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Aëlita – Teil 5

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

In derselben Nacht

In dieser Nacht wartete Mascha lange auf ihren Mann. Mehrmals schon hatte sie den Teekessel auf dem Petroleumkocher aufwärmen müssen. Hinter der hohen Eichentür war es still und unheimlich.

Gussew und Mascha wohnten in einem Zimmer eines ehemals eleganten, riesigen, jetzt leer stehenden Hauses. Während der Revolution hatten seine Bewohner es verlassen. In vier Jahren war es vom Regen und den Winterstürmen in seinem Innern ziemlich mitgenommen worden.

Das Zimmer war geräumig. An der Decke, zwischen goldener Schnitzerei und gemalten Wolken, flog eine üppige Frau und lächelte über das ganze Gesicht, rings um sie herum waren geflügelte kleine Kinder.

»Siehst du, Mascha«, pflegte Gussew immer wieder zu sagen und zeigte dabei auf die Decke, »was das für eine fröhliche Frau ist, wohlbeleibt, sechs Kinder hat sie – das ist ein Weib.«

Über dem vergoldeten, auf Löwenfüßen ruhenden Bett hing das Porträt eines alten Mannes in gepuderter Perücke, mit verkniffenem Mund, einen Stern auf dem Rock. Gussew nannte ihn General Stampfer.

»Der lässt keinem was durchgehen. Passt ihm etwas nicht, stampft er gleich mit den Füßen.«

Mascha fürchtete sich vor dem Porträt und sah nie hin. Durch das Zimmer zog sich ein Blechrohr zu dem eisernen Öfchen, von dem die ganze Wand verrußt war. Auf den Regalen wie auf dem Tisch, wo Mascha das kärgliche Mahl bereitete, herrschten Ordnung und Sauberkeit.

Die geschnitzte Eichentür führte in einen Saal, der durch zwei Stockwerke ging. Die zerschlagenen Fenster waren mit Brettern vernagelt, die Decke an manchen Stellen abgebröckelt. In stürmischen Nächten heulte hier der Wind und liefen Ratten umher.

Mascha saß am Tisch. Der Petroleumkocher zischte. Von fern her trug der Wind das traurige Geläut einer Uhr – es schlug zwei. Gussew kam nicht. Mascha dachte: Was sucht er, woran fehlt es ihm? Immer will er irgendetwas finden, die unruhige Seele, Aljoscha, Aljoscha … Wenn du nur einmal die Augen zumachtest, an meiner Schulter dich ausruhtest, Söhnchen. Such nicht, du findest doch nichts, was teurer wäre als mein Mitleid.

An Maschas Wimpern hingen Tränen, sie wischte sie ohne Eile weg und stützte die Wange mit der Hand. Über ihrem Kopf flog die lustige Frau und konnte doch nicht davonfliegen mit ihren fröhlichen Kindern. Mascha dachte bei sich: Ja, wenn ich so wäre wie die, nirgendshin würde er gehen, fort von mir.

Gussew hatte ihr gesagt, dass er auf eine weite Reise gehe, doch wohin, das wusste sie nicht und fürchtete sich zu fragen. Sie sah es auch selber ein, dass er dieses Leben mit ihr in diesem wunderlichen Zimmer, in der Stille, ohne die einstige Freiheit, nicht ertrug. Nachts, im Traum, knirscht er manchmal mit den Zähnen, schreit dumpf auf, setzt sich im Bett hoch und atmet schwer – die Lippen fest aufeinander gepresst, Gesicht und Brust in Schweiß gebadet. Er sinkt wieder aufs Kissen, schläft ein, doch am Morgen ist er dann immer finster und ruhelos. Mascha ging schon so sanft mit ihm um, war so zärtlich und sorgte für ihn besser als eine Mutter. Dafür liebte er sie und hatte Mitleid mit ihr, doch kaum war der Morgen da, suchte er nach einem Grund, aus dem Haus zu gehen.

Mascha hatte irgendwo eine Anstellung und brachte ihre Lebensmittelrationen nach Hause. Geld hatten sie häufig gar keins. Gussew griff mal nach dieser und mal nach jener Arbeit, warf sie aber bald wieder hin. Er sagte manchmal: »Die Alten erzählten früher, in China sei ein goldener Keil. So einen Keil wird es dort wohl nicht geben, aber das Land ist uns wirklich ganz unbekannt. Mascha, ich geh nach China und schau mir an, was dort los ist.«

Wie auf den Tod wartete Mascha voller Qual auf die Stunde, da Gussew fortgehen würde. Außer ihm hatte sie niemanden auf der Welt. Von ihrem fünfzehnten Jahr an war sie Verkäuferin in Läden oder Kassiererin auf den kleinen Newadampfern gewesen. Sie hatte ein unfrohes Leben gehabt.

Vor einem Jahr, an einem Festtag, hatte sie Gussew auf einer Bank im Park kennengelernt. Er hatte gefragt: »Ich sehe, dass Sie hier ganz einsam sitzen, erlauben Sie, die Zeit mit Ihnen zu verbringen – allein ist es langweilig.«

Sie blickte ihn an: ein nettes Gesicht, fröhliche, gute Augen und – er war nüchtern.

»Ich habe nichts dagegen«, erwiderte sie kurz. So gingen sie denn bis zum Abend im Park spazieren, Gussew erzählte von Kriegen, Streifzügen, Umstürzen – von Dingen, die man in keinem Buch zu lesen bekam. Er begleitete Mascha zu ihrer Wohnung, und von dem Tage an begann er sie zu besuchen. Ruhig und einfach gab Mascha sich ihm hin. Und dann gewann sie ihn lieb. Plötzlich, mit ihrem ganzen Sein, fühlte sie, dass er zu ihr gehörte. Und damit begann ihre Qual …

Der Teekessel kochte. Mascha nahm ihn herunter und saß wieder still da. Schon längst glaubte sie hinter der Tür, in dem leeren Saal, ein Rascheln zu hören. Versunken in ihre traurigen Gedanken, hatte sie nicht hingehorcht. Doch jetzt waren deutlich schlürfende Schritte zu vernehmen.

Mascha öffnete rasch die Tür und steckte den Kopf durch den Spalt. Durch eines der Fenster drang von der Straßenlaterne Licht in den Saal und beleuchtete in schwachen, blasigen Lichtflecken einige niedrige Säulen. Zwischen ihnen erblickte Mascha einen gebeugten, grauhaarigen alten Mann, ohne Mütze, in einem langen Mantel. Er stand mit vorgestrecktem Hals da und schaute Mascha an. Ihr wurde schwach in den Knien.

»Was wollen Sie hier?«, fragte sie flüsternd.

Der Alte streckte den Hals vor und fuhr fort, sie anzuschauen. Drohend erhob er den Zeigefinger. Mascha schlug mit aller Kraft die Tür zu, ihr Herz klopfte wild. Sie horchte, jetzt entfernten sich die Schritte. Der Alte stieg offenbar die Treppe zum vorderen Eingang hinunter.

Bald erschollen von der anderen Seite des Saales die schnellen, kraftvollen Schritte ihres Mannes. Gussew trat fröhlich ein, er war ganz mit Ruß beschmiert.

»Gieß mir mal Wasser ein, damit ich mich waschen kann«, sagte er und knöpfte den Hemdkragen auf. »Morgen fahren wir, leb wohl. Hast du heißes Wasser im Kessel? Großartig!« Er wusch sich das Gesicht, den kräftigen Hals, die Hände und Arme bis zu den Ellbogen. Beim Abtrocknen warf er von der Seite einen Blick auf seine Frau. »Hör auf, ich komm nicht um, ich komm wieder. In sieben Jahren haben mich weder Kugel noch Bajonette umbringen können. Meine Stunde hat noch lange nicht geschlagen, die ist noch unbestimmt. Und dem Tod entrinnt ohnehin niemand. Eine Mücke kann dich im Vorbeifliegen mit dem Beinchen berühren – und batz! Schon bist du tot.«

Er setzte sich an den Tisch und fing an, eine gekochte Kartoffel abzupellen, brach sie entzwei und tunkte sie in das Salz.

»Mach mir zu morgen frische Wäsche fertig, auch zum Wechseln: Hemden, Unterhosen, Fußlappen. Vergiss auch nicht die Seife und Nähzeug. Du hast wohl schon wieder geweint?«

»Ich bin erschrocken«, erwiderte Mascha und wandte sich ab, »da geht immer so ein alter Mann herum, er hat mir mit dem Finger gedroht. Aljoscha, fahr nicht weg!«

»Weil ein alter Mann dir mit dem Finger gedroht hat, soll ich nicht wegfahren?«

»Das bedeutet Unglück, dass er mir gedroht hat. «

»Schade, dass ich wegfahre, ich hätte sonst mit diesem alten Trottel ein ernstes Wort geredet. Das ist ganz bestimmt einer von denen, die hier früher gewohnt haben, der nachts herumschleicht, alles Mögliche flüstert und die Leute zum Haus hinausekelt.«
»Aljoscha, kehrst du zu mir zurück?«

»Ich habe doch gesagt, dass ich wiederkomme, also kehre ich zurück. Ach, bist du ein unruhiges Geschöpf!«
»Fährst du weit fort?«
Gussew begann zu pfeifen und nickte, der Decke zugewandt. Seine Augen lachten. Er goss sich von dem heißen Tee in die Untertasse.
»Ich fliege über die Wolken hinaus, so etwa wie dieses Weib da oben.«
Mascha ließ nur den Kopf sinken. Gussew gähnte und begann sich auszuziehen. Mascha räumte geräuschlos das Geschirr weg, setzte sich, um die Socken zu stopfen. Sie hob kein einziges Mal die Augen. Aber als sie sich dann auszog und zum Bett ging, da schlief Gussew bereits: die Hände auf der Brust gekreuzt, mit ruhig geschlossenen Lidern. Mascha legte sich neben ihrem Mann nieder und schaute ihn an. Über ihre Wangen rannen Tränen, sie liebte ihn so sehr und sie sehnte sich so nach seinem unruhigen Herzen: Wo fliegt er hin, was sucht er?
Beim Morgengrauen erhob sich Mascha, säuberte den Anzug ihres Mannes und legte ihm frische Wäsche zurecht. Gussew erwachte. Er trank Tee, scherzte, strich Mascha liebkosend über die Wange. Er ließ ihr Geld da – ein großes Bündel Scheine. Dann warf er sich den Rucksack auf die Schulter, blieb in der Tür stehen und küsste Mascha.
Und so hatte sie auch nicht erfahren, wohin die Reise ging.