Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Tony Tanner – Agent der Weißen Väter – 8.25

Das Komplott der Eisernen – Teil 25

Tony Tanner konnte nichts tun, als Sier völlig entgeistert anzustarren. Der stechende Schmerz in seinen Schulterblättern schwand, dafür wallte in seinem Kopf ein dumpfer Brodem, durch den sich kein Verstehen hindurchzwängen konnte.

»Aber warum … was soll das …?«, stammelte Tony hilflos. Sein Blick fiel auf den Boden, wo er einen Gegenstand sah. Mit einiger Mühe – nicht weil er ihn schlecht sehen konnte, sondern weil sich sein Geist schlicht weigerte, die Tatsachen zu akzeptieren – erkannte er diesen Gegenstand als ein Schwert. Als ein Schwert vom Claymore-Typ vielmehr.

Crispin Quent kam zurück. Bevor Tony zu ihm blickte, sah er noch, wie Sier mit einem schnellen und überraschend kräftigen Tritt das Schwert unter einem Sofa verschwinden ließ.

Mühsam schob sich Quent einen Stuhl heran und drückte Tony zurück auf den anderen. Seine parfümierte Hand blieb auf Tonys Schulter, während die andere nach Tonys Hand griff.

»So«, sagte Quent lang gezogen und mit einem schwer überhörbaren Unterton von Erwartung.

»Nun haben wir endlich Zeit füreinander.«

Die bemalten Lippen lächelten Tony aufmunternd an, und der war sich sicher, dass von ihm irgendeine Bemerkung erwartet wurde. Ihm fiel aber keine ein und diejenige, die er gerne gesagt hätte: Ich will hier raus und Lassen Sie Ihre verdammten Flossen von mir erschienen nicht angebracht.

»Nun«, sagte Quent, »warum so schüchtern? Oder ist das für Sie das erste Mal?«

Das Quieken, das ihm aus der Kehle schlüpfen wollte, konnte Tony mit zusammengebissenen Zähnen noch einmal an der Flucht hindern. Aber er spürte, dass ihm die Augen fast aus den Höhlen fielen. Glaubte diese parfümierte Schwuchtel vielleicht, er würde jetzt … würde jetzt mit ihr … …?

 

Die Vorstellung schüttelte Tony durch, eine Bewegung, die Quent registrierte. Er lehnte sich ein wenig zurück, ohne jedoch dabei Tonys Schulter oder Arm freizugeben und schaute Tony aufmerksam an. Die forschenden Augen wirkten wie Fremdkörper in dem gepuderten Gesicht, wie etwas Echtes und Wertvolles auf einer billigen Papierunterlage. Tony errötete und wandte sich ab. Sier saß mit übergeschlagenen Beinen auf einem Tischchen und rieb sich immer noch die Handgelenke, auf denen dunkelrote Flecken zu sehen waren.

»Verzeihen Sie die Neugier«, fuhr Quent sanft fort, »aber ich glaube, da es mich angeht, darf ich neugierig sein. Wie wollen Sie es denn machen? Auf eine Art, die eindringt? Oder auf die, sagen wir, umschlingende Art?«

Derjenige, der so laut nach Luft schnappte, musste Tony selbst sein, glaubte Tony. Er hatte nur noch den Wunsch wegzulaufen, aber die Hand auf seiner Schulter übte einen Druck aus, der nicht körperlich war, ihn aber dennoch lähmte. Hilfe suchend blickte Tony zu Sier und sah in blaue Augen, die ihn nun seinerseits ein wenig fragend und verständnislos anschauten.

Es half jetzt nur noch eins. Er musste alle Karten auf den Tisch legen und irgendwie zur Tür kommen.

Tony räusperte sich.

»Ich fürchte, ich muss Ihnen ein Geständnis machen.«

»Nun«, mischte sich unvermutet die helle und doch raue Stimme von Sier ein, »wir wissen, was Sie sagen wollen. Also sparen Sie sich die Mühe. Bringen wir es hinter uns.«

Quent schüttelte missbilligend den Kopf und daher ließ sich Tony von Sier nicht beirren.

»Ich bin mit einer gestohlenen Einladung hier erschienen«, führte Tony schnell sein Geständnis zu Ende.

»Das wissen wir«, schnappte Sier, was Quent wieder mit einem Kopfschütteln kommentierte.

 

Schlagartig wurde Tony einiges deutlich. Natürlich wussten sie es.

