ich russisch?«, fragte sich Florian. Es war, als würde er in jeder Sekunde eine Tür öffnen, hinter der eine andere beunruhigende Frage wartete.

Hinter ihm erklang ein unsicheres Lachen. Hammerstain drehte sich um.

»Was ist?«

»Nichts«, sagte Fräulein Levinsohn, »es ist nur so, dass ich es noch nie erlebt habe, dass Sie so aus dem Fenster schauen. Ich meine, so lange.«

»Was ist daran seltsam?«

»Nun ja, Sie wirkten gerade eben wie eine satte Katze an einem sonnigen Plätzchen. Und sonst sind Sie eigentlich immer wie ein hungriger Hund, der eine Wurst wittert.«

»Ist das so?«, knurrte Florian. Schon wieder war irgendetwas nicht richtig.

»Und nun?« Fräulein Levinsohn hatte sich in ein leichtes Sommerkleid geworfen und trocknete sich mit einem Handtuch die nassen Haare.

»Wenn Sie jemand so sieht, wird er sich sehr über Ihre Verwandlung wundern«, sagte Florian.

»Das Personal klopft an«, antwortete die Levinsohn und war wieder schnippisch, »und ansonsten gibt es hier eine Hintertreppe, auf der man ungesehen durch den Küchentrakt auf die Straße und zurück kommt. Haben Sie mir selbst einmal erklärt.«

Florian begann unterdessen unter ihren verwunderten Blicken die Zimmer zu untersuchen.

»Hat das jetzt mit der Droge zu tun oder was wird das?«

Florian merkte, wie sein fremder Kopf rot anlief.

»Ich suche nach Abhörgeräten und versteckten Kameras.«

Die Levinsohn verzog amüsiert das Gesicht. »Meinen Sie, dass hinter der Lampe so ein Kasten versteckt sein könnte?« Dabei zeigten ihre Hände die Größe eines Gegenstandes mit den Ausmaßen einer Kühltruhe an. »Und Kameras?«, gab sie lachend von sich, »ich habe die einzige Kamera des Reiches im Labor gesehen, die war so groß wie dieses Zimmer.«

Hammerstain zog sich die Krawatte wieder fest. »Na fein«, sagte er trocken, »dann haben wir ja nichts zu befürchten.«

Er sorgte dafür, dass alle verdächtigen Tücher und Kleidungsstücke in den großen Behältern verschwanden, die Fräulein Levinsohn als Überseekoffer bezeichnete und die für Florian eher wirkten wie mit bunten Hotelaufklebern verzierte Wohncontainer.

Fräulein Levinsohn ließ sich in einen der tiefen Polstersessel fallen und bewegte die Zehen.

»Und nun?«, fragte sie wieder und meinte offensichtlich nicht ihre rot lackierten Zehennägel.

Hammerstain warf sich in seinen Sessel.

»Erstens – wir müssen in dem Fall mit dem Mord weiterkommen«, sagte er.

»Es wäre schon ein Fortschritt, wenn wir wüssten, warum Sie sich dafür interessieren«, warf die Levinsohn ein.

»Zweitens«, fuhr Hammerstain fort und blickte über die zusammengelegten Fingerspitzen zur Decke, »ist da das Problem mit Zucker. Der will mir offensichtlich eine Gedächtnislücke verordnen. Oder dafür sorgen, dass ich mich nie mehr an irgendetwas erinnern kann. Hat das etwas mit dem Mord bei dem Einbruch zu tun? Oder mit den sechs Toten in der Garage?«

Nach einer Weile seufzte die Levinsohn und sagte: »Unsere Theorie war, dass Zucker das Massaker angeordnet hat, weil er das Geschäft mit den Waffen selbst machen will. Also lässt er die Konkurrenz samt dem osmanischen Unterhändler umbringen. Wenn der Sultan die Waffen wirklich braucht, kommt ein neuer Unterhändler. Und dann steht Zucker parat.«

»Und weil Zucker einen Finanzier für den Handel braucht, sich aber nicht an eine größere Bank wenden kann, kommt Armin Steingold ins Spiel.«

»Die Bank hatte schon einige Male finanzielle Probleme, das war in den Wirtschaftsnachrichten zu lesen. Nichts Schwerwiegendes, aber eben doch Probleme. Das ist also genau die Bank, die Zucker braucht – klein und in einer Position, wo sich die Leitung keine übermäßigen moralischen Skrupel oder neugierige Nachfragen leisten kann«, führte die Levinsohn die Überlegungen weiter. »Darum habe ich genau diese Bank ausgesucht. Außerdem ist der echte Armin Steingold samt Gattin in Shanghai und wird in den nächsten Wochen nicht zurückkehren. Allerdings sollte diese Reise geheim bleiben. Selbst mein Bruder hat davon nur zufällig und hintenrum erfahren. Deswegen wird sich keiner über die Verdoppelung wundern, wenn wir hier den Köder spielen und warten, ob sich Zucker meldet.«

»Wenn er von uns zwei Hübschen weiß.«

»Alfred Zucker weiß alles in dieser Stadt, darauf können Sie Gift nehmen«, erklärte Fräulein Levinsohn. Ihre Stimme hatte einen seltsam metallischen Klang, als sie das sagte. »Wenn er nach einem Finanzier sucht, dann wird er innerhalb von wenigen Tagen wissen, wer wann wo abgestiegen ist. Ich bin sicher, dass seine Leute routinemäßig die Anmeldungen der großen Hotels prüfen. Das geht ganz automatisch. Da werden Hotelpagen dafür bezahlt, dass sie mal einen Blick in die Anmeldelisten werfen. Es könnte ja jemand sein, der den Klatschreporter interessiert. Und der Klatschreporter ist natürlich auf der Lohnliste von Zucker und gibt seinerseits die Namen weiter, aber nicht an Zucker, sondern vielleicht an einen Mitarbeiter eines Filmstudios, das Aufnahmen für die aktuellen Nachrichtensendungen in den Lichtspielhäusern macht und auch gerne Prominente zeigt. Und so weiter und so fort. Niemals fällt der Name Zucker, bis Zucker selbst die wichtigen Namen auf dem Schreibtisch hat.«

»Das klingt so, als wäre Zucker sein eigener Geheimdienst.«

Fräulein Levinsohn warf Hammerstain einen schnellen Blick unter gerunzelten Brauen zu. So als wäre »Geheimdienst« ein Stichwort, auf das sie eine Reaktion erwartete.

Als die nicht kam, hob sie nur die Schultern. »Er hat Einfluss in Berlin. Offiziell als Geschäftsmann und inoffiziell … na ja. Wir sollten abwarten, im Zimmer bleiben und uns ruhig verhalten.«

Kurze Zeit später betrat Florian die Straße. Er hatte sich einen falschen Bart angeklebt, trug eine runde Sonnenbrille, eine Sportmütze und war auch sonst gekleidet wie ein Zuschauer, der einem bedeutenden Wettkampf zustrebt. Florian kam sich in den Knickerbockern und dem gestreiften Jackett ziemlich lächerlich vor, aber Fräulein Levinsohn hatte behauptet, die Verkleidung wäre perfekt und nicht einmal seine eigene Mutter würde ihn darin erkennen.

Der Gedanke an seine Mutter hatte Florian ein weiteres Mal in Panik versetzt. Er konnte sich nicht an sie erinnern, da war lediglich ein schemenhaftes Bild, von dem er nicht einmal wusste, ob es eine Erinnerung war oder ob sich irgendeine Fotografie an diese Stelle geschmuggelt hatte.

Er ließ sich von dem Strom der Passanten weitertreiben. Er wusste, dass er in dieser Stadt lebte, er musste sich in ihr auskennen und kam sich dennoch wie ein völlig Fremder vor. Er hatte diesen Körper, diesen Namen, dieses Leben. Das alles schien zu stimmen, aber er selbst stimmte nicht. Aus irgendeinem Grund stimmte er nicht und fühlte sich fremd, hilflos und bedroht.

Florian trottete immer weiter, setzte sich einige Male auf eine der gusseisernen Bänke, die vor kleinen Rasenflächen standen, und dachte nach. Dabei behielt er seine Umgebung immer im Blick. Er musste vorsichtig sein, soviel war auf jeden Fall klar.

Er musste auf seine Intuition hören, diese Gewissheit lag in seinen Gedanken, als hätte sie jemand dort fest verankert.

Florian stand auf. Er blickte an sich herunter und erschrak beinahe über den Anblick der weißen Schuhe und der hellen Strümpfe, die die Waden bedeckten. Aber offensichtlich war er der Einzige weit und breit, der diesen Anblick seltsam fand, denn die Passanten eilten an ihm vorbei, ohne ihm auch nur einen Blick zu gönnen.

Florian blickte auf die nächste Straßenbahnhaltestelle. Gerade heulte ein Zug der Linie 41 heran und bremste quietschend. Erst als er in einem der drei Anhängewagen stand und sich an der Halteschlaufe festklammerte, während die Bahn scharf beschleunigte, registrierte Florian, was er getan hatte. Er zahlte beim Schaffner und schaute dann aus dem Fenster. Die Bahn tauchte in eine Straße ein, die durch die hohe Bebauung schluchtartig wirkte, obwohl vier Fahrbahnen Platz zwischen den Fassaden fanden.

Die Lüftung arbeitete mit aller Kraft und Lautstärke, dennoch war es im Wagen stickig. Die Straße machte einen Bogen, aus den Querstraßen fiel grelles Sonnenlicht und hackte beilartig in die dunklere Hauptstraße.

Florian stieg aus, eigentlich bemerkte er, dass er sich in Bewegung setzte und absprang. Draußen wandte er sich in Richtung einer Nebenstraße und schlenderte an den Häusern entlang.

Die Gegend veränderte sich mehr und mehr. An den Fassaden waren weniger Verzierungen zu sehen, die Häuser ragten schließlich hoch und schmucklos auf wie Industriegebäude.

Oft war Putz abgeblättert, Toreinfahrten führten auf Innenhöfe, hinter denen weitere Innenhöfe lagen. Von dort hörte man das Geschrei von Kindern und die Stimmen Erwachsener. Immer wieder wurden die Reihen der Wohnhäuser durch Fabrikhallen unterbrochen. Hinter hohen Mauern, die mit Glasscherben bekrönt waren, stampften und summten große Maschinen. Schornsteine reckten sich in die Höhe, Kühltürme ließen ihren Dampf bis auf die Straße sinken und gaben dem Kopfsteinpflaster eine dunklere, feuchte Färbung.

Schranken senkten sich zum Scheppern von Signalklingeln, dann schleppten fauchende Dampfloks Güterwagen über die Straßen, heraus und wieder hinein in ein gegenüberliegendes Fabriktor oder gewaltige, dröhnende Dieselloks zerrten Spezialwagen, unter deren schweren Eisendeckeln das rote Glühen von flüssigem Metall erkennbar war. Über den Deckeln tanzte die Luft vor Hitze. Ein durchdringender Geruch von Metall und Schwefel stach in die Nase.

Wenn die Schranken klingelnd hochfuhren, dröhnten die Motoren der Lastzüge und wenige Augenblicke später rumpelten und hüpften die Anhänger über die Gleise.

Florian folgten einigen kleineren Querstraßen, in denen das Summen der Fabriken nur noch leise zu hören war und fand sich schließlich vor dem Eingang einer Kellerkneipe. Zur letzten Runde stand auf dem Schild über dem Eingang. Neben der Tür waren einige kleinere Messingschilder angebracht. Stammlokal stand jeweils oben auf dem Schild, darunter Faustfecht-Verein Berlin-Mitte von 1756 und Ähnliches. Ohne Frage war dieses Lokal vor allem bei denen beliebt, die sich für den Faustkampf und das Ringen begeisterten.

