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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Freibeuter – Norcroß in Stockholm

Der-Freibeuter-Dritter-TeilDer Freibeuter
Dritter Teil
Kapitel 5

Flaxmann lag auf einer vom Frühling geschmückten, das Meer beherrschenden Anhöhe im Schatten einer Rüster.

»Warum kann ich nicht in diesem Paradies bleiben? Hier leben und sterben? Warum muss ich zurück in den Brodem, der mich wie Pesthauch anqualmt und mich krank macht? Ach, es bleibt nicht immer Frühling! Es ist auch ein Winter. Es gibt auch Eis für das Herz. Ich muss auch die Stunden der Kälte ertragen. Die schwarzbeflügelten Geister der Erdenwünsche kommen auch in meine Seele und rauben ihr Farbe und Glanz. Aber fort mit allen törichten Plänen! Ich will nichts von der treulosen Menschenbrut. Auch die Liebe hat mich betrogen. Scheusal, dir vertraute ich zuletzt. Hier in der grünen Einsamkeit will ich auf dem Land weilen oder auf dem Meer umhertreiben. Die Sonne lacht, der Bach rieselt, der Wald ist grün, die Vögel singen, das Reh springt durch den Busch, der Wurm sonnt sich, die Ameise schafft fleißig, alles freut sich des Lebens. Wohlan! Ich will nicht zurückbleiben. Ich will ihrem Beispiel folgen. Auch ich will der Mutter Natur treu sein! Lasst mich vergessen, dass ich eine Frau geliebt habe, die meiner nicht wert war!« Aber, mitten in der Freude an der Natur tauchte der schmerzliche Gedanke auf: »O, Christine, warum hast du mir das getan? Warum Verrat begehen an diesem Herzen?« Dann aber sprang er auf, um nicht überwältigt zu werden von den Geistern des Schmerzes, und eilte wieder durch die Flur, jauchzte am Meeresstrand und in den Buchten, vergaß sich und alle seine Sorgen.

So hatte er es schon oft getrieben, so trieb er es auch heute wieder. Freilich war König Karl mit dieser ihm unbegreiflichen Lebensweise seines Schützlings nicht zufrieden und schüttelte oft streng und missbilligend das Haupt. Freilich flüsterten die Minister, Generäle und Admiräle, dass Flaxmann eigentlich zu nichts tauge, auch als Kaperkapitän noch nicht eine Prise eingebracht und wahrscheinlich dieses Geschäft nur ergriffen habe, um keinen Herrn weiter als den König über sich anzuerkennen. Aber es blieb beim Alten, und der Sonderling Flaxmann tat ungestört, was er wollte. Er kehrte spät zurück und trat in jenes Kaffeehaus, worin einst Frau Ankarfield, die ehrenwerte Barbiersfrau, geschaltet, und welches er, seit es einen so merkwürdigen Einfluss auf sein Leben ausgeübt hatte, zuweilen zu besuchen pflegte. Vielleicht trug auch dazu der Umstand bei, dass der jetzige Schankwirt und Besitzer der Barbierstube ein Engländer war.

Jenem unglücklichen, von Frau und Tochter sowie von der Herrin, die er verraten hatte, verstoßenen und misshandelten geschwätzigen Perückenmacher und Barbier aus Barnet in Altengland, Samuel Brandlov, war in dem ehrenvollen Tod der Frau Ankerfield ein Hoffnungsstrahl aufgegangen. Er hatte zuerst bei den ehrliebenden Erben der Seligen sich als Wirtschaftsführer, Haarkräusler und Bartscherer verdingt. Da er aber emsig und regsam gewesen war und es verstanden hatte, seinem Pachtherrn die gewünschte Ehre in reichlichem Maße zukommen zu lassen, so hatte er sich bald zum Besitzer der Kaffeewirtschaft und Barbierstube emporgeschwungen. Es fehlte dem Vielberedten sowenig an Zulauf wie der Frau Ankarfield ehrenwerten Andenkens. Von keiner despotischen Frau mehr tyrannisiert, hatte er gelernt, einen eigenen Willen zu haben. Seit ihn die Not gezwungen hatte, auf eigenen Füßen zu stehen, hatte ihn das Glück begünstigt. Sein Wohlstand blühte in der Hauptstadt Schwedens schöner auf, als er ihn in der Provinzialstadt Altenglands zurückgelassen hatte. Zuweilen schenkte er zwar seiner unvergesslichen Ehehälfte eine Träne schmerzlicher Erinnerung. Dies geschah in allen zweifelhaften Fällen und Lagen seines neuen Lebens, wo er ihren kräftigen Rat und die denselben unterstützende wohlmeinende Tat freilich gar sehr vermisste. Aber waren solche gefährliche Stunden vorüber, so war es auch mit der Erinnerung vorbei. Meister Brandlov hatte schon oft daran gedacht, zu einem zweiten Ehebündnis zu schreiten. Als Flaxmann in die Wirtsstube trat, kam ihm sein Bootsmann mit freundlichem Gruß entgegen.