»Also hat Heathercroft Sie schon darüber informiert, dass ich auf seinen Trick mit der geklauten Karte reingefallen bin? Ich hoffe, Sie hatten was zu lachen. Ich würde nämlich gerne darüber lachen, so blöde wie ich war«, sagte Tony. Er fühlte sich erleichtert. Er würde diesen nicht unbedeutenden Sieg Heathercrofts konzidieren müssen. Und damit seine unehrenhafte Entlassung aus den Diensten Ihrer Majestät. Sie hatten ihn hereingelegt, und er, Tony Tanner, war wie ein Trottel in jede Falle getappt, die sie ihm aufgebaut hatten. Er hatte Heathercroft unterschätzt. Er hatte nicht auf seinen Vater gehört. John Tanner hatte es ihm so oft gesagt: Glaube nie, dass andere blöd sind!. Tony Tanner hatte Heathercroft für von Grund auf blöde gehalten. Es war ein Fehler gewesen. Aber – so folgerte er weiter, und seine Gedanken flossen leicht und ungehindert – er hatte wohl eine andere Bestimmung, als die Auftritte der Royals im Rest der Welt vorzubereiten. Auf Wiedersehen British Travel Agency – und Guten Tag in Collesalvetti und in den Diensten der Fraternidad! So sinnierte er und fand sich damit ab, dass er die profanen Dinge abschütteln musste wie lästige Schuppen. Erst als ihm das verständnislose Schweigen der beiden anderen auffiel, blickte er wieder auf.

»Wer ist Heathercroft?«, fragte Quent.

Das erschien Tony Tanner nun entschieden zu viel der Schauspielerei. Aber er beherrschte seinen aufsteigenden Ärger und beschloss, auch die nächste Runde mit Gelassenheit zu beginnen.

»Heathercroft ist derjenige, dem ich die Karte geklaut habe. Oder genauer, nicht ich habe die Einladungskarte gestohlen, sondern eine Freundin, die sie mir weitergegeben hat.«

Das Geständnis hatte unerwartete Auswirkungen. Quent nahm seine Hand von Tonys Schulter, ließ sie für einen Moment kreisen wie einen aufgescheuchten Vogelschwarm, um sie dann auf seiner anderen Hand und damit auf der darunterliegenden Hand von Tony Tanner, landen zu lassen.

»Dann sind Sie also gar nicht der, den ich erwartet hatte?«, fragte Quent leise. Auch Sier beugte sich nun gespannt zu Tony vor und zog ein ehrlich erleichtertes Gesicht.

»Nein, ich fürchte, ich bin nicht der Gast, den Sie erwartet hatten«, bestätigte Tony zögernd.

»Dann wollen Sie mich also – nicht – ermorden?«

 

Im Raum herrschte Schweigen, ein verblüfftes Schweigen, das sich endlos hinzuziehen schien.

Dann hatte sich Tony Tanner wieder in der Gewalt. Von wegen Heathercroft. Und Vater John Tanner hatte wohl auch nicht immer recht!

»Ich fürchte Ihnen gestehen zu müssen, dass Ihre Ermordung meinen eigentlichen Intentionen völlig entgegengesetzt wäre«, meinte Tony mit neu erstarkendem Selbstbewusstsein.

»Und welche Intentionen wären dies?«, mischte sich Sier wieder ein.

»Ich hatte eher gehofft, hier unter Umständen Hilfe – oder Antworten – in einem sehr … prekären Fall von persönlichem Interesse zu erlangen.«

Quent nickte verständnisvoll. Er wirkte zugleich erleichtert und verwirrt. Seine Hände drückten noch einmal Tonys Hand und ließen sie dann frei.

»Ich verstehe nicht«, murmelte Quent.

»Ich hatte gesagt, dass die Karten lügen«, antwortete ihm Sier.

»Die Karten lügen nie«, antwortete Quent, nun etwas lauter, sodass Tony ahnen konnte, dass dieses Thema ihm am Herzen lag.

»Sie mögen vielleicht nicht lügen. Aber sie können täuschen.«

»Nein, ich habe mich getäuscht«, antwortete Quent Stimme, durch die Aufregung noch etwas höher als sonst, auf Siers Bemerkung.

 

Tony erhob sich. »Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe, das lag nicht in meiner Absicht. Ich danke für diesen Abend und verabschiede mich.«

Bevor er auch nur halb von seinem Platz aufstehen konnte, drückte ihn von der einen Seite Quents Hand und auf der anderen Schulter die Hand von Sier zurück. Siers hellrotes Haar kitzelte an Tonys Wange, der volle rote Mund war ganz nah, als Sier ihm ins Ohr raunte: »Sie können jetzt nicht einfach gehen. Sie sind ein Teil des Spiels und müssen mitspielen, sonst werden wir alle Schaden nehmen.«

Der Druck von Siers Hand war erstaunlich stark, zugleich war die Hand, die nun wie zufällig über Tonys Wange strich, angenehm weich und sorgte für eine verwirrende Beschleunigung von Tonys Pulsschlag.