Am Kopf der Treppe überkam Florian ein Schwindel. Was wollte er hier? Er wusste es nicht, genauso wenig wie er wusste, wie er überhaupt an diesen Ort gekommen war.

Es war sinnlos, über solche Fragen nachzudenken. Er musste einfach nur die Treppe hinuntergehen. Das tat Florian, stieß die Schwingtür auf und betrat das Lokal.

Er ging zum Tresen und bestellte ein Wasser, was der Wirt mit unzufriedenem Grunzen beantwortete.

»Magenprobleme?«, fragte er, während er die Flasche öffnete und neben das Glas stellte.

»Bin im Training«, behauptete Florian. Er füllte sein Glas und schaute sich um. Der Raum war mit runden Tischen gefüllt, an denen vier oder mehr Stühle standen. Hinten in der Ecke war ein größerer Tisch, auf dem eine Fahne mit Stammtisch-Aufschrift stand.

Die Wände waren mit Fotografien übersät, meistens Boxer in eingefrorenen Kampf-Posen von deutlicher Aggressivität oder Ringer, die breitbeinig und herausfordernd die Hände in die Hüften stemmten. Es waren nur wenige Gäste da, die sich auf die verschiedenen Tische verteilten. Allerdings gab es neben dem Zugang zu den Toiletten eine weitere Tür. Und die schien zu weiteren Räumen zu führen, denn immer wieder trat jemand aus dieser Tür und verschwand dann sofort aus der Kneipe. Ebenso betraten andere Männer den Schankraum, durchquerten ihn mit einem kurzen Blick auf den Wirt und verschwanden durch diese Tür.

Florian hatte den anderen Mann gar nicht bemerkt, der wohl schon eine Weile neben ihm am Tresen stand. Oder weniger stand als lungerte, mit dem Oberkörper fast auf der Marmorplatte des Tresen. Es war nicht zu erkennen, ob der Mann durch diese Position lässig wirken wollte oder ob er einfach Halt brauchte. Auf jeden Fall registrierte Florian ein Unbehagen, irgendeine nicht in Worte zu fassende Vorsicht beim Anblick dieses Mannes. Er kannte den Kerl, von irgendwo kannte er ihn, aber es war wahrscheinlich vergeblich, in der Erinnerung zu wühlen.

Der Mann jedenfalls starrte Florian an, nahm einen hastigen Schluck aus seinem Bierglas, schob es weg und starrte weiter auf sein Gegenüber.

Der Kerl hatte wahrscheinlich nie zu den Boxern gehört. Und wenn, dann hatte er den Prügelknaben im Ring gegeben. Jetzt war er vielleicht Mitte dreißig, lang und dürr wie eine Bohnenstange. Entsprechend war das Gesicht, schmal, faltig und unter den Falten waren die Knochen erkennbar. Lediglich die Nase war zu platt, um in das Bild zu passen, sicherlich hatte der Einschlag eines gut gezielten und sehr kräftigen Faustschlags ihre naturgegebene Form verändert. Der Mann trug einen hellen Sommeranzug, einen steifen Kragen und eine Krawatte. Aus drei oder vier Schritten Entfernung hätte er recht elegant gewirkt. Aber Florian war nahe genug, um den verschlissenen Stoff an den Ärmeln und die Flecken auf dem Hemd zu bemerken. Der Mann kniff die Augen zusammen und starrte Florian geradezu unverschämt direkt an.

»Du bist Hammerstain«, stellte er dann fest. Aus seiner Stimme klang Zufriedenheit, als wäre mit dieser Feststellung eine gute Benotung verbunden.

»Ist das so«, sagte Florian ruhig.

Der Mann schnaufte unzufrieden, seine platt geschlagene Nase ließ den Atem nur pfeifend austreten.

»Ich bin ziemlich sicher«, versicherte der Mann, »ziemlich.«

»Wer ist Hammerstain?«, fragte Florian.

»Hör auf, meine Gäste zu belästigen, Max«, mischte sich der Wirt ein.

Max winkte ab. »Ich will doch nur nett sein«, behauptete er.

»Wer ist Hammerstain?«, wiederholte Florian.

»Er ist nicht Hammerstain«, erklärte der Wirt entschieden, »als er reinkam, dachte ich, ´schau an, Silwester Hammerstain ist wieder auf Pirsch`, aber die Art, wie er sich bewegt – das kann man nicht ändern und dieser Herr bewegt sich nicht wie Hammerstain.«

»Nachdem das geklärt wäre, wüsste ich jetzt doch gerne, wer ich nicht bin«, erklärte Hammerstain sarkastisch.

Max zuckte zusammen und glotzte Florian erneut an. Für einen Moment schien es so, als wollte er an dem falschen Bart oder dem falschen Haarteil ziehen, die Fräulein Levinsohn sorgfältig befestigt hatte.

»Die Stimme klingt aber gleich«, grunzte Max, »allerdings würde Hammerstain wahrscheinlich Vergiftungserscheinungen haben, wenn er Mineralwasser trinken sollte.«

»Muss ich mich grämen, dass ich es nicht bin?«, fragte Florian.

Die beiden anderen kicherten.

»Eher nein. Silwester Hammerstain hatte seine höchsten Beliebtheitswerte, als er für eine ganze Weile verschwunden war. Ist sowieso ein seltsamer Typ. Also, was suchen Sie hier, Herr Nicht-Silwester Hammerstain?«

Die Frage klang freundlich, aber Florian spürte deutlich den Unterton von Bedrohung. Er spürte, wie ihm der Schweiß aus den Poren trat. Er wollte sich die feuchte Stirn wischen, zögerte aber, weil damit vielleicht die Schminke über der Narbe verschwinden würde.

Hammerstain lehnte sich an den Tresen und hob das Glas.

»Eine Erfrischung ist kein ausreichender Grund?«

Max trank sein Glas leer und schob es dem Wirt zu, der es sofort wieder füllte.

»Es ist so«, erklärte der Wirt dann, »dass wir meistens Stammgäste haben. Oder neue Gäste, die wegen irgendwas kommen.« Es war deutlich, dass der Wirt die Situation entspannen wollte. Er witterte Ärger und den konnte er in seinem Haus nicht brauchen.

Florian nippte an seinem Wasser. Die beiden Männer kauften ihm seine Verkleidung nicht ab. Oder genauer, sie mussten sie ihm abkaufen, aber waren deswegen unsicher und erbost. Er brauchte irgendeine Antwort, irgendeinen Satz, um hier wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Intuition.

»Nun ja, ich suche einen Tipp«, sagte Florian dann lässig.

»Wer sagt Ihnen, dass dies der richtige Ort dafür ist?«

Hammerstain zog ironisch die Brauen hoch. »Ja, wer mag so etwas tun? Sicherlich jemand, der mir Zeit stehlen will.«

Er trank sein Glas leer und wandte sich zur Tür.

Im nächsten Moment war Max neben ihm. Florian roch den Mann, eine Mischung aus Schweiß, Bier und etwas anderem. Vielleicht war es Gier.

»Wie wäre es mit einem Bier?«, fragte Max, »setzen wir uns hinten in die Ecke und reden ein wenig miteinander.«

Florian blieb bei Mineralwasser. Jetzt erklärte er allerdings, dass er sich die Magenwände mit irgendeinem russischen Zeug verätzt hätte und deshalb vorsichtig sein müsste.

