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Der Marone – Wohin zuerst?

der-marone-drittes-buchThomas Mayne Reid
Der Marone – Drittes Buch
Kapitel 4

Wohin zuerst?

Nachdem der Marone die Höhe der Felsenwand erstiegen hatte, hielt er einige Augenblicke an, um darüber nachzudenken, was er tun solle.

Seine Brust durchwogten mancherlei neue Empfindungen und Gefühle, die aus den soeben erst gemachten merkwürdigen Entdeckungen entsprangen. Sein Geist war dabei in einem solchen aufgeregten Zustand und seine Gedanken so verwirrt, dass er wirklich einiger Zeit bedurfte, um sich zu entschließen, was er zunächst tun und wohin er zuerst gehen solle.

Der ihn am meisten erfüllende Gedanke war die Entdeckung seiner mütterlichen Verwandtschaft mit Fräulein Vaughan. Doch dies, wie tief es ihn auch berührte, erforderte kein unverzügliches Handeln von seiner Seite. Obwohl die nun zum ersten Mal empfundene brüderliche Zuneigung die romantische Freundschaft noch bedeutend verstärkte, die er für die junge, in der letzten Zeit zuweilen gesehene Dame fühlte, so schien nach allem, was er von den Anschlägen der beiden in dem Teufelsloch Beratenden gehört hatte, seine neue Schwester sich doch in keiner eigentlichen Gefahr zu befinden, wenigstens nicht für den Augenblick, wenn auch für die Zukunft einige von Chakra in schrecklicher Weise ausgestoßene und auf entsetzliches hindeutende Worte die Möglichkeit einer drohenden Gefahr befürchten ließen.

Dagegen konnte Cubina durchaus nicht daran zweifeln, dass ihr Vater sich in wirklicher Gefahr befinde und dass gegen den Custos ein teuflischer Anschlag vorbereitet werde, der ihn sogar des Lebens berauben sollte. Ja, nach dem, was der Marone aus der nur halb gehörten Unterredung vernehmen konnte, sollte dieser Anschlag bereits am nächstfolgenden Morgen ins Werk gesetzt werden.

Herr Vaughan beabsichtigte eine längere Reise.

Dies hatte Yola ihm selbst erzählt und war durch das belauschte Gespräch zwischen Jessuron und Chakra bestätigt worden. Cynthia hatte sie davon benachrichtigt und war deshalb in der letzten Nacht eigens von Willkommenberg zu Chakra gekommen. Die von ihr überbrachte Neuigkeit hatte die beiden gegen den Custos Verbündeten außerordentlich in Verwunderung gesetzt und sie bewogen, den bis zu jener Nacht noch nicht reifen Anschlag so schnell wie möglich auszuführen.

Das alles lag vor dem Geist des Maronen vollkommen klar und deutlich.

Ebenso klar war es auch, dass der abscheuliche Anschlag in der Ermordung des Eigentümers von Willkommenberg bestand und als sichere geräuschlose Waffe Gift angewandt werden sollte, denn Cubina verstand die eigentliche Bedeutung von Obiahs Totenzauber ganz gut. Schon vor dieser Nacht hatte er bereits hinlängliche Gründe, um zu argwöhnen, dass sein eigener Vater in solcher geheimnisvollen Weise umgekommen und dass Chakra hierbei beteiligt war. Das, was er soeben gehört hatte, musste seinen Argwohn zur festen Überzeugung erheben. Nur die Notwendigkeit, so schnell als möglich zur Rettung des bedrohten Custos zu eilen, sowie die Gewissheit, Chakra zu jeder Zeit auffinden zu können, hielten ihn ab, seines Vaters Tod nicht sofort noch vor dem Verlassen des Teufelslochs zu rächen.

Der junge Marone war von sanftem Charakter, der Klugheit mit Kaltblütigkeit verband, was ihn abhielt, irgendetwas zu unternehmen, was möglicherweise nicht ganz zu Ende geführt werden könnte. Deshalb schob er die an Chakra zu nehmende Rache einstweilen auf, war aber fest entschlossen, sie bald auszuführen. Die Wiederbelebung des Myalmannes, so überraschend und erstaunlich sie ihm auch zuerst gewesen war, hatte doch schon längst aufgehört, für den Maronen geheimnisvoll oder gar unbegreiflich zu sein, da die Gegenwart des Juden ihm dieses Wunder sofort erklärlich gemacht hatte. Cubina nahm nämlich vollkommen richtig an, dass Jessuron den verurteilten Verbrecher von seinen Ketten befreit und den Körper eines anderen toten Schwarzen untergeschoben habe, um später für Chakras Skelett gehalten zu werden.

Zu dieser Tat hatte der wegen seiner Bosheit und Hinterlist wohlbekannte Jessuron gewiss seine bestimmten Gründe gehabt. Der Marone konnte sich aber jetzt nicht damit aufhalten, weiter über sie nachzudenken, denn seine Gedanken waren viel mehr auf die Gegenwart und Zukunft gerichtet, als auf die Vergangenheit, vor allem auf die dem Custos zu bringende Hilfe, denn dieser schien von einem fürchterlichen Geschick bedroht zu sein.

Unleugbar fühlte Cubina eine gewisse Freundschaft für den Pflanzer von Willkommenberg. Freilich war diese bisher gerade nicht sehr groß gewesen. Allein die kürzlich zwischen ihm und dem Custos entstandenen Beziehungen in Voraussicht des gegen ihren gemeinschaftlichen Feind, den Koppelhalter, zu führenden Prozesses hatte bei ihnen höchst freundschaftliche Gefühle erweckt.

Die merkwürdigen Entdeckungen der letzten Nacht hatten das Interesse des Maronen für Herrn Vaughan noch bedeutend vergrößert. Deshalb kann es gewiss nicht seltsam erscheinen, dass er jetzt sehnlich wünschte, den Vater derjenigen zu retten, die er fortan als seine eigene Schwester betrachten durfte. Darum waren alle seine Gedanken nun einzig auf die unverzügliche Rettung des Custos gerichtet.

Über die Beweggründe sowohl Chakras als auch Jessurons dachte er jetzt auch nicht lange nach. Die des Myalmannes lagen freilich klar vor Augen: Rache für den Richterspruch, der ihn zu dem schrecklichen Los auf dem Jumbéfelsen verurteilt hatte. Die eigentlichen Beweggründe von Jessuron waren dagegen viel unklarer. Sie hatten sich in dem von Cubina belauschten Gespräch durchaus nicht enthüllt. Selbst Chakra schien sie nicht zu kennen. Vielleicht mochte es Furcht vor dem künftigen Prozess sein, von dem der Koppelhalter bereits etwas erfahren haben konnte.

Doch nein, bei weiterer Überlegung begriff Cubina, dass es dies nicht sein konnte, denn die Unterredung der beiden hatte deutlich gezeigt, dass ihr abscheulichen Anschlag schon früher bestand, als der Jude irgendeine Nachricht über die Absichten des Custos haben konnte. Das konnte es also nicht sein.

Darauf kam es jetzt auch gar nicht an. Herr Vaughan, der Vater der hochherzigen jungen Dame, die versprochen hatte, ihm ein Geschenk mit seiner heiß geliebten Braut zu machen, und die jetzt erwiesener Maßen sogar seine Stiefschwester war, dieser von der Tochter geliebte Vater war in äußerster Gefahr!

Hier war kein Augenblick zu verlieren, hier mussten sofort Maßregeln ergriffen werden, um die Gefahr zu entfernen und die darin verwickelten Bösewichte zu bestrafen.

Sollte er geradezu nach Willkommenberg gehen, den Custos warnen und ihm alles erzählen, was er gesehen und gehört hatte?

Das war der erste ihn erfüllende Gedanke, allein um diese Zeit würde Herr Vaughan im Bett und wahrscheinlich wenig aufgelegt sein, ihn, den armen Maronen, zu empfangen, wenn er nicht sofort die unaufschiebbare Dringlichkeit seiner Mitteilungen dartun könnte.

Dennoch hätte er dieses zweifelsohne getan, hätte er gewusst, dass der Plan der beiden zum Verderben des Custos Verbündeten bereits ganz bestimmt festgesetzt war und nur die letzte Ausführung erwarte. Allein er hatte, wie früher erwähnt, Chakras letzten Worte, die sich auf Cynthia und die Flasche mit der starken Medizin bezogen, gar nicht gehört, und alles klebrige, was sie sprachen, hatte nur im Allgemeinen darauf hingedeutet, Maßregeln zu ergreifen, um die Reise nach Spanischstadt zu verhindern.

Es würde noch Zeit genug sein, dachte er, diese Maßregeln wirksam zu durchkreuzen, wenn er früh am Morgen nach Willkommenberg ginge. Dort konnte er anlangen, bevor Herr Vaughan auf die Reise ginge, um eine ganz frühe Tageszeit, aber doch nicht so früh, dass sein Erscheinen etwas besonders Auffallendes hatte.