 

Sier trat zum Sofa und zog mit dem Fuß das Schwert hervor. So schnell, dass Tonys Augen den Bewegungen gar nicht folgen konnten, hatte Sier das Schwert mit Tritten und Griffen vom Boden in die Hand und auf die Schulter bekommen. Diese Geschicklichkeit unerreicht – nicht einmal bei dem unglücklichen Meister Ki hatte Tony solche Fertigkeit gesehen. Kühn stand Sier da, das rote Haar umspielte sein stolzes Gesicht – und Tony hatte für einen Moment die Vision, Sier sei eine Figur aus einem Manga, und die Kamera müsse nun in die Froschperspektive fahren, um Sier von unten zu zeigen, heldenhaft, mit trotzigen Riesenaugen, die mutig und sehnsüchtig zugleich in die Ferne gerichtet waren. Tony erkannte nun, wie viel Glück er gehabt hatte, dem Schwertstreich von Sier zu entgehen. Glück … oder vielleicht war es etwas anderes, etwas, das nichts mit blindem Zufall und bloßer Statistik zu tun hatte, etwas, das ihm selbst zu eigen war. Tony straffte sich.

»Um dieser für mich etwas undurchschaubaren Situation Klarheit zu verleihen, schlage ich vor, ich werde Ihnen erzählen, wie und warum ich hier hingekommen bin.«

Sier hängte das Schwert an eine Wandhalterung. Dann ließ sich Sier in einen freien Sessel fallen und legte die Beine über die Lehne.

»Wir sind ganz Ohr.«

»Ja, erzählen Sie«, rief auch Quent, »ich brauche Klarheit.«

Tonys Erklärung dauerte nicht lange.

»Es war die dreizehnte Karte«, sagte Sier.

»Wie bitte?«, jetzt verstand Tony Tanner nichts mehr. «Sie meinen die dreizehnte Karte beim Kartenlegen?«

»Nein, die dreizehnte Einladungskarte.« Das kam nun von Quent. »Die dreizehnte Einladungskarte, die gar nicht hätte gedruckt werden dürfen. Ich vergebe einmal in zwei Monaten zwölf Einladungskarten zu meinen Treffen, die ich Soiree zu nennen pflege. Die meisten Gäste kommen regelmäßig und sind mir seit Langem lieb und vertraut. Die zwölf Einladungen sollen den Kreis ein wenig erweitern und frischen Wind hineinbringen. Beim letzten Mal also wurde aus Versehen eine dreizehnte Karte gedruckt.«

»Und woher wissen Sie, dass ich die dreizehnte Karte habe? Ich meine, es könnte ja auch die neunte oder dritte sein?«, fragte Tony Tanner und wusste nicht, ob er selbst diese Frage blöde oder angebracht finden sollte.

Siers Finger winkten, und diese Geste, als ob sie sich schon seit vielen Jahren vertraut wären, wurde von Tony sofort verstanden. Er übergab seine Einladungskarte. Sier prüfte sie eine Weile eingehend.

»Es ist die dreizehnte Karte«, sagte Sier schließlich. »Sehen Sie auf die Vignette, achten Sie auf den Schwanz des linken Drachen. Er ist nicht mehr sauber gedruckt, weil die handgefertigte Platte verbraucht war. Sie ist für zwölf Drucke gemacht, dann ist sie unbrauchbar.«

»Nicht ganz – offensichtlich«, warf Tony ein.

»Bisher schon.« Sier schnippte die Einladungskarte auf den Tisch.

»Wir haben es ausprobiert. Der dreizehnte Druck ist völlig unbrauchbar«, versicherte Quent.

»Dann ist in diesem Fall alles anders gelaufen.«

»Sie haben recht, Herr Tanner«, bestätigte Quent. Er legte seine Zeigefinger auf den Mund und überlegte. »Die Dinge haben sich erstaunlich andersartig entwickelt. Ich verstehe nicht warum. Es muss Einflüsse geben, die mir bisher noch unbekannt sind.«

»Oder die Mister Crispin Quent bisher geflissentlich ignoriert hat«, kam es von Sier. Das klang nun derart besserwisserisch, dass Tony sicher war, in Sier eine Frau sehen zu müssen. Oder zu dürfen.

»Er hat die Karten gelegt und seinen eigenen Tod gesehen«, ergänzte Sier. Vorgebeugt deutete Siers Hand mitten auf Tonys Brust. »Seinen eigenen Tod, der ihm von dem Gast mit der dreizehnten Einladung gebracht wird.«

»Von mir also«, bestätigte sich Tony Tanner, was er schon wusste. Aber wenn es so war, dann musste ja Heathercroft der erwartete Meuchler sein. Heathercroft ein Mörder? Ein arroganter Idiot, ein blasierter Schürzenjäger, ein in der Wolle gefärbtes Ekelpaket – das ja. Aber ein Mörder?

Und er selbst, Tony Tanner? Wirkte er als Meuchelmörder derart überzeugend, dass man ihm den Schädel spalten wollte, um ihn an seiner Profession zu hindern?

 

Sier schien den Gedanken zu lesen.

»Meine Erfahrung mit Killern ist beschränkt. Sie interessieren mich nicht. Weder im Kino noch in der Lektüre noch in der Wirklichkeit. Und was Sie angeht – ja, Sie könnten so einer sein.«

»Warum?«

»Weil Sie immer noch einen Schritt weitergehen«, sagte Quent.

»Warum haben Sie mich nicht der Polizei übergeben? Oder sich einige Ihrer Freunde geholt, die sicherlich in der Lage gewesen wären, mich auszuschalten?«, wollte Tony wissen.

»Weil die Dinge manchmal so kommen müssen wie sie kommen. Jeder Versuch, sie zu ändern, führt zu anderen Problemen«, erklärte Quent.

»Auch wenn es um den eigenen Tod geht?«

»Auch dann. Oder besser, gerade dann. Ich wäre ein bedauernswerter Wicht, Herr Tanner, wenn ich nach einem langen Leben immer noch Angst vor dem Tod hätte. Nein, der Tod ist nur eine Pforte und ich glaube, mir genügend Wissen und sogar Weisheit zugestehen zu dürfen, um diese Pforte ohne Klagen zu durchschreiten. Allerdings …«

Quents Augenbrauen fuhren in die Höhe, und seine Hand patschte auf Tonys Schenkel.

»Nun, da es sich herausstellt, dass seltsame Kräfte den Fluss der Geschehnisse verändert haben, macht mich das natürlich auch neugierig. Außerdem habe ich Lust, auf meine Wiedergeburt ein Glas zu trinken. Sie leisten mir Gesellschaft, Herr Tanner?«

Warum nicht? Tony nickte. Kurioser konnte alles eigentlich nicht mehr werden, nicht einmal im Drogenrausch.

 

Quent machte sich wieder umständlich auf den Weg. Tony blickte ihm nach und hörte an seiner Seite ein plötzliches Rauschen. Sier, schnell wie ein Falke im Herabstoßen, hatte sich neben ihn gekniet.

»Wer sind Sie?«, fragte Sier.

Tony druckste herum und wollte mit seiner Beschäftigung in der Agentur anfangen, wurde sich aber plötzlich klar, dass nicht danach gefragt worden war. Er spürte Siers Nasenspitze an seiner Wange und den warmen Atem, als Siers in sein Ohr flüsterte. Diese Nähe kam für Tony völlig unerwartet und machte ihn beinahe hilflos.

Sier machte eine Pause. Tony Tanner hatte das Gefühl, als nötige er Sier jetzt Respekt ab, wo vorher Verachtung war, als sei er aufgerückt in Siers Ansehen, als sei das Misstrauen verschwunden und eine neue Vertrautheit bahne sich an. Das schien ihm unvorstellbar, und in ihm keimte das Bedürfnis, einen Satz zu sagen wie Ich – ich bin nicht schwul!. Er sagte diesen Satz nicht. Dafür fuhr Sier jetzt in seiner Rede fort.

»Seit meinem dritten Lebensjahr gehe ich mit Schwertern um. Ich zerteile eine Mücke im Flug. Die Chance, dass jemand mir entgeht, wenn ich mich von hinten an ihn anschleiche, um ihm dem Schädel bis zur Kehle zu spalten, ist Eins zu hunderttrilliarden. Mit anderen Worten, es ist unmöglich. Nicht, dass ich in meiner Eitelkeit gekränkt wäre. Ich bin froh, dass sich alles auf diese Weise geklärt hat. Für jemanden, der nicht einmal Milch und Eier zu sich nimmt, ist das Vergießen von Menschenblut eine lästige Verpflichtung. Also – warum sind Sie mir entgangen?«

Die Art, wie Sier mit fragenden Augen neben ihm hockte, hatte etwas Bedrohliches, etwas Bedrängendes und zugleich etwas Lockendes, eine Mischung aus Würgeschlange und Verführung, und zugleich war sie Ausdruck von kindlicher Empörung und Neugier.

 

Tony erkannte, dass Sier ihn prüfen wollte. Er rückte keinen Millimeter zur Seite, während die helle Stimme in sein Ohr flüsterte. Er hätte es nicht gekonnt, denn er wusste mit Bestimmtheit, dass seine Narben jede Bewegung mit stechenden Schmerzen quittiert hätte.

Sier glitt zur Seite, die letzte Berührung an Tonys Ohrläppchen mochte zufällig sein oder ein ironisch hingehauchter, wütender Kuss. Tony wartete, bis Sier sich wieder in den Sessel geflegelt hatte.

»Die Dinge ändern sich«, antwortete Tony der eben gestellten Frage. «Also können auch Schwerter danebenschlagen.«

»Die Dinge ändern sich, weil sich die Verhältnisse zwischen den Dingen ändern. Und diese Verhältnisse werden von Menschen gemacht.«

»Ich bin mir keiner Schuld bewusst«, verkündete Tony.

»Dann wird es aber Zeit.« Sier stieß sich mit einem kräftigen Sprung in die Höhe und half Quent, der, einen Sektkühler im Arm, in den Raum geschritten kam.

