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Karl Mays Magischer Orient

alexander-roeder-im-banne-de-maechtigenWer kennt sie nicht, die Werke Karl Mays, welche in die Annalen der Literaturgeschichte eingegangen sind. Sie haben die geneigte Leserschaft in den Wilden Westen, auf den Balkan und in den Orient geführt und an den fiktiven Reiseerlebnissen des Autors teilhaben lassen. Seine Liebe zum Orient reicht bis in die früheste Kindheit Karl Mays. Bereits seine Großmutter hatte ihm aus Der Hakawati vorgelesen. Vielleicht hat dieses im Jahr 1605 erschienene Buch oder Wüstenbrand, der Name des südwestsächsischen Nachbarortes, unweit seiner Heimatstadt gelegen, ihn inspiriert, um sich dem Orient zu widmen.

Unumstritten ist die Tatsache, dass Alexander Röder tief in den May’schen Orient eintauchte und sich von der Muse küssen ließ, um die Charaktere Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar und Sir David Lindsay in neuen Geschichten agieren zu lassen. Ein Zeichen mehr, dass nicht nur Figuren wie Sherlock Holmes, Doktor Watson, Larry Brent und andere in heutiger Zeit eine Renaissance erleben.

Das Buch

Alexander Röder
Karl Mays Magischer Orient
Band 1
Im Banne des Mächtigen

Fantasy, Klappenbroschur, Karl May Verlag, Bamberg, Radebeul, Oktober 2016, 364 Seiten, 16,99 Euro, ISBN 9783780205018, Illustration: Elif Siebenpfeiffer, Umschlaggestaltung: Petry & Schwamb, Freiburg
www.karl-may.de

Kurzinhalt:
Als Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar sich mit ihrem alten Freund, dem schrulligem Sir David Lindsay in Basra treffen, ahnen sie nicht, dass ihnen ein neues Abenteuer bevorsteht. Die schicksalhafte Begegnung mit einem jungen Dieb zwingt die Freunde, die Stadt zu verlassen. Als sie auf einen Trupp Banditen stoßen, taucht ein Name immer wieder auf: Al-Kadir, der Mächtige. Es gilt, diesem geheimnisvollen König der Banditen auf die Spur zu kommen.

Dabei geraten sie immer tiefer in die Wüste und das Netz des Mächtigen. Als sie auch noch auf die geheimnisvolle Tempelruine eines Dämonenkults stoßen, muss sogar der sonst so rationale Kara Ben Nemsi einsehen, dass es Dinge gibt, die über das Erklärbare hinausgehen. Ist es Magie, die dem geheimnisvollen Al-Kadir seine Macht verleiht?

alexander-roederDer Autor

Alexander Röder, geboren 1969, studierte Literaturwissenschaften und Kulturforschung. Er lebt heute in Marburg.

Mit seinem ersten historischen Roman Der Mönch in Weimar, der das Treffen zwischen Goethe und dem Gothic-Novel-Autor M.G. Lewis schildert, war er 2014 auf der Shortlist für den Seraph der Phantastischen Akademie e.V. in der Kategorie Bestes Debüt.

Derzeit begibt er sich regelmäßig in den magischen Orient, denn die phantastischen Abenteuer von Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar sind noch lange nicht erzählt …

Unverkäufliche Leseprobe

Sechzehntes Kapitel

Im Untergrund

In der Finsternis hörte ich Halef husten, dicht neben mir. Die Luft war angefüllt von feinstem Sand und Steinstaub. Ich tastete nach der Tasche an meinem Gürtel und holte die flache Dose mit den Zündhölzern heraus. Blind riss ich eines an, dann blendete die Flamme durch den Gang. Der Staub legte sich langsam. Halef wischte sich über die Augen.

»Sihdi«, hustete er, »warum nur ist dieses Tor heruntergekommen?«

»Ich weiß es nicht«, gab ich zu. »Aber vielleicht haben wir es selbst ausgelöst, dort unten im Tempel.«

»Das mag sein«, meinte Halef. »Mir missfallen all diese Ein­richtungen, welche aus der Entfernung Dinge tun. Wir drücken da draußen auf eine Platte aus Bronze und hier öffnet sich ein Tor. Wir drücken dort unten gegen eine Platte aus Marmor und hier schließt sich ein Tor. Sihdi, wer denkt sich nur solche Sa­chen aus?«

Ich wollte schon antworten, da kam Halef mir zuvor.

»Nein, Sihdi, ich weiß schon. Ihr Leute in Europa mögt so etwas. Bei euch steht man vor der Haustür und zieht an einer Schnur und irgendwo drinnen klingelt ein Glöckchen. Und das Gleiche macht ihr auch, um in dem Haus eure Diener zu rufen. Das ist doch nicht menschlich. Gute Menschen rufen mit der eigenen Stimme und klopfen mit der eigenen Hand. Was wer­den sich die Leute noch alles ausdenken, um sich voneinander fernzuhalten?«

Ich brachte es nicht übers Herz, Halef zu sagen, dass vor bald vierzig Jahren ein Frankfurter namens Johann Philipp Wagner die elektrische Türklingel erfunden hatte. Und die elektrische Eisenbahn. Ich mochte mich in den Details irren, aber in die­sem Moment hatten wir auch andere Sorgen. Zunächst entzün­dete ich die beiden intakten Petroleumlaternen.

Halef schaute zum Pferdeschrein in dem Seilgeschirr. »Und alles nur wegen dieser Kiste mit dem Figürchen drin.« Er machte einen heftigen Schritt darauf zu und ich befürchtete schon, er würde erbost dagegentreten. Stattdessen bückte er sich und griff nach dem Bündel mit Werkzeug, das danebenlag. Er schnürte es auf und ordnete den Inhalt auf der Decke: Hammer, Meißel, Stemmeisen, Spitzhacke, Schaufel. Dann schaute er mich an. »Nun, Sihdi, was möchtest du haben?«

Das schätze ich an meinem kleinen Halef. Er kann mich immer wieder überraschen. Wenn ich aus reiner Gewohnheit vermute, er würde eine seiner Schimpftiraden oder Maulereien beginnen, ist er stattdessen ganz ein Mann der Tat. Und ein kluger dazu. Denn wir beide erinnerten uns sehr wohl an die Beschaffenheit des Felsentors mit seinen inwendigen Aus­höhlungen. Diese würden wir mit unseren Werkzeugen durch­brechen können. Die Anstrengungen wären weniger hart, als wenn wir uns durch gewachsenen Fels stemmen und hacken müssten. Dieses Tor würden wir überwinden können. Ich griff nach dem Stemmeisen, Halef nach Hammer und Meißel. Die Spitzhacke wollten wir nicht einsetzen, obwohl der Raum zum Ausholen in dem Gang vorhanden war. Wir hatten beschlossen, dicht nebeneinander zu arbeiten, um so rasch wie möglich eine Öffnung zu schaffen. Zweckmäßigerweise wollten wir unser Werk dort beginnen, wo mein Bärentöter bereits eine Kerbe in das Tor gebrochen hatte. Von da aus konnten wir den Fels weiter aufbrechen. Dass sich dann ein Loch tief am Boden er­geben würde, war kein Problem. Was schert es einen, auf dem Bauch durch den Sand zu kriechen, wenn man dadurch die Freiheit erlangen kann? Wir positionierten die beiden Lampen und kauerten uns vor das Tor, die Werkzeuge in den Händen.

»Dann los«, sagte ich. Und wir setzten die Werkzeuge an

und hämmerten und stemmten mit aller Kraft. Staub sprühte, Splitter flogen. Wir hatten unsere Halstücher vor Mund und Nase gezogen und die Augen schmal gekniffen. Unsere Schlä­ge hallten durch den Gang. Als der Staub zu dicht wurde und die gebückte Arbeit unsere Rücken und Schultern und Arme schmerzen ließ, beschlossen wir eine Pause zu machen. Wir richteten uns auf und gingen weiter in den Gang hinein, wo der Schrein, das restliche Werkzeug und unsere Feldflaschen lagen. Wir tranken durstig. Dann schauten wir zurück, um un­ser Werk zu begutachten und um zu schauen, wie weit wir vo­rangekommen waren.

Der Fels war unbeschädigt! Halef riss die Augen auf und verschluckte sich beinahe.

»Sihdi …«

Ich mochte nicht glauben, was ich dort sah.

Halef deutete mit der Hand. »Sihdi, das ist Ma …«

»Nein, Halef. Das ist Mauerwerk! Zumindest um uns herum. Und hier vor uns sehen wir Steinmetzkunst und kluge Baupläne, die in die Tat umgesetzt wurden.«

Ich beugte mich vor, schaute scharf und zeigte auf die Kante zwischen Tor und Sandboden.

»Siehst du, Halef, wie dort, rechts und links von der Stelle, wo wir gearbeitet haben, der Sand in die Ritze im Boden sickert? Es gab unter dem Tor wohl eine hohle Schwelle, die wir zuvor ohne Weiteres überschreiten konnten. Aber durch das niederfallende Tor wurde sie zerstört oder hat geplant nachge­geben. Das Tor ist gerade eben, als wir nicht hinsahen, lautlos weiter nach unten gerutscht. Das Ergebnis unserer tüchtigen Hauerarbeit ist nun leider im Sand begraben. Wir werden er­neut beginnen müssen.« Ich schlug Halef auf die Schulter. »Frisch ans Werk!«

Halef murmelte etwas, dann griff auch er wieder sein Werk­zeug. Wir machten also weiter, oder eben: Wir begannen erneut. Und als wir wiederum ein gutes Stück aus dem ausgehöhlten Fels herausgebrochen hatten, traten wir zurück. Ich fixierte die

Lücke im Fels. Der aufgewirbelte Steinstaub reflektierte das Laternenlicht. Halef bewegte sich, trat vor die Lampen, ver­deckte sie. Schatten glitten über das Tor, die Lücke im Fels. Der Staub senkte sich, Halef verdeckte die Laternen nicht mehr. Das Licht traf den Fels. Er war unversehrt! Aber ich hatte keine Bewegung wahrgenommen! Ich schaute zu dem Häuflein aus Felsstücken, das wir herausgearbeitet hatten und welches unverändert auf dem Sand vor dem Tor lag. Es hatte sich nicht bewegt. Oder so schien es mir zumindest.

»Sihdi, ich glaube …«

»Ja, Halef «, gab ich ein wenig schroff zurück. »Ich weiß, was du glaubst. Aber ich sage dir erneut …«

»Nein, Sihdi. Ich glaube, ich höre etwas!«

Tatsächlich! Vor uns, neben dem Tor, auf der linken Seite, konnte man ein Kratzen und Scharren vernehmen. Im ersten Moment dachte ich daran, dass Sir David von draußen ähn­liche Versuche unternahm wie wir, doch dann erinnerte ich mich, dass er kein weiteres Werkzeug besaß. Und außerdem rührten diese Geräusche nicht von Schlagen oder Hämmern her. Und sie kamen ja auch nicht direkt vom Tor, sondern von der seitlichen Wand, und zwar von deren Fuß, wo der Boden mit Sand bedeckt war. Und der Sand dort bewegte sich!

Halef hob seinen Hammer und schielte zu den Gewehren, die wir an die Wände gelehnt hatten, und den Revolvergur­ten daneben. »Kommt da jetzt auch noch irgendein Höhlentier oder …«

Er begriff im selben Moment wie ich. Die Öffnungen seitlich des Eingangs, die Abflüsse für Regenwasser aus dem Wadi! Wir sprangen hinzu und scharrten den Sand fort, bis wir die Ziegel des Bodens sahen. Und dort, wo sich der Sand bewegt hatte, lag eine schmale, armlange Platte aus Stein. Sie bewegte sich, konnte also nicht allzu dick und damit schwer sein. Halef und ich hebelten sie mit dem Stemmeisen hoch. Aus der Öffnung im Boden schaute uns ein mit Sand bedecktes Gesicht unter zerzaustem, sandigem Haar an.

»Da bin ich«, sagte Djamila und nieste. Sie wandte den Kopf nach hinten und brüllte: »Ich bin durch! Es geht ihnen gut!«, in einer Lautstärke, die wir ihr kaum zugetraut hätten. Leise hörten wir von draußen die Stimmen von Sir David und Abdi, wie beide diese Nachricht freudig aufnahmen. Dann streckte Djamila ihre Arme empor und durch die Öffnung nach oben. Halef und ich griffen zu und zogen das Mädchen herauf. Dann stand sie vor uns und klopfte sich den Staub ab, während sie hustete, Luft holte und sogleich zu reden begann.

»Der Lord hat versucht, das Tor zu öffnen. Aber die Platte mit der Fratze drauf rührt sich nicht. Und das Tor selbst steckt tief im Sand.«

Ich schaute Halef an. Da hatte ich wohl Recht behalten.

Djamila sprach weiter. »Also haben wir gegraben, um unten drunter durchzukommen. Aber obwohl wir so viel Sand fortgeschaufelt hatten, kam immer neuer nach. Aber ohne, dass der rausgeschaufelte Sand nachgerutscht wäre. Das ist nicht zu erklären, hat der Lord gesagt.«

Halef schaute mich an. Er glaubte wohl, diesmal recht zu haben.

Djamila zuckte mit den Schultern. »Aber Abdi sagt, die Töpfe und Pfannen seien jetzt so sauber gescheuert wie nie.« Sie ver­drehte die Augen. »Ach ja. Und das Pferd des Lords hat wieder zu summen begonnen. Das goldene, nicht das richtige.«

Das war interessant, dachte ich mir. Da mochte sich ein Vor­teil ergeben. Und noch etwas anderes …

»Sihdi«, ächzte Halef. »Dann kommen wir hier wohl doch nicht so leicht heraus, wenn alles Graben und Schlagen nichts nutzt.« Er musterte Djamila, dann die Öffnung im Boden, dann sich und dann mich. »Und ich bezweifele, dass wir beiden dort unten hindurchpassen.«

»Das müssen wir auch nicht«, sagte ich. »Es gibt einen anderen Weg. Es gibt immer einen anderen Weg. Und ich glaube, ihn auch zu kennen.«

Halef nickte. »Das ist mein Sihdi. Er erkennt alles. Und dann

habe ich Hoffnung.« Er verzog das Gesicht. »Aber ich habe auch Hunger …«

»Da kann ich helfen!«, rief Djamila und langte in ihre Taschen. Während ich mich noch wunderte, warum Sir Davids Nachthemd, das Djamila ja als eine Art Dschellaba trug, so viele Taschen hatte, förderte Djamila aus ihnen einiges an Ess­waren hervor: Brot, Datteln, Ziegenkäse. Alles war zerdrückt und auch ein wenig sandig. Aber es stillte unseren Hunger und schmeckte deshalb herrlich.

»Auf die Idee bin ich gekommen«, sagte Djamila stolz, als wir zufrieden kauten. Wir erlaubten uns einen kleinen Seitenblick.

»Naja, und Abdi …«, räumte Djamila ein. »Aber ich bin schließlich durch das Loch gekrochen. Da hätte der lange Kerl nie durchgepasst!«

»So wie wir«, meinte ich. Und als Djamila erschrocken die Hand vor den Mund schlug, lächelte ich. »Aber keine Bange. Wir kommen auf andere Weise hinaus. Wie ich schon sagte.«

Als Halef Djamila fragen wollte, wie genau es sich denn mit dem seltsamen Sand vor dem Tor verhalten hätte, unterbrach ich beide. »Wir sollten Sir David von unserem Plan berichten. Wenn wir auch durch das Loch nicht hindurchkommen, wer­den wir uns ja wohl unterhalten können.«

Kurzerhand legte ich mich auf den Boden, steckte den Kopf in die Öffnung und rief nach Sir David. Der meldete sich sogleich und wir parlierten über diese steinerne Sprechvorrichtung, wie der Kapitän und der Maschinenmaat auf einem Dampfschiff es durch Messingröhren zu tun pflegen. Und wenn wir von den nautischen Rangbezeichnungen absahen, hatten wir auch durchaus Ähnliches zu besprechen. Ich erläuterte Sir David meinen Plan. Halef und ich würden zurück zum Tempel gehen und versuchen, eine der von mir gemutmaßten Öffnungen zur Außenwelt zu finden. Das schien mir zunächst lohnender, als weiterhin im Fels des Tores zu meißeln und zu stemmen wie ein Sisyphos unter Tage. Sir David sollte mit dem Goldpferd

als Signalgeber die Arena, die Schlucht und das Wadi verlas­sen und uns dann oberirdisch folgen. Wir würden uns später ir­gendwo jenseits des Tempels wieder über Tage treffen können. Ein kühner Plan voller Unwägbarkeiten, das wusste ich wohl. Aber ich verspürte eine Gewissheit seines Gelingens, wie ich sie schon lange nicht mehr gekannt hatte.

Halef und ich rüsteten uns also für den Rückmarsch zum Tempel. Djamila hatte währenddessen mit angezogenen Knien an einer Wand gesessen und uns zugeschaut. Aufmerksam hat­te sie gelauscht, wie ich Sir David unseren Plan erläutert hatte, und natürlich auch zuvor, als ich mit Halef diesen Plan ent­wickelte. Ich wusste, dass sie nicht hatte überhören können, dass Halef und ich stets nur von uns und Sir David sprachen. Sie hatte den Eindruck gewinnen müssen, sie selbst und Abdi seien nur Ballast oder unwillkommene Mitreisende. Das lag uns Männern durchaus fern, aber in jener Lage hatten wir zu­nächst das Wesentliche zu bedenken und zu planen, was nun einmal bedeutete, nicht immer jedes einzelne Detail und jede einzelne Person ausdrücklich zu benennen. Als ich mich nun Djamila zuwandte, erkannte ich meinen Fehler: Halef und ich hatten unsere Vorbereitungen abgeschlossen – und jetzt erst kümmerte ich mich um das Mädchen und richtete das Wort an sie. Ich war kurz davor, etwas Wohlmeinendes, aber leider auch wenig Feinfühliges zu sagen, wie etwa: »So, was machen wir nun mit dir?« oder dergleichen. Zwar ahnte ich, dass dies nicht gut bei dem jungen Mädchen ankommen würde, aber dennoch fühlte ich mich verpflichtet, etwas zu äußern, obwohl die Gefühlslagen eines halbwüchsigen Mädchens mir doch all­zu unbekanntes Terrain waren. Und in unbekanntem Terrain kann auch der erfahrene Abenteuerreisende fehlgehen, wenn er ohne passende Erfahrungen ist oder jene in diesem Fall nicht anwenden kann. Kurzerdings: Die Aufgabe, mit Halef einen noch unbekannten Ausweg aus diesem unterirdischen Gefäng­nis zu finden, schreckte mich weniger und schien mir leichter lösbar, als mich Djamila gegenüber so zu verhalten, dass ich

sie nicht ungewollt kränkte oder anderweitig verstimmte.

Doch ich hatte Glück. Kaum hatte ich mich ihr zugewandt, sprang Djamila auf und ergriff das Wort. »Soll ich noch einmal hinaus und Vorräte holen?«, fragte sie und zeigte auf die Öffnung im Boden.

Halef und ich schauten uns an. Ja, nickten wir: Vorräte wären gut …

»Fein«, sagte Djamila und krabbelte flugs in das Loch im Bo­den, noch ohne ein weiteres Wort von uns abzuwarten. Dann war sie verschwunden, nur etwas Sand rieselte noch über die Kanten der Ziegel nach unten.

»Sihdi, was machen wir nur mit diesem Mädchen?«, fragte Halef. »Gleichviel, ob sie eine Piratentochter ist oder meine Anverwandte. Wir können diese Kleine doch nicht mitnehmen, auf unsere ungewisse Suche, dort unten, in der Dunkelheit.«

»Das habe ich auch schon gedacht, Halef «, gab ich zurück. »Wir werden wohl argumentieren müssen.«

»Aber mit Frauen ist so schlecht argumentieren, Sihdi …«

»Das weiß ich wohl. Dennoch müssen wir es versuchen.«

»Ach, Sihdi, fast hoffte ich, dass der Gang verschüttet würde, kaum dass die Kleine draußen bei Sir David ist. Lieber würde ich hier drunten Hunger leiden, als mich um sie sorgen müssen, in den finsteren Klüften dort unten.«

»Halef, nein!«, stoppte ich ihn, als ich sah, wie er zuerst zu dem Loch im Boden schielte und dann zu dem Bündel mit Werkzeug, das noch immer an die Wand gelehnt dastand. »Wir müssen …«

Weiter kam ich nicht, denn schon steckte Djamila wieder ih­ren Kopf aus der Höhlung im Boden. Ohne dass sie uns um Hilfe bat, kletterte sie heraus. Sie war nur wenige Augenblicke fort gewesen. Halef schaute sie groß an. »Was ist?«, fragte er. »Bist du nicht hinausgekommen?«

»Nein«, gab sie zurück. »Im Gegenteil. Ich musste gar nicht hinaus.« Sie hob die Hand, mit der sie ein Seil umfasst hielt,

das in dem Loch verschwand. Sie zog daran, holte einige Arm­längen davon ein und schließlich hüpfte ein Proviantsack aus dem Boden heraus wie bei einem Tischlein-deck-dich.

»Den hat Abdi gepackt und an das Seil gebunden«, sagte sie. Und nach dem üblichen Augenrollen fügte sie hinzu: »Aber die Idee mit dem Seil hatte ich. Beim ersten Durchkriechen habe ich es mitgenommen. Es hat eben nur so lange gedauert, weil Abdi es zu weit wieder herausgezogen hatte und ich es erst wiederfinden musste. Er ist eben doch …«

Sie bemerkte unsere Mienen. »Gut, gut«, meinte sie. »Nichts gegen Abdi, ich weiß.«

Dann bückte sie sich und hob den Proviantsack an, der nicht eben leicht zu sein schien. »Da ist alles Mögliche drin«, er­klärte sie. »Auch zwei Wasserschläuche. Das wird für uns drei reichen.« Djamila musterte uns. »Ihr werdet den Ausgang doch rasch finden?« Dann warf sie sich den Proviantsack über die Schulter. Und wartete auf das Signal zum Aufbruch.

Mir schien jegliches Widerwort zwecklos. Auch Halef gab sich entwaffnet. Ich beugte mich zu dem Loch im Boden und wollte noch etwas hineinrufen.

Djamila schüttelte den Kopf. »Die anderen sind schon losgeritten.«

Vielleicht war es eine Lüge. Oder eine Flunkerei. Es war mir gleich.

»Gut, brechen wir auf «, sagte ich. »Die Laternen werden nicht ewig brennen.« Es schien mir vernünftiger, mich an Fak­ten zu orientieren, anstatt Diskussionen zu führen. Und außer­dem: Wie gefährlich mochte unsere Untergrundreise schon sein? Hier würde es keine Räuberbanden geben, auch wenn Djamila ja bereits zwei Begegnungen mit solchen überstanden hatte. Also dachte ich pragmatisch und dann fiel mir auch das rechte Wort ein:

»Djamila«, sagte ich also, »wie gut, dass wir dich dabei haben. Wer weiß, wo du deine Maulwurfskünste noch wirst ein­setzen können. Glück auf!«

Dann griff ich meinen Teil der Ausrüstung und schritt voran.

Djamila hatte bei meinem ersten Satz freudig gestrahlt und bei meinem zweiten Satz verwirrt dreingeschaut. Ich überließ es Halef, ihr eine Schullektion in Tierkunde zu vermitteln.

»Was ist ein Maulwurf?«, hörte ich es hinter mir fragen.

»Nun«, kam die Antwort, »das kann ich dir erklären. Ein Maulwurf ist …«

Ich hingegen konzentrierte mich auf meine eigenen Ge­danken.

Wir gingen also ein weiteres Mal den mit Ziegeln ausgekleideten Gang entlang und hinterließen erneut unsere Spuren im sandigen Untergrund. Wir nutzten nur eine unserer beiden Pe­troleumlaternen, die wir auf kleinste Flamme gedreht hatten, um Brennstoff zu sparen. Wir würden das Licht noch anderen Orts nötig haben. Und es war nun einmal so, dass sich der Hauptteil unseres Vorrats an Petroleum in zwei Metallkannen auf einem der Packpferde befand. Und diese Kannen hatten nicht durch den Flutschacht gepasst, den Djamila so gelenkig hatte überwinden können. Nun, so hatten wir weniger zu tra­gen. Djamila mühte sich ohnehin mit dem Proviantsack, Halef trug sein Gewehr und den Schrein auf dem Rücken, und ich hatte meine beiden Gewehre geschultert sowie das Bündel mit den Werkzeugen unter dem Arm.

Auf dem Weg vermittelte ich noch einmal meine Vermutungen über die Luftöffnungen und Gänge, die aus der Kaver­ne führten. Auch bereiteten wir Djamila auf den Anblick des Tempels vor und, noch wichtiger, auf die Treppen, denn wir konnten uns keine Augenblicke der Überwältigung und der Unachtsamkeit leisten. Das galt übrigens auch für Halef und mich. Nur weil wir die steilen Treppen zum Tempel kannten, sollten wir sie nicht leichtfertig zu überwinden suchen. Schließ­lich gab es keine schützenden Geländer. Und wer wusste, was diese unterirdische Anlage noch für Überraschungen barg? Schließlich hätten wir bei unserem Weg nach draußen beinahe

den Ausgang versperrt vorgefunden, hätte Djamila nicht so gei­stesgegenwärtig gehandelt. Dafür hatte ich sie natürlich noch gelobt. Und sie beruhigt, denn sie hatte einige Gewissensbisse, weil sie mein Eigentum genutzt und etwas roh behandelt hatte. Aber mein Bärentöter war hart im Nehmen, selbst als Fels­stütze. Ich hatte ihn kurz untersucht und außer Schrammen im Leder des Futterals hatte es keine sichtbaren Schäden gegeben. Weder war der Lauf verzogen noch die Mündung beschädigt, zumindest schien mir dies im Laternenlicht so. Bei besserer Beleuchtung wollte ich mich genauer davon überzeugen, da­mit ein künftiger Einsatz der Waffe nicht etwa böse Überra­schungen bergen würde. Auch war die kleine Tasche aus Leder unbeschädigt, die an das Futteral genäht war. Sie enthielt eine Ladung von zwei Schuss, komplett mit Kugeln, Zündhütchen und Pulver in Ölpapier gewickelt. Ich hatte diese kleine Tasche angebracht, um den Bärentöter auch dann nutzen zu können, wenn die große Tasche mit dem Zubehör und das Pulverhorn nicht greifbar waren.

Aber mit noch größerer Genugtuung und Erleichterung als die Unversehrtheit des Bärentöters erfüllte mich doch die Äußerung Djamilas. Die Piratentochter Abu Seifs und das unfreiwillige Diebeskind Basras hatte sehr rasch wieder die Bedeutung von Eigentum und auch den Umgang mit Menschen gelernt. Ein weiterer Beweis dafür, dass Herkunft und Umstände den Menschen zwar prägen, aber dass ein anderes Umfeld und andere Gesellschaft ihn sich auch wieder ändern lassen. Und wenn Djamila von dem Umgang und menschlichen Kontakt mit Sir David, Halef und mir profitieren konnte, wer wusste schon, ob es sich nicht andersherum genauso verhalten mochte …

Dann erreichten wir erneut die Treppe zum Tempel. Der Anblick von Kaverne und Bauwerk waren nun wesentlich weniger beeindruckend und ergreifend als zuvor, eben weil uns nicht drei hell strahlende Petroleumlampen mit guter Beleuchtung versorgten, sondern nur eine einzelne Laterne ihr

schwaches Licht abgab. Djamila staunte dennoch. Und Halef spielte den klugen Fremdenführer, als hätte er den Baedeker über den »Baalstempel in der Badiya« gelesen oder gar selbst geschrieben. Er gab also den Cicerone, wie man im Italienischen einen beredten Reisebegleiter nennt, nach dem beredten römischen Politiker Marcus Tullius Cicero. Bei dieser Reise in die Unterwelt an die Komödie des göttlichen Alighieri zu denken, würde zu weit führen. Denn Djamila war kein Dante und Halef kein Vergil. Meine Leser mögen mir diese Abschweifungen verzeihen. Es verhielt sich aber nun einmal so, dass in dieser dunklen, reizarmen Umgebung der Kaver­ne der Geist umso eifriger wanderte. Und auch wenn ich über Pläne zu Rettung oder Flucht nachsinne, fliegt mir doch dann und wann die eine oder andere Assoziation durch den Kopf, wie wohl ein jeder nachvollziehen mag, der mit offenen Augen und ein wenig Bildung und Erfahrung durch die Welt geht. Selbst wenn es die Unterwelt ist.

Wir hatten schließlich den Tempel erreicht und begaben uns in den Raum mit dem Relief. Hier waren wir von vier Wän­den umgeben, die enger standen als in der Haupthalle, sodass der schwache Schein unserer Lampe zurückgeworfen und ein wenig verstärkt wurde. Djamila betrachtete begeistert und an­dächtig zugleich das Relief mit den Kriegern, zunächst aus einiger Entfernung, um es in seiner Gesamtheit wahrzuneh­men, und dann aus der Nähe, um die Einzelheiten zu erkun­den. Dazu nutzte sie auch ihre Hände, was nicht allein wegen des schwachen Lichts nahelag. Halef und ich überprüften der­weilen unseren Vorrat an Lampenbrennstoff durch schlichtes Schütteln der Behältnisse. Was wir hörten, klang wenig erfreu­lich.

»Halef «, sagte ich, »wenn die Lampen leer sind, werden wir wohl den Schrein zerschlagen müssen. Aus dem Holz und den Stricken könnten wir behelfsmäßige Fackeln herstellen. Diese würden uns noch einige Zeit Licht spenden.«

»Ja, Sihdi«, gab Halef zurück. »Das wäre eine Möglichkeit.

Aber auch sehr schade. Wir haben schon die andere Kiste an die Räuber verloren. Der Lord wäre sicher enttäuscht, wenn er auch diese nicht bekommen könnte, um sie in seine Wunder­kammer zu stellen.«

»Das ist leider so«, meinte ich. Und dann fiel mir etwas ein. »Aber du fürchtest dich doch nicht etwa davor, den Schrein zu zerstören, weil du glaubst, es sei Magie darinnen?«

»Nicht gar so sehr, Sihdi …«

»Wenn jenes Spektakel damals von Feuerwerk oder derglei­chen kam …« Ich überlegte. »Dann sollten wir den Schrein wohl sehr vorsichtig zerlegen, um nicht verletzt zu werden. Und die Pulverladung könnte uns noch nützlich sein, sollten wir sehr rasch sehr viel Licht brauchen …« Ich schaute zu dem Schrein in seiner Verschnürung und überlegte, wie man diese Unternehmung angehen könnte. Da unterbrach Halef mich in meinen Gedanken.

»Sihdi, es gäbe da noch eine Möglichkeit, an Licht zu kommen.«

Er griff in die große Tasche, in der er allerlei Dinge mit sich herumzutragen pflegte, die mal von hohem, mal von mittlerem und mal von äußerst wenig Nutzen waren. Jetzt holte er einen faustgroßen Gegenstand hervor, der in ein Tuch gewickelt war. Halef zog das Tuch auf seiner Handfläche auseinander und präsentierte mir eine schimmernde Kugel. Diesen gläsernen Ball kannte ich wohl. Halef hatte ihn in Basra auf dem Basar gekauft und ich hatte ihn zunächst für die orientalische Variante einer Rosenkugel gehalten.

»Das habe ich für Kara Ben Halef gekauft. Ich wollte dem Kleinen doch auch etwas mitbringen.«

Halef sprach hier von seinem Söhnchen, welches ihm seine Ehefrau Hanneh geboren und dem er mir zu Ehren meinen Na­men gegeben hatte.

»Ein schönes Spielzeug für deinen Stammhalter«, nickte ich. »Aber warum trägst du es mit dir herum, besonders auf einer Höhlenexpedition? Was, wenn es zersprungen wäre oder einen

Riss bekommen hätte?«

»Aber nicht doch Sihdi! Schau: Das Glas ist ganz und gar hart und fest!«

Halef klopfte mit dem Finger gegen die Kugel und tatsächlich bestand sie durch und durch aus glasklarem Schmelzfluss. Es war also keine Hohlsphäre, wie eine Christbaumkugel mit etwas dickerer Wandung.

»Dennoch«, sagte ich, »was mag es uns nützen? Sicher, wir könnten damit unser Licht etwas verstärken, indem wir es bün­deln. Aber ich bezweifle, dass wir hier irgendetwas näher un­tersuchen wollen. Wir brauchen helles, weites Licht, Halef!«

»Sihdi, darum geht es doch!«, beharrte Halef. Er hob die Hand mit der Kugel etwas und zögerte dann. »Sihdi, du wirst mir doch nicht böse sein?«

»Natürlich nicht, Halef. Warum sollte ich?«, beschwichtigte ich. »Weil du ein Spielzeug mit dir herumträgst?«

»Weil es Magie ist.«

»O Halef …«

Und dann wischte Halef mit der anderen Hand über die Ku­gel hin. Er sagte etwas wie »Al-Bakussu« und dann …

… begann die Kugel zu leuchten!

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages