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Die Macht der Drei – Teil 26

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Glockengeläut klang vom Turm der alten Kirche von Linnais. Über die sonnenbeschienenen Dächer des Ortes, über bestellte Felder, die in kurzen Sommerwochen spärlichen Ertrag brachten, zogen die Töne dahin, das Tal des Torneaelf entlang und verloren sich schließlich in bläulicher Ferne zwischen den föhrenbestandenen Ufern.

In der Kirche herrschte gedämpftes Licht. In hundert Farben spielte es durch die bunten Fenster. Die Kirche war fast leer. Nur etwa zwanzig Personen auf den dreihundertjährigen Eichenbänken und in den Chorstühlen.

Die Orgel setzte ein. Die Klänge des Chorals drangen durch den Raum. Es war der Hochzeitstag Silvesters. Der Tag seiner Vereinigung mit Jane.

Die Orgel schwieg. Der alte Geistliche segnete den Bund. Jane im weißen Kleid, den Myrtenkranz im lichtblonden Haar, ätherisch zart. Sie glich den Engelsgestalten, welche die Kunst eines alten Meisters über dem Altar geschaffen hatte. Silvester, den Arm nach der Verwundung noch in der Binde, aber froh und glücklich.

Dicht hinter dem Paar die beiden Zeugen der Zeremonie: Erik Truwor und Soma Atma.

Der Inder ruhig, in sich versanken. Der freie Ritus der Zeit erlaubte es ihm, hier als Zeuge zu dienen. Seine Gedanken weilten bei den Lehren der eigenen Religion. An das Rad des Lebens dachte er, an das wir alle gebunden sind. An das Kämpfen und Leiden aller Kreaturen, die erst nach tausendfacher Wiedergeburt und Bewährung zur ewigen Seligkeit des Nirwana eingehen darf.

Erik Truwor hoch gereckt. Jede Muskel verhaltene Kraft. Glücklich beim Glück des Freundes. Doch schon weitere Pläne erwägend. Ungeduldig über jede Verzögerung, die seine Lebensaufgabe erfuhr.

Der Priester wechselte die Ringe. Leicht schob sich der goldene Reif auf den schlanken Finger der Braut. Hart und schwer legte er sich an Silvesters Hand neben den Ring von Pankong Tzo.

Atma sah es, und seine Gedanken nahmen einen anderen Lauf.

»Wer schon gebunden ist, soll sich nicht nochmals binden. Zwei Pflichten kann niemand erfüllen, zwei Herren niemand dienen.«

Der christliche Priester sprach milde Worte. Dass sie nun eins seien. Dass jedes dem anderen gehöre, bis einst der Tod sie scheiden würde.

Atma sah nur die beiden Ringe an Silvesters Hand.

Auch Erik Truwors Gedanken wanderten. Fort aus dem grünen Tal, nordwärts über brandendes Meer und weite Eisflächen zu verschneiten Felsen. Nur undeutlich drangen die Worte des Priesters an sein Ohr. Im Geist baute er dort nordwärts in eisigen Fernen bereits eine neue Zufluchtsstätte. Ein neues Heim, unentdeckbar und unangreifbar.

Der Geistliche hatte geendet. Segnend legte er die Hände auf die Häupter der Neuvermählten. Ein voller Sonnenstrahl fand seinen Weg bis zum Altar und wob aus goldenem Licht eine Krone auf dem Scheitel der Braut. Die Orgel fiel wieder ein. Die Feier ging dem Ende zu.

Kraftwagen brachten die Teilnehmer zum Hause Truwor zurück, wo das Mahl gerichtet war. Gäste aus dem Ort: der Vogt von Linnais mit seiner Gattin, der königliche Richter, Besitzer freier Bauernhöfe aus der Umgebung von Linnais mit ihren Frauen.

Eine schwedische Hochzeit mit den alten Sitten und Gebräuchen. Seit einem Menschenalter hatte die hohe Halle des Hauses so zahlreiche Gesellschaft nicht mehr beherbergt. Seitdem Erik Truwors Mutter starb und der Vater nur noch seiner Wissenschaft und seinen Reisen lebte.

Jetzt dröhnte der Dielenboden unter den Schritten kräftiger hoher Gestalten. Scherzen und Lachen erklangen und verjagten die Geister der Einsamkeit.

Amtmann Bjerkegrön führte als Respektsperson den Vorsitz und das Wort an der Tafel. Richter Kongsholm sekundierte ihm vom anderen Ende her. Es wurde geschmaust und getrunken. Der Amtmann brachte den Toast auf das junge Paar aus. Der Richter wollte nicht nachstehen und sprach auf künftige Paare, die in dieser Halle noch Hochzeit halten würden. Der nächste Bräutigam müsse Erik sein. Seit tausend Jahren stünde Haus Truwor und sei stets vom Vater auf den Sohn vererbt worden. Also …

Er schloss in nicht missverstehender Weise und leerte sein Glas auf die noch unbekannte Braut.

Um drei Uhr hatte das Mahl begonnen. Um sechs Uhr saß man noch. Viele Toasts waren ausgebracht, viele Gläser geleert worden. Die Köpfe waren rot, und die Stimmung ging hoch. Allgemeines Stimmengebraus erfüllte den Raum. Mancher sprach, um zu sprechen, und achtete nicht sonderlich mehr darauf, ob er Zuhörer fand.

Erik Truwor hatte in der allgemeinen Lebhaftigkeit unbemerkt seinen Platz verlassen und sich halb rückwärts hinter Atma einen Stuhl hingezogen. Der Inder war ruhig und schweigsam wie gewöhnlich. Während der Richter von künftigen Hochzeiten sprach, ruhte sein Blick auf den altersbraunen Deckenbalken der Halle. Wieder kam ihm in jener Sekunde die unheimliche Gabe des Fernsehens. Er glaubte, verzehrende Flammen um das Gebälk lecken zu sehen.

»Dein brauner Kumpan ist schweigsam, Erik. Wir wollen ihm zeigen, was eine Hochzeit in Schweden ist. Ein Brautführer darf nicht nüchtern bleiben, wenn er der Braut Ehre machen soll.« Der dicke Vogt rief es lachend und kam dem Inder mit einem vollen Pokal vor. Atma tat Bescheid. Dem Vogt und vielen anderen. Nur war der Trunk, der bald goldglänzend, bald funkelnd wie Rubin in seinem Glas schimmerte, kein Wein.

Erik Truwor beugte sich vor.

»In dreißig Minuten muss Silvester aufbrechen, wenn er den Anschluss an die Regierungslinie nach Deutschland erreichen soll.«

»So lass ihn gehen.«

Atma sagte es ruhig und leidenschaftslos.

»Du kennst meine Landsleute nicht. Sie wollen den Brauttanz. Sie wollen den Schleier der Braut vertanzen, wollen zuletzt aus dem Brautschuh trinken. Ich bedauere es jetzt, dass ich die alten Freunde und Nachbarn eingeladen habe. Es gibt Anstoß, wenn das Paar jetzt aufsteht.«

Atma überblickte die Tafel. Sie waren alle in ihrem Element. Der Richter hielt dem Beisitzer einen Vortrag über einen besonders interessanten Fall aus der letzten Sitzung. Der Vogt machte der Frau Amtmann Komplimente. Der Amtmann begann auf die Regierung zu schimpfen.

»Ich muss mit Silvester noch sprechen. Wir haben ihm eine Woche für seine Hochzeitsreise zugestanden. Ich habe mich besonnen, er mag vierzehn Tage reisen.«

Atma wandte sich aufmerksam um.

»Warum das? Du wolltest ihn zuerst nur drei Tage entbehren. Er hat dir die Woche abgerungen. Warum jetzt zwei Wochen?«

»Weil … ich habe meine Gründe, die ich dir später sagen werde. Ich muss das Paar jetzt aus dem Saal herausbekommen.«

Atma ließ seinen Blick von Neuem über die Tafel gehen. Er erhob sich und trat an die schmale Wand der Halle. Es sah aus, als ob er dort irgendetwas erklären oder zeigen wolle.

Schon hoben einige aus der Gesellschaft die Köpfe und blickten angespannt auf das dunkle Getäfel der Wand. Die Frau Amtmann fiel dem Vogt ins Wort.

»Sehen Sie … das herrliche Bild … ein indisches Schloss, wie es scheint. Wie wundervoll! Die bunten Kuppeln im stahlblauen Himmel … unser Erik ist ein charmanter Gastgeber. Er bietet uns einen Extragenuss … Wohl Bilder von seinen exotischen Reisen …«

Der dicke Vogt hob neugierig den Kopf und folgte der weisenden Hand seiner Nachbarin. Eben noch schien ihm weißer Nebel über die Wand zu wallen. Jetzt sah er in strahlender Schönheit den Kaiserpalast von Agrabad.

Und machte den Nachbarn darauf aufmerksam. Und der den Nächsten. Wie ein Lauffeuer ging es um die Tafel. Die mit dem Rücken gegen die Schmalwand saßen, drehten sich um. Wo Silvester und Jane nur das dunkle Getäfel erblickten, schimmerte den anderen das wunderbare Bauwerk altindischer Kunst in strahlender Schöne. Aus dem stehenden wurde ein bewegtes Bild. Der Palast zog näher heran. Die staubige, sonnenbeschienene Straße dehnte sich bis in den Saal. Längst hatte der Richter seinen Prozess, der Amtmann seinen Zorn auf die Regierung vergessen. Fasziniert starrten die Gäste auf das Schauspiel an der Wand. Die Elefanten des Königs kamen. Mit vergoldeten Stoßzähnen und purpurnen Schabracken.

Es schien ein bunter Film zu sein, wie man ihn in allen Theatern hatte. Aber ein Film von unerhörter Farbenpracht. Und er blieb nicht an der Wand. Einzelne Figuren liefen bis weit in den Saal hinein.

Lobbe Lobsen zog seinen Stuhl zurück, weil ein staubiger Pilger ihm direkt über die Füße lief. Immer wunderbarer wurde es. Atma, der eben noch in europäischer Kleidung da war, stand plötzlich im exotischen Gewand unter den Gestalten, begrüßte hier einen, nickte dort einer Figur zu, wurde gekannt und wieder gegrüßt.

Derweil stand Erik Truwor draußen vor dem Haus am Schlag des Kraftwagens und tauschte den letzten Händedruck mit dem jungen Paar.

»Reist glücklich! Genießt euren Honigmond! Die letzten drei Tage seid ihr Gäste im Hause Termölen. Am 16. hole ich dich von der Station der Regierungslinie ab. Farewell!« Der Motor sprang an. Der Führer musste sich eilen, um das Regierungsschiff nach Deutschland noch im Flughafen zu fassen.

Erik Truwor kehrte langsam in die Halle zurück. Er fand Atma ruhig auf einem Sessel an der Schmalwand der Halle sitzend. Die Hochzeitsgesellschaft starrte mit aufgerissenen Augen auf diese Wand, als ob dort ein besonderes Schauspiel zu erblicken wäre. So ähnlich mussten wohl die Studenten in Auerbachs Keller ausgesehen haben, als Mephisto ihnen edle Weine aus dem trockenen Holz des Tisches fließen ließ. Erik Truwor konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.

Atma erhob sich und ging auf seinen Platz am Tisch zurück. Im gleichen Augenblick begann das Bild, welches die Zuschauer so fesselte, zu verblassen. Es wurde neblig, verlor die Farbe, und schon war wieder die dunkle Wand sichtbar. Nur langsam löste sich die Erstarrung der Gäste. Dann entlud sich der Beifall um so lauter.

Herrlich … großartig … wundervoll. Die Plastik der Bilder. Das Hinaustreten der Figuren in den freien Raum. Sie waren fast alle in Stockholm gewesen und hatten das Kino mit allen Feinheiten gesehen. Farbig natürlich. Auf Nebelwände projiziert. Aber niemals hatten sie gesehen, dass einzelne Figuren des Bildes bis unter die Zuschauer liefen.

Sie sparten nicht mit ihren Komplimenten gegen den Gastgeber.

Und niemand vermisste das Brautpaar. Hin und wieder trank ihm einer zu, als ob Jane und Silvester noch auf ihren Plätzen säßen. Sie schmausten und zechten bis spät nach Mitternacht und dachten erst in den Morgenstunden an die Heimfahrt.

Erik Truwor kannte Atmas Künste. Er wusste, dass es dem Inder ein Leichtes war, dieser ganzen auf keinerlei Widerstand eingestellten Gesellschaft die unwahrscheinlichsten optischen und akustischen Phänomene zu suggerieren. Aber es erfüllte ihn dennoch mit Erstaunen, als er sah, wie der Amtmann auf den leeren Stuhl von Jane zuschritt, sich feierlich vor einem Nichts verbeugte, mit einem Nichts im Arm durch die Halle walzte und das Nichts wieder zum Stuhl zurückgeleitete. Als die Amtmännin sich mit geschmeicheltem Lächeln erhob und ebenso solo durch den Raum tanzte. In der festen Überzeugung, vom Bräutigam aufgefordert zu sein, von ihm geführt zu werden.

Es wirkte auf Erik Truwor, weil alle Gäste diesen Tänzen besonderen Beifall spendeten. Weil sie alle den Schemen sahen, den der Wille Atmas ihnen aufzwang, weil er allein der Suggestion nicht unterworfen war und das unsinnig Groteske dieser Tänze voll spürte.

Er war es zufrieden, als die Letzten das Haus verließen.

Gefolgt von Atma, ging er in das Laboratorium. Dort stand der neue Strahler, gekoppelt mit dem Fernseher.

»Wo mag das Paar jetzt sein?«

Der Inder antwortete nicht sogleich. Seine Augen blickten weit geöffnet in die Ferne. Langsam kamen die Worte.

»Im Süden in weiter Ferne … über schneebedeckten Bergen.«

»Du meinst im deutsch-italienischen Regierungsschiff? Wir werden sehen.«

Erik Truwor sagte es mit stolzer Befriedigung. Er richtete den Apparat. Er ließ einen leichten Energiestrom strahlen. Ein Bild erschien auf der Scheibe. Ziehende Wolken, schneebedeckte Gipfel. Die Alpenkette … das Gotthardmassiv. Ein schimmernder Punkt darüber.

Er arbeitete an den Mikrometerschrauben der Feinstellung. Er richtete und visierte.

Da wuchs der Punkt zum großen Flugschiff. Jede Schraube, jede Niete wurde erkennbar. Er musste dauernd regulieren, um das schnell fahrende Schiff in dieser Vergrößerung nicht aus dem Gesichtsfeld zu verlieren.

Jetzt stimmten Regulierung und Flugschiffbewegung genau überein. Regungslos verharrte das Schiff in der Mitte der Bildfläche. Vorn dicht hinter der breiten Zellonscheibe der Kabine standen Silvester und Jane. Hand in Hand, glücklich lächelnd, blickten sie vor sich nieder in die fruchtbare italienische Ebene.