»Wir sollten in einen anderen Raum gehen«, erklärte Sier und warf einen Blick auf das Schwert an der Wand. «Dieser Vorraum ist zu unpersönlich.«

»Richtig, richtig«, bestätigte Crispin Quent. «Ich scheine etwas durcheinander zu sein, dass mir das nicht selbst eingefallen ist. Kommen Sie, Herr Tanner. Wenn Sie vielleicht den Sektkühler nehmen würden?«

Sier ließ den schweren Behälter aus reinem Silber in Tonys Arm fallen und winkte ihm zu folgen. Die Räume, die Tony nun durchschritt, vermittelten ihm den Eindruck, sich in einer Mine zu befinden, deren Gänge immer tiefer in einen Berg aus wertvollen Stoffen führten. Teppiche bedeckten den Boden und bedeckten zugleich andere Teppiche, Gobelins hingen von den Wänden, herabhängende Stoffbahnen unterteilten die Räume und begleiteten mit ihrem leisen Rauschen den Weg der Vorübergehenden. Türen wurden durch reichhaltige Verbrämungen mit wertvollen Stoffen zu geheimnisvollen Pforten erhoben, Statuen und Kunstgegenstände wurden von Stoffbahnen umrahmt. Tony erkannte golddurchwirkte Seidengewebe, glänzenden Damast und dann wieder, als reizvollen Kontrast, grobe ungefärbte Leinenbahnen, die eine Bühne für die Nachbildung eines hellenistischen Schwertkämpfers schufen. Selten hatte Tony die Empfindung gehabt, so sehr innen zu sein, in einer eigenen Welt, die Weltalter von der Umgebung des modernen London entfernt war.

Immer wenn Tony glaubte, das Prinzip der Einrichtung erkannt zu haben, stach ihm eine Einzelheit ins Auge, die diesem Prinzip widersprach. Es schien keine Gemeinsamkeit der Gegenstände zu geben und dennoch wirkte alles wie aus einem Guss, als würde durch das Wegnehmen der kleinsten Kleinigkeit der gesamte Aufbau der zerbrechlichen Schönheit ins Wanken geraten. Tony sah afrikanische Masken neben Buddhastatuen, die auf zierlichen Rokokotischchen standen, süßliche Aktbilder neben Zweihänder-Schwertern, deren Aussehen schon die Brutalität ihres Wesenszweckes dokumentierte, antike Amphoren mit pockenartigem Muschelbewuchs neben den glatten Heiligengesichtern auf russischen Ikonen. Es gab keine Kunstepoche, keine Kultur und keinen Kontinent, der in diesen Räumen nicht vertreten gewesen wäre.

 

In den Räumen herrschte eine gewaltige Stille, als würde sie hier komprimiert aufbewahrt. Es gab nur den Hauch leise wogender Stoffe und das Klappern der Sektflasche – ein Jahrgang, der einige Tausend Pfund wert war, wie Tony Tanner feststellte – in dem schweren Sektkübel.

Crispin Quent bemerkte Tonys Blicke und deutete mit großer Geste auf den Raum.

»Gefällt es Ihnen?« Die Frage war angesichts der überbordenden Dekoration geradezu banal.

»Es hat etwas von …«, Tony suchte nach den richtigen Worten, »… etwas von einem riesigen Mutterleib, in den man sich zurückzieht. Ich glaube, dass sich manche Menschen hier eingeschlossen füllen würden.«

Quent grunzte und schwieg. Tony fragte sich, ob er den Besitzer dieser Räume, der wohl auch der Einrichter gewesen war, jetzt verärgert hatte. Aber Quent schien über Tonys Meinung nachgedacht zu haben.

»Sehr gut beobachtet«, lobte er nun. »Sie haben meine Intentionen genau erfasst. Ich will mich wie ein selbstbestimmter Fötus in diese mütterliche Höhle zurückziehen, um von der Welt unbelästigt zu werden. Früher hätte es mich in solchen Räumen zum Wahnsinn getrieben. Heute liebe ich es. Es wärmt, es schützt, es bewahrt.«

 

Nach einer kleinen Pause, in der nur sein Atem zu hören war, fuhr Quent fort. »Eine Wohnung sollte das Wesen des Bewohners zum Ausdruck bringen. Wenn ich eine Behausung einrichtete – inzwischen mache ich das nicht mehr – musste ich zuerst den künftigen Bewohner kennenlernen. Ich habe mit ihm eine Weile gewohnt, wir unterhielten uns. Ich studierte ihn regelrecht, und schließlich sagte mir jeder, dass ich ihm Räume eingerichtet hätte für einen Teil seines Wesens, das er selbst noch nicht entdeckt hatte. Verstehen Sie? Man muss in seine Wohnung hineinwachsen können, sonst erstickt man wie eine Schnecke, deren Haus nicht mitwächst. Aber ich brauche nicht mehr zu wachsen. Ich schwinde und will das in Ruhe und Würde vollbringen.«

 

Tony deutete auf eine afrikanische Statue, die neben einer barocken Märtyrerfigur stand.

»Die Zusammenstellung ist …«

»Jeder Banause kann mithilfe eines Auktionskataloges eine Wohnung mit Gegenständen derselben Epoche einrichten. Das ist öde. Worauf es ankommt, ist die geistige Spannung – und die entsteht nur durch Dinge, die zusammenhängen, obwohl sie durch Meere und Zeiten getrennt sind. Heute gibt es keine Kunst mehr, die bloß einem Volk oder einem Kulturkreis gehört. Wenn die Welt zusammenwächst, unter Schmerzen, aber immerhin, dann sind alle diese Dinge Hinweise auf diese Richtung des Wachstums. Und wir alle haben tief in unserer Seele denselben Wurzelgrund, dort sind wir mit den Menschen früherer Zeiten und fremder Kulturen so sehr verbunden, als würden wir mit ihnen eine einzige Haut teilen. Wissen Sie, wenn der Raum nichts mehr bedeutet, weil man ihn so leicht überwinden kann, dann verliert auch die Zeit ihre Bedeutung. Das alles sind keine Einbahnstraßen mehr. Keine Abfolge von einst, heute, zukünftig. Es ist alles ein Netzwerk, ein Gespinst aus Raum und Zeit und ich bin sicher, dass man auch die Zeit überwinden muss wie den Raum.«

Tony dachte unwillkürlich an die seltsam kostümierten Personen bei der eben erst beendeten Soiree. Sie schienen ein Beispiel für den leichtfüßigen Sprung über Zeitschranken zu sein.

 

Noch während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, sah er auf einem zierlichen Schreibtisch einige Blätter, die mit einer schönen, altertümlichen Schrift beschrieben waren. Ohne zu wissen, woher er diese Erkenntnis hatte, war sich Tony sicher, dass diese die Schrift von Charles Parker Edward war – dem Thronprätendenten, der im Jahre 1756 lebte. Ungefähr in dem Jahr, in dem sich einige der heutigen Gäste auch befanden. Oder es zumindest durch ihre Kleidung nahelegten. Tony dachte an seinen Gesprächspartner im Rokokokostüm, an die stille Verachtung der heutigen Zeit, die aus den Worten dieses gebildeten und klugen Mannes gesprochen hatte. Für einen Moment empfand Tony einen Schwindel, als würde er in einen Abgrund schauen. Alle diese Männer, die er an diesem Abend kennengelernt hatte, waren hochgebildet, teilten gemeinsam die Verachtung der modernen Zeit, besaßen den Rückhalt alter Familien und saßen in beruflichen Stellungen, die man zwar nicht als Schlüsselpositionen bezeichnen konnte, die aber wichtig waren. Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, wischte Tony den Gedanken zur Seite. Nein, er beschloss, dies alles als eine amüsante Maskerade einzustufen. Aber wie kam es, dass Crispin Quent mit dem Thronprätendenten korrespondierte …?

 

Quent schwenkte zur Seite und drückte eine kleine Tür auf.

»Es wird Ihnen sicherlich schon aufgefallen sein, dass ich meinen globalen Universalismus in einem Bereich einschränke. Der Anblick unbekleideter Frauenkörper verursacht mir Übelkeit, egal ob gemalt, in Marmor oder aus Fleisch. Ich mag die Anwesenheit von Frauen sowieso nicht. Ausnahmen bestätigen die Regel.«

Das Geständnis kam so unerwartet und sogleich so trocken, dass Tony seine Mimik wohl nicht ganz beherrschen konnte. Quent lächelte und nötigte Tony mit einer Handbewegung, den Sektkühler abzustellen und sich zu setzen.

»Wissen Sie, Herr Tanner, ich bin mit sechs Schwestern aufgewachsen, in einem Haus, in dem es außer mir keinen Mann gab. Können Sie sich vorstellen, was ich bei Vollmond durchgemacht habe?«

Nein, da hatte Tony Tanner allerdings keine Vorstellung. Er dachte an so etwas wie Reigentanz im Mondenschein, bei dem der kleine Bruder mitmachen musste. Aber da lag Tony falsch.

»Sechs keifende, stutenbissige ältere Schwestern, die allesamt zur gleichen Zeit ihre Periode bekommen … jeder Grabenkampf muss friedvoller gewesen sein. Und dieser Geruch …« Quents Fistelstimme bekam einen gequälten Unterton, als hätte er einen Kloß in der Kehle. »Dieser Geruch … überdeckt von Schwaden von billigem Jungmädchenparfüm und darunter dieser Raubtiergeruch des sich langsam zur Paarung vorbereitenden Weibchens. Es war die Hölle. Ich gestehe, das Altern fällt leichter, wenn man sich nicht an Paradiese der Jugend erinnert, weil es keine Paradiese gab.«

 

Sier hatte sich in der Zwischenzeit um die Flasche gekümmert, sie geöffnet und den fast likörartigen Sekt in die Gläser rinnen lassen. Bei all den unvermuteten Geständnissen Quents, hatte Sier nicht mit der Wimper gezuckt. Weil sie die Ausnahme war, die die Regel bestätigt? Oder weil er sich absolut nicht angesprochen fühlen musste?

Sie prosteten sich zu und tranken schweigend. Dann beugte sich Quent vor und begann Tony über Sinn und Zweck seines Besuches auszufragen. Das meiste war schon gesagt worden, aber Quent schien das nicht registriert zu haben.

Schließlich erwähnte Tony etwas verschüchtert, dass ihm Crispin Quent auch als Esoteriker präsentiert worden war und ihm daher vielleicht bei der Suche nach einer gewissen Person helfen könnte.

Quent kicherte geschmeichelt, während Siers ernstes Gesicht noch eine Spur härter zu werden schien.

»Es ist schon seltsam, Herr Tanner«, sagte Quent, »aber ich stehe tief in Ihrer Schuld. Sie haben mir das Leben gerettet. Obwohl ich den Tod nicht fürchte und mir jeden Tag sage, dass ich mehr als eine anständige Ration von Zufriedenheit und sogar Glück bekommen habe, hänge ich doch am Leben, so kurz es auch sein mag. Nein, wehren Sie nicht ab! Mag sein, dass Sie mir nicht bewusst geholfen haben. Aber in gewisser Weise sind wir auch für die Dinge verantwortlich, die wir unbewusst und unbeabsichtigt tun. In gewisser Weise gibt es nämlich gar kein Unbewusstes, sondern nur Zimmer, die wir noch nicht betreten haben. Also werde ich Ihnen helfen. Aber bevor ich das tue, muss ich noch ein wenig mehr über Sie wissen. Geben Sie mir Ihre Hand.«

 

Zögernd folgte Tony der Aufforderung und legte seine Hand in Quents weiche Finger. Der fasste nicht etwa zu, ließ Tonys Hand nur in der seinen ruhen und schloss die Augen.

In der Stille waren nur noch die schniefenden Atemzüge Quents vernehmbar. Sier hatte das Glas abgestellt und schaute gespannt zu, das Gesicht in die Handflächen gestützt.

 

»Wissen Sie«, meldete sich Quents Fistelstimme plötzlich wieder, »ich habe die Angewohnheit, mir das Wesen meiner Besucher in einem Bild vor Augen zu führen. Wissen Sie, was ich bei Ihnen sehe …?

Tony schwieg. Seine Nackenhaare sträubten sich ein wenig, aber das mochte auch an Siers lauerndem Blick liegen.

»Ich sehe einen Krug … ja … es ist ein Krug«, redete Quent langsam und überlegend weiter, als müsste er seinen Text aus einer verwischten Buchseite ablesen.

Seine dunklen Augen waren aufgerissen und gaben dem Gesicht einen Anschein von festgefrorener Panik, ein harter Glanz ließ sie wie poliertes Glas erscheinen. Quents Blick war nach innen gerichtet, seine Finger begannen, Tonys Hand nervös, in plötzlichem Zucken, zu kneten. Wenn er sprach, gewann seine Stimme einen tieferen Tonfall, der keinen Zusammenhang mit dem üblichen Fistelklang hatte.

»Es ist ein alter verzierter Krug … mmhh, schön verziert … ich würde sagen, mykenische Verzierungen … ja, Mykene, die Stadt des Menelaos.«

»Was habe ich mit dem alten Mykene am Hut?«, fuhr Tony auf. Die wütende Reaktion war schon abgeklungen, als sie Tony erst richtig bewusst wurde. Warum regte er sich bei diesem läppischen Spiel nur so sehr auf? Er bemühte sich zu entspannen. Die Narben an seinen Schulterblättern brannten ein wenig.

»Woher soll ich das wissen?«, antwortete Crispin Quent auf die Frage mit einer Gegenfrage. »Es ist Ihre Aufgabe, Herr Tanner, das herauszufinden. Es ist jedenfalls ein wunderschöner Krug, viele kundige Hände haben ihn geschaffen und verziert. Ich glaube, er ist aus Gold, ja, bestimmt ist er aus Gold, Beutegold, zusammengeraubt auf vielen blutigen Kriegszügen – viele starben um seinetwillen. Er hat einen Schnabel zum Ausgießen …«

Mit einem Mal fühlte sich Tony, ebenso wie bei seinem Gespräch mit Mister Moon, auf eine Anklagebank versetzt. Alles in ihm wehrte sich gegen die Situation und doch gab es in einer Ecke seiner Psyche noch einen Rest an Neugier.

»Was ist in dem Krug?«, fragte Tony rau.

Quent schwieg. Sein breites, weiß gepudertes Gesicht lehnte sich auf das faltige Kinn, der Kopf lag wie im Schlaf auf der Brust. Die Haut des alten Mannes schien aus einer Substanz zu bestehen, die mit dem menschlichen Körper nicht mehr gemein hatte. So wie Quent nun Tony gegenübersaß, erinnerte er an eine Götzenstatue, die von fanatischen Anbetern mit wertvoller Kleidung behängt worden war.

Quents Augen glitzerten, sein Mund zuckte krampfhaft, öffnete sich und ließ die Zunge sehen, nur um sich wieder zu schließen. Quent stöhnte, stammelte, kämpfte mit seiner Zunge, die nicht gehorchen wollte, als wäre er trunken.

 

Neben Tony klang ein Kratzen. Sier hatte die Hände auf den Tisch gelegt und beobachtete mit geradezu wütendem Gesichtsausdruck Quents Bemühungen. Die Finger zu Krallen geformt, kratzten Siers lange Fingernägel über den Tisch.

»Ich weiß es nicht«, stöhnte Quent schließlich. »Ich weiß nicht, was darin enthalten ist. Aber der Krug ist nur halb voll.«

»Schütteln Sie den Krug und lauschen Sie!«, hörte sich Tony selbst befehlen. Quent zuckte, von Siers Seite kam ein leises Knurren, und wieder kratzten die Fingernägel über die Tischplatte.

»Es ist zugleich heiß und kalt«, murmelte Quent leise. Tony musste sich vorbeugen, um die Worte zu verstehen. Er hing an den Lippen Quents, als würde hier ein Urteil über ihn gesprochen. Wenn es eben noch so etwas wie ein halbes Spiel gewesen war, gewannen die Aussagen Quents nun Wichtigkeit, und Tony hätte sie ihm am liebsten von den bemalten Lippen gezerrt.

»Weiß und Schwarz … und Zorn, nein, mehr als Zorn, Wut ist darin enthalten.«

»Wut?«, wiederholte Tony fragend. Was sollte das eigentlich? Ärger sprang in ihm hoch. Er wollte seine Hand fortziehen, aber Quent hielt sie fest umklammert.

»Ja … Wut«, setzte er neu an. »Wut über die Dinge, wie sie sind. Über die Welt, das Leben, über sich selbst …«

»Gießen Sie das Zeug aus, los doch!«, befahl Tony.

Quent starrte, seine Augen schienen wie durch einen inneren Druck aus den Höhlen gedrängt zu werden.

»Ich kann nicht«, flüsterte Quent und nun hatte seine Stimme wieder die bekannte hohe, weibische Tonlage.

»Warum nicht?«

»Er ist verschlossen …«

»Womit?«

»Ein Pfropfen … es ist Erde und Blut, fest wie Stahl …«

Erde und Blut … jetzt erst bemerkte Tony, dass seine Hand wieder frei war und sein Arm lose von seiner Schulter hing, als gehöre er gar nicht mehr zu ihm.

Quent lächelte ihn an.

»Es ist immer wieder ein Abenteuer«, sagte er. »Sehr erfrischend für einen alten Mann – die Meere sind erobert, die Kontinente sind erforscht, aber der Blick in das Innere, immer noch ein Abenteuer.«

Mit hörbarem Genuss schlürfte Crispin Quent seinen Sekt. »Unzufrieden?«, fragte er dann über das Glas hinweg.

»Etwas indigniert über mich selbst«, antwortete Tony.

»Sehen Sie, mal abgesehen davon, dass wir hier über ein Bild reden, nur über ein Bild – denken Sie an Narziss. Ein hübsches Kerlchen, aber ein Trottel. Vielleicht ist es ganz erfrischend, wenn man sich nicht in das eigene gespiegelte Abbild verliebt. Sonst bleibt man vor dem Spiegel sitzen und sieht nur noch sich selbst – idios wie die alten Griechen sagten – und will keine Änderung. Meine persönliche Interpretation des Begriffs Idiot. Aber wir sollten nun an die Arbeit gehen.«

 

Aus einer Ecke holte Quent eine große Stadtkarte und legte sie auf den Tisch. Die Ecken rollten sich auf und mussten mit Gläsern beschwert werden. Quent drehte die Karte um neunzig Grad und arrangierte dann wieder Gläser, trat einen Schritt zurück, betrachtete das Ganze schwer atmend und mit schräg gelegtem Kopf und schob dann hier und dort ein Glas eine Winzigkeit zur Seite.

Als er sich schwer auf den Tisch stützte und die Karte betrachtete, meldete sich Sier.

»Ich mache es.«

»Warum?« Quents Erstaunen war offensichtlich.

»Ist doch egal, ich mache es.«

»Egal gibt es nicht«, gab Quent zurück und seine Stimme bekam einen schrillen Unterton. Sier zog den Kopf in den Nacken.

»Es gibt eine offene Rechnung«, antwortete Sier dann zögernd.

»Wenn das so ist.« Quent trat zurück und überließ Sier mit einer Handbewegung den Tisch.

Sier holte aus der Jackentasche eine Kette und hielt sie hoch. Klirrend fiel ein kleiner goldener Gegenstand herab und tanzte an der Kette. Erst als das Pendeln langsamer geworden war, erkannte Tony, um welchen Gegenstand es sich handelte. Es war die