Max kicherte verständnisvoll. Er suchte in seinen Taschen, kramte ein silbernes Zigarettenetui heraus und ließ den Deckel hochklappen. Die krumpeligen Selbstgedrehten passten zu dem Etui wie Hyänen in einen Reitstall. Bevor Florian die Widmung im Inneren des Deckels lesen konnte, hatte er schon den Kopf geschüttelt. Zu früh, denn nun zog Max das Etui weg. Entweder es war gestohlen oder Max hatte schon wesentlich bessere Tage erlebt. Jetzt steckte er sich den Glimmstängel zwischen die schmalen Lippen, schnippte ein schweres Feuerzeug an und sog dann gierig den Rauch ein. Seine Wangen schienen sich auf den Innenseiten beinahe zu berühren, Florian konnte erkennen, dass Max links oben einige Zähne fehlten.

Max schüttelte den Kopf. »Eben habe ich es noch nicht geglaubt. Aber Hammerstain, der nicht raucht – gibt es nicht.«

Er lachte, wie über einen besonders guten Witz, dann beugte er sich über den Tisch. Es war unangenehm, dieses schmale Gesicht in der Nähe zu haben. Und Max´ Flüstern war völlig überflüssig, der kindische Versuch, dramatisch zu wirken, da nirgendwo Lauscher waren. Aber es gehörte wohl zum Spiel.

»Also, was für Tipps?«, begann Max.

»Tipps, die sich lohnen.«

»Willst du an deiner Wasserrechnung sparen oder so?«

»Sagen wir, ich würde vielleicht ein wenig Moos bei einer Wette riskieren«, sagte Hammerstain.

Max verzog zufrieden das Gesicht. »So etwas gibt es nicht umsonst.«

»Nichts gibt es umsonst.«

»Doch, Schläge, Stiche und Kugeln, aber die können dir das Leben kosten«, kicherte Max, »also, was lässt du springen – für den Fall, dass ich einen weiß, der was weiß?«

Florian öffnete den Mund, aber nur um zu stottern. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Er ahnte die Gefahr, jetzt musste er zeigen, dass er sich auskannte. Die Summe durfte weder zu hoch noch zu niedrig sein. Aber dann hörte er, wie eine Stimme, eine Stimme, die seine Stimme war, eine Zahl nannte.

Max tat so, als müsste er überlegen, aber das war offensichtlich nur eine Art Schauspiel.

»Einverstanden«, sagte Max dann, »aber du bezahlst auch meinen Deckel hier.«

Florian konnte sich schon ausmalen, was Sara Levinsohn ihm an Kommentaren um die Ohren hauen würde, trotzdem zahlte er die beträchtliche Rechnung. Der Wirt grinste ihn an. »Zumindest ich kann mich schon als Sieger fühlen.«

»Ich liebe es, Menschen glücklich zu machen«, grunzte Hammerstain und ging. Draußen drückte er Max einen Geldschein in die Hand. Flüchtig bemerkte Florian, dass das Porträt eines bärtigen Mannes den Schein zierte. In verschnörkelter Schrift war unter dem Bild die Schrift Seine kaiserliche und königliche Majestät, Franz Wilhelm II. zu erkennen, dann grapschte Max schon zu. Seine schwitzige knochige Hand zerknüllte das Papier und stopfte es in die Hosentasche. »Immer im Abstand hinter mir«, flüsterte er dann.

Florian wartete nur darauf, dass Max bei der nächsten Gelegenheit in irgendeinem Hinterhof verschwinden und nie wieder auftauchen würde. Stattdessen schlenderte der dünne Mann, die Hände in die Taschen seiner Hosen gerammt, langsam über den Gehweg. Dabei pfiff er irgendeinen Gassenhauer und wirkte wie jemand, der nach einem ausführlichen Abendschoppen in der Stammkneipe auf dem Heimweg war.

Tatsächlich wirkte Max so unverdächtig, dass er auf jeden Beobachter sofort verdächtig wirken musste.

Er führte Florian durch einige Straßen, die immer enger und schluchtartiger wurden. Im Erdgeschoss der Häuser waren kleine Läden, Lebensmittelhandlungen, Läden für Milchprodukte oder Haushaltswaren, Schneidereien, Kneipen und Gaststätten.