Leider fiel es ihm nicht ein, dass die Abreise von Willkommenberg, die Cubina nicht erfahren hatte, noch früher als seine Ankunft dort stattfinden könnte. Der Marone glaubte, dass der große Custos sich wohl schwerlich mit der Ungelegenheit des Frühaufstehens belästigen würde, und dachte deshalb gar nicht daran, dass es möglich sei, ihn zu verfehlen, selbst wenn er auch ein wenig später kommen würde.

Im Vertrauen hierauf beschloss er jetzt, seinen Besuch zu Willkommenberg bis nach Sonnenaufgang aufzuschieben und mittlerweile noch einen anderen Plan auszuführen, der schon am Tag zuvor verabredet worden war.

Dieser Plan war eine Zusammenkunft mit Herbert Vaughan, die am folgenden Morgen und zwar an derselben Stelle stattfinden sollte, wo die beiden jungen Männer sich zuerst kennengelernt hatten, auf der Lichtung unter der großen Ceiba.

Die Zusammenkunft war von Herbert nachgesucht worden, denn obwohl seit dem Tag, wo damals der Flüchtling eingefangen wurde, keiner den anderen wieder gesehen hatte, so waren sie doch immer in Kontakt und im Einverständnis geblieben, wobei Quaco den Vermittler gemacht hatte.

Herbert wünschte eine Zusammenkunft mit Cubina, um von ihm vielleicht etwas Näheres über mehrere Umstände zu erfahren, die ihn in jüngster Zeit beunruhigt und verwirrt hatten.

Seines jetzigen Gönners sonderbare und verdächtige Erzählung von dem roten Flüchtling war einer dieser Umstände, denn Herbert hatte von Quaco gehört, dass dieser flüchtige Sklave sich noch immer bei den Maronen in ihrer Gebirgsstadt aufhalte, dass er ganz in ihre Gemeinschaft aufgenommen und tatsächlich selbst ein Marone geworden sei.

Dies stimmte nun gar nicht mit der von Jessuron gegebenen Auskunft überein. Quaco vermochte nichts über diese Angelegenheit zu erzählen, denn Cubina, der dem Custos Verschwiegenheit gelobt hatte, sprach nie davon und seine Leute kannten durchaus die Absichten ihres Hauptmanns gegen den Juden nicht.

Das war jetzt nicht das Einzige, was dem jungen Engländer geheimnisvoll und rätselhaft erschien und dessen Aufklärung er von Cubina wünschte. Seine eigene Stellung auf dem Hof des Koppelhalters war ihm in letzter Zeit sonderbar vorgekommen, hatte ihn stutzend gemacht und bedurfte einiger Erläuterung. Es war aber niemand vorhanden, von dem er etwas hierüber zu erfragen vermochte, und doch hatte er noch niemals einen Vertrauten nötiger gehabt, als gerade jetzt.

In dieser Verlegenheit hatte er an seinen alten Bekannten, den Maronenhauptmann gedacht, der ihm ganz der rechte Mann zu sein schien, um alles mit scharfem Blick zu durchschauen. Herbert erinnerte sich des beim Abschied von dem Maronen gemachten Versprechen wie seiner eigenen Annahme desselben, das nun wahrhaft prophetisch werden sollte, da das damals vorhergesehene Ereignis nun wirklich eingetreten war, denn er war jetzt tatsächlich eines aufrichtigen Freundes bedürftig. Deshalb hatte er dem Maronen den Vorschlag machen lassen, unter der Ceiba mit ihm zusammenzukommen.

Dieser war in derselben Weise begierig, mit dem jungen Engländer zusammenzutreffen. Er hatte dessen hochherzige Dazwischenkunft in einem ihm ungleich erscheinenden Kampf keineswegs vergessen und ihn fortwährend im Auge behalten, um ihm gelegentlich sein Dankgefühl bestätigen zu können.

Da nun die Nacht fast schon vorüber war und der Anbruch des Morgens herannahte, entschloss sich der Marone, zuerst zu der Lichtung zurückzukehren, wo er kurze Zeit zuvor mit seiner geliebten Yola so glücklich gewesen war, und hier die kurze Zeit bis zum wirklichen Morgen unter der großen Ceiba zu verbringen.

Nach diesem Entschluss hielt er sich beim Teufelsloch nicht länger auf, sondern wandte sich zu der Lichtung, wo er mit Herbert Vaughan zusammenkommen wollte. Langsam stieg er den Bergpfad hinunter, denn Eile war jetzt nicht erforderlich, da es noch einige Stunden dauern würde, bis der junge Engländer in der Lichtung erscheinen würde. Ein wenig nach Sonnenaufgang sollte die Zusammenkunft stattfinden, so war es durch Quaco verabredet worden.

Die noch übrige Zeit zu verschlafen, fühlte, der Marone durchaus keine Neigung. Wilde Gedanken, die Folge all der merkwürdigen, ihn überraschenden Enthüllungen, die er diese Nacht gehört hatte, stürmten durch seine Seele und hatten ihm längst jede Lust zu schlafen geraubt.

Als Cubina die Lichtung erreichte, war sein Erstes, ein Feuer anzuzünden, denn er wollte nun doch nicht in den nassen Kleidern verweilen, von denen kein Faden nach dem Schwimmen durch den See im Teufelsloch trocken geblieben war. Sonst hätte er wohl kein Feuer nötig gehabt, denn zu kochen war nichts da und hungrig war er auch nicht.

Des Waidmanns Gewandtheit hatte bald ein Feuer hergestellt und der Jäger stellte sich dicht daran, indem er sich von Zeit zu Zeit umwandte, um auf diese Weise seine noch vom Wasser fast triefenden Kleider zu trocknen. Bald dampfte und rauchte er am ganzen Leib, und um die Zeit doch etwas angenehmer zu vollbringen, begann er noch in anderer Weise zu rauchen, nämlich aus seiner Tabakpfeife.

Vielleicht mochte der belebende Geist des Tabakrauches auf seine Geisteskräfte besonders wirken, denn kaum hatte er etwa ein Dutzend Züge aus der Pfeife getan, als eine plötzliche und hastige Bewegung anzeigte, dass ihm irgendein besonderer und neuer Gedanke eingefallen sein müsse. Gleichzeitig mit dieser Bewegung begann ein leises Selbstgespräch.

»Carambo!«, sagte er, seinen Lieblingsausruf gebrauchend, »er will erst eine Stunde nach Sonnenaufgang hier sein und dann kann ich erst nach Willkommenberg gehen! Por Dios! Das möchte am Ende zu spät werden! Wer kann wissen, um welche Zeit der Custos abreisen will? Daran dachte ich noch gar nicht! Wie dumm von mir, Yola nicht gefragt zu haben!«

»Carambo!«, rief er wiederum nach einigen in schweigendem Nachdenken verbrachten Augenblicken aus. »Man darf nichts dem Zufall überlassen, wo ein Menschenleben in Gefahr ist! Wer weiß, was diese Schelme für einen Plan haben? Ich konnte ja nicht all ihr Geschwätz hören. Wenn nur der junge Herr Vaughan hier wäre, wir würden sogleich nach Willkommenberg gehen. Was er auch immer für einen Streit mit seinem Onkel gehabt haben mag, ermorden würde er ihn gewiss nicht lassen. Übrigens würde seine Dazwischenkunft bei einer solchen Gelegenheit, wenn ich mich nicht täusche, bald jedes Missverständnis beseitigen, und das würde ich wahrhaftig sehr gern sehen, sowohl seinetwegen als, auch ihretwegen – ach, vorzüglich, ihretwegen, nach dem, was Yola mir gesagt hat. Santa Virgen! Würde das nicht eine bittere Täuschung für den alten Judenhund sein? Aber was macht das aus! Ich will ihm doch einen Funken ins Pulver werfen, bevor er wenige Tage älter ist! Doch der junge Engländer muss alles wissen, ich will ihm alles erzählen! Und wenn er dann noch daran denken kann, der Schwiegersohn des Jakob Jessuron zu werden, dann ist er ein ausgemachtes Schw… Doch nein, das kann nicht sein! Ich kann es nicht glauben, bis er es mir selbst gesagt hat. Und dann – Por Dios!«, rief er aus, unterbrach den bisherigen Gedankengang und ging zu einem anderen über. »Hier darf ich durchaus nicht warten, bis er kommt! Zwei Stunden nach Sonnenaufgang, und der Custos mag bereits tot sein! Ich will hinuntergehen zum Hof des Jessuron und zusehen, dass ich den Herrn Vaughan in irgendeiner Weise zu sprechen bekomme. Gegen Tagesanbruch wird er wohl aufstehen und das wird mir ungefähr eine Stunde ersparen. Ein Wort nur mit ihm, und dann werden wir bald zusammen nach Willkommenberg gehen.«

Dieser Eingebung folgend und ohne sich damit aufzuhalten, seine Kleider erst trocknen zu lassen, verließ der Marone sofort die Waldlichtung, wandte sich zu einem nur wenig besuchten Pfad, der in das Glückliche Tal hinführte und eilte auf diesem ungesäumt hinweg.