»Courtin«, fragte der Kapitän, »wann gedenkst du, dass wir ausfahren?«

»Unser Schiff ist instand«, versetzte der andere. »Ich dachte, Sie wollten die Frühlingszeit auf dem Land genießen. Auf dem Meer hat man nichts weiter davon als Sonne und Wind.«

»Ich habe mich anders besonnen. Gern bliebe ich hier, aber ich möchte einem mir unangenehmen Antrag, den ich, würde er mir einmal gemacht, nicht ausschlagen könnte, ausweichen. Weißt du nicht, wo es etwas zu tun gibt?«

»Wir können Kupfer laden und nach Holland bringen«, versetzte der Franzose. »Vielleicht erschnappen wir auch einmal etwas Englisches und Dänisches. Unsere Leute sind das Zugreifen von ihrem vorigen Kapitän, dem kühnen und hitzigen Norcroß, gewohnt, und wir dürfen sie nicht zurückhalten.«

»Du weißt«, versetzte Flaxmann mit verdrossenem Gesicht, »dass ich dir alles überlasse. Meinst du, dass es nötig ist, zu rauben und zu stehlen, wohlan, so sei es! Aber lass mich aus dem Spiel. Du sollst alles besorgen, wie zeither. Also nach Holland gedenken wir?«

»Wir könnten auch nach Russland mit Eisen. Dann brauchten wir die Landreise nicht nach Marstrand zu machen. Überhaupt seid Ihr noch nicht viel aus dem hiesigen Hafen ausgelaufen.«

»Gut, so wollen wir nach Russland.«

»Recht so!«, sagte ein eben eingetretener Fremder.

»Dort gibt es jetzt für die Schweden zu tun. Guten Abend, meine Herren!«

Flaxmann und Courtin sahen auf, um beim Schein der Lampe dem Grüßenden in das Gesicht zu schauen, dessen Stimme ihnen bekannt vorkam. Und wirklich erkannten sie in ihm den Kammerdiener des Barons Görz, den Sohn dieses Hauses, ihren ehemaligen Unglücks- und Reisegefährten Ankarfield, und standen erfreut auf, ihn zu begrüßen und zu fragen, woher er komme.

»Woher anders als von der Insel Aland? In voriger Nacht Punkt ein Uhr sind wir abgefahren«, versetzte jener vergnügt. »Der Friede ist in vollem Zuge. Mein Herr ist mit einem Schnellsegler vor einer Stunde hier angekommen. Er hat die wichtigsten Papiere vom Zar in der Tasche und ist jetzt schon beim König, sie zu überreichen. Ich will bei meiner Ehre drauf wetten – und unser einer hält was auf seine Ehre und ist von manchem unterrichtet, was anderen guten Seelen nicht einfällt – ich will auf Ehrenwort den Frieden garantieren. Der Baron hat ihn in der Tasche gebracht, sag ich, und ihn eben auf dem königlichen Schloss ausgepackt.«

»Also der Frieden mit Russland schon so weit?«, rief Flaxmann überrascht, »da könnte sich in Kurzem vieles am politischen Himmel ändern.«

»Freilich wird es das! Bei meiner Ehre! Wie lang ist es her, dass wir uns nicht gesehen haben, Kapitän Flaxmann? Vier Wochen höchstens, es war Ende April oder Anfangs Mai, das Ihr in Aland wart und dem Baron Depeschen vom König brachtet.«

»Es sind noch nicht volle vier Wochen«, sagte Courtin.

»Nun also. Was hat sich in dieser kurzen Zeit nicht geändert? Sur parole d’honneur! Damals war noch an keine rechte Unterhandlung, geschweige an einen rechten Frieden zu denken. Die Häuser waren noch nicht fertig, die der Zar für die Gesandten zur Betreibung des Friedensgeschäftes nicht weit vom Dorf Wargath auf der Wiese hat erbauen lassen. Wir mussten noch im Dorf wohnen, und von den russischen Gesandten war erst einer, der Kanzleirat Ostermann, zugegen. Jetzt steht das Ding anders aus. Die drei Häuser stehen so schmuck da, wie eine südermanländische Braut. Der andere russische Gesandte, der Generalfeldzeugmeister Bruce, wohnt in dem russischen Haus oben, der Kanzleirat unten. Im schwedischen Haus wohnt der Graf Güllenborg oben und wir unten. Der Sekretär Nambke hat seine Stube hinten hinaus. Am 25. Mai ging der Lärm an, aber alles in der Stille im dritten Haus, dort sind die Zusammenkünfte hinter verschlossenen und verriegelten Türen, aber unser einer horcht durch zehn Schlösser. Da legt man nachher Ehre ein, wenn man mehr weiß als die anderen. Das Ding ist scharf betrieben worden, denn gestern Abend kam der Baron und sagte: »Niels, wir müssen nach Stockholm! Und heute Abend sind wir hier mit dem Frieden in der Tasche.«

»Es möchte doch wohl zu bezweifeln sein, dass die Sache schon so gut wie abgemacht wäre«, sagte Flaxmann mit ungläubiger Miene. »So schnell pflegt die Diplomatie nicht zu handeln und zu schließen.«

»Abgemacht, sag ich euch!«, rief der Kammerdiener hitzig. »Nicht vergeblich setze ich meine Ehre ein. Der Prätendent wird König von England, der König Stanislaus wieder König von Polen, und Norwegen schwedisch. Meint Ihr, ich hätte vergeblich französisch gelernt, oder nur um die Befehle der Frau Baronesse und ihrer Tochter zu empfangen? Nichts da! Mein Kopf ist so gut gemacht, wie der eines anderen, um in Friedenstraktaten, Urkunden, Depeschen usw. zu studieren. Oder meint Ihr, dass ich zum Friseur und Barbier geboren bin? Ich bin auch noch nicht als Kammerdiener gestorben. Mein ehrgeiziges Gemüt strebt noch etwas weiter und ich habe mir die Bahn selbst geöffnet.«

»Alles in Liebe und Güte, Herr Ankarfield«, fiel jetzt Meister Samuel Brandlov dem hitzigen Sprecher mit geziemendem Bückling in die Rede, aber es will mich doch bedünken, als dürfte über sotanen Punkt in Eurem hochverehrten und insbesondere sehr schätzenswerten Kopf, worin allerdings viel Ingenium zu verspüren ist, ein kleiner Error und Irrtum obwalten. Ich meine mit Eurer gütigen Erlaubnis, sehr geehrter Herr Kammerdiener, Euren Tadel an der Kunst, welcher ich mit Euch anzugehören die Ehre habe. Was mich betrifft, so meine ich und will es beweisen: Es gehört ein großes Genie dazu, die Haare des menschlichen Hauptes, sowohl die des Schädels als auch die des Kinnes, der Backen und der Lippen, mit Verstand, Einsicht und Geschicklichkeit, sowohl modegerecht als auch zur Zufriedenheit ihres Besitzers zu behandeln. Als ich noch in Barnet meine Barbierstube hatte, erfreute ich mich einer großen Anzahl Kunden. Ich will Euch nur die Vorzüglichsten davon nennen: der erste Bürgermeister, Doktor James Smit, der Baron …«

»Erspart Euch doch ja die Mühe!«, rief Flaxmann ungeduldig.

Der Kammerdiener aber, der auch gern allein gehört sein wollte, tobte dazwischen. »Glaubt Ihr denn nicht, dass mir meine treuen Dienste und vor allen die gewissenhafte Überlieferung der Kasse an den König viel Ehre gemacht und einem hohen Stein ins Brett meiner Verdienste gesetzt hat? Nun, Ihr wisst es ja auch, was für Not und Mühe, was für Drangsal und Fährlichkeiten ich des Geldes wegen ausgestanden habe. Dafür wird mir nun bald gelohnt werden. Ich stehe mit meinem Baron auf dem besten Fuß von der Welt und werde zu Geschäften gebraucht, die nicht alle Kammerdiener verrichten.«

»Ihr seid ein dummer Prahlhans!«, sagte ein an der Ecke des Ofens sitzender Matrose, der entweder mit dem Kammerdiener oder doch gleich nach ihm hereingekommen war und das Gespräch mit angehört hatte. Niemand hatte sich um ihn bekümmert. Er hatte seinen Krug Bier in aller Stille getrunken.

Jetzt aber drehten sich die Köpfe der Anwesenden nach ihm hin. Einigen derselben war diese Stimme bekannt vorgekommen. Der erbitterte Sprecher saß aber im Hintergrund im Schatten.

»Courtin!«, schrie der Kammerdiener aufspringend, »wie kannst du dich unterstehen, meine Ehre mit deinen plumpen Händen anzugreifen? Wer bist du, Lump, dass ich dich zur Strafe ziehe? Ich werde dem Herrn Baron diesen Abend noch Anzeige machen, dass mir ein frecher Bursche hier meine Ehre besudelt hat, und du sollst aus der Stadt gestäubt werden. Wer bist du?«

Da stand der Matrose auf, schritt langsam vorwärts in die Helle des Lichts und nahm, statt aller Antwort, seine Kappe ab, strich sich die Haare aus der Stirn und sprach: »Guten Abend, meine Herren!«

»Kapitän Norcroß!«, riefen mehrere Stimmen zugleich.

Während Flaxmann, alles Frühere vergessend, den Langvermissten an die Brust drückte, kugelte sich Samuel Brandlov zu den Füßen seines alten Bekannten.

»Ach, wie lange haben wir auf Euch geharrt, wie hat Eure liebende Frau sich gesehnt, Nächte und Tage um Euch geweint! O Norcroß, Ihr habt unrecht an ihr gehandelt!«

»Hat sie sich gesehnt?«, fragte Norcroß mit freundlichen Blicken. »Nun seht, Freund, diese Nachricht ist mir der schönste Willkomm aus Eurem Munde. Lasst die alten trüben Geschichten ruhen! Ich will alles wieder gut machen. Nun sagt, wie lebt Ihr? Was gibt es Neues in Stockholm?«

»Ihr habt ja von dem neuen Frieden mit Russland eben gehört. Das ist wohl das Neueste in der Stadt.«

»Albernes Geschwätze! Damit hat es noch Zeit«, versetzte Norcroß unwillig. »Aber wo ist das Großmaul?« Vergebens sah man sich nach dem ehrliebenden Kammerdiener um. Er hatte sich unbemerkt davon gemacht, und alle lachten über seine stille Retirade.

»Der König hat fast täglich nach Euch gefragt, Kamerad«, berichtete Flaxmann, »und befohlen, Euch bei Eurer Ankunft zu melden, dass Ihr Euch unverzüglich zu ihm verfügen möchtet.«

»Ich werde morgen dem Befehl Folge leisten, sobald ich erst in einer anderen Schale stecke.«

»Aber erzählt uns doch, wo Ihr so lange geblieben und welche Schicksale Euch betroffen haben?«

»Ihr müsst freilich mit einem kurzen Abriss zufrieden sein, denn mein ungeduldiges Herz wird mich nicht lange hier dulden. Ich kam bloß, um zu lauschen, wie es hier geht und steht, und wollte mich eigentlich nicht zu erkennen geben. Die Prahlereien des Bartkratzers brachten mich aber so in Harnisch, dass ich das Maul nicht halten konnte.«

»Halten zu Gnaden, gnädiger Herr Kapitän«, erlaubte sich nun Meister Brandlov einzureden. »Es gibt gewisse Dinge in der Welt, die allerdings und unbestreitbar zwei Namen haben, einen guten und einen schlechten, einen manierlichen und einen ungestalteten. Aber ich meines Teils halte dafür und stehe nicht an, Euch mit geziemender höflicher Bescheidenheit darauf aufmerksam zu machen, zumal ich doch einige zwanzig Jahre mehr zähle als Ihr, und Ihr zwar ein sehr berühmter und tapferer Seekapitän, aber doch höchstens erst dreißig Jahre alt seid, und ich demnach nicht zu verstoßen fürchte, so ich mir solches erlaube – ja, was soll ich doch sagen? – richtig! Ich sprach zwei Namen und meinte, es sei besser und anständiger, einem feinen Mann auch ziemender, den schönen, feinen, höflichen, manierlichen Namen zu gebrauchen. Dann gibt es auch noch andere Gründe, das Wort Bartkratzer für schlecht und verwerflich zu finden. Denn bedenkt selbst …«

»Erzählt uns, Kapitän Norcroß!«, rief Flaxmann durch das Lachen der Übrigen hindurch, und Meister Brandlov – der es gar nicht anders gewohnt war, als unterbrochen zu werden und deshalb sicherlich, sprach er einmal, nicht eher schwieg, als bis sich einer seiner Gäste seiner erbarmte und ihn unterbrach, – schwieg mit einem selbstzufriedenen Lächeln und horchte der Erzählung seines Landsmanns und einst prätendierten Schwiegersohns zu.

Mitten in des Kaperkapitäns Bericht seiner letzten Schicksale trat Juel Swale in die Stube. Ohne sich umzuschauen, eilte er auf Flaxmann zu und sagte: »Kapitän, schon zwei königliche Boten haben Euch gesucht, der eine in Eurer Wohnung, der andere im Hafen auf dem Schiff. Ihr sollt so eilig als möglich zu des Königs Majestät kommen.«

»Da haben wir es«, sagte Flaxmann verdrießlich. »Doch wird des Königs Majestät wohl warten, bis ich komme.«

Alle schwiegen, erstaunt über diese unvorsichtige Äußerung in einem öffentlichen Wirtshaus, und Brandlov schnitt sonderbar bedenkliche Gesichter dazu.

Courtin, an dessen Seite Juel getreten war, deutete mit dem Finger auf Norcroß, um den Schiffsjungen auf denselben aufmerksam zu machen. Juel warf einen Blick auf das Gesicht des bezeichneten Matrosen, starrte ihn einen Augenblick lang an und warf sich dann mit jener gewaltigen Äußerung des Affekts, wie man sie bei allen unverdorbenen Naturkindern trifft, zu den Füßen desselben, umschlang krampfhaft mit beiden Armen die Knie des Kapitäns, drückte sein blühendes Gesicht in dessen Schoß, sprang dann wieder auf, klammerte sich an Norcroß’ Hals, küsste ihn auf Stirn und Wangen und gab ihm, sobald das Übermaß der Freude ihm den Gebrauch der Sprache gestattete, die zärtlichsten Namen. Alle Anwesenden sahen gerührt diesem Schauspiel zu und Flaxmann trocknete sich die Tränen.

»Mein lieber, herziger Junge!«, rief Norcroß, »wie hast du gelebt? Bei welchem Kapitän dienst du?«

»Bei Kapitän Flaxmann. Er hat an mir gehandelt wie ein Vater, ich habe ihn auch recht lieb, aber Euch, Kapitän, habe ich doch lieber. Ihr fahrt doch bald wieder hinaus und nehmt mich mit? Nicht wahr? Ach, aber mein lieber Brüllochse liegt an der jütländischen Küste tief in Meeres Grund! Aus ihm werde ich keine Kugel mehr auf die dänischen Kartenhäuser und Wasserschachteln schießen.« Und von der höchsten Freude schnell zur größten Trauer über den Verlust seiner Kanone übergehend, weinte der Junge, von den Schmerzen der Erinnerung gequält, laut.

»Tröste dich, mein Junge!«, besänftigte Norcroß seinen Jammer. »Du sollst auf dem neuen Schiff, welches des Königs Gnade mir zuerteilen wird, die größte Kanone bekommen. Oder ich will dir zum Trost, zur Freude und zur Belohnung deiner Liebe, Treue und gewissenhaften Dienste einen anderen Vorschlag machen. Ich werde morgen mit des Königs Majestät reden und denselben ersuchen, dir für mein neues Schiff eine besonders große Kanone gießen zu lassen, und zwar mit deinem Namen, durch erhabene Buchstaben ausgedrückt, soll sie benannt werden: Juel Swale Donnerschütz. Bist du zufrieden, Junge?«

»Juel Swale Donnerschütz!«, rief der Bursche überrascht und schlug die Hände zusammen. Und ein Guss Freudentränen folgte auf die Tränen des Schmerzes. Außer sich tanzte er durch die Stube und umarmte alle, selbst Meister Brandlov, der sich mit Armen und Beinen dagegen sträubte.

»Nun brauch ich auch nicht nach Seeland zu reisen, um den Kapitän zu befreien!«, jubelte Juel.

Flaxmann erzählte Norcroß, dass seine Frau den Jungen habe nach Kopenhagen als Spion schicken wollen, um ihn aufzusuchen oder sichere Nachrichten von ihm einzubringen.

»Die vortreffliche Frau! Wie wenig habe ich ihre Tugend beachtet!«, sagte Norcroß und erhob sich. »Es ist Zeit, dass ich gehe und mir ihre Verzeihung erstehe. Morgen mehr! Gute Nacht, Juel! Stelle dich morgen bald bei mir ein.«

Brandlov machte seine Kratzfüße. Norcroß und Flaxmann gingen Arm in Arm, der Letztere auf des Königs Hofburg, um neue Bestimmungen über sein verworrenes Schicksal zu vernehmen, der Erstere, um in den stillen Tempel ehelicher Liebe einzutreten, worin er noch ein Fremdling war. Mit Herzklopfen erklomm er die Stiege, die zu Dinas Wohnung führte. Leise öffnete er die Tür, sein Atem stockte fast. Mit einer Leuchte kam sie ihm entgegen, die Strahlen des Lichts fielen in sein Gesicht. Sie schrie auf, die Leuchte entsank ihrer Hand, und Norcroß hielt seine Frau im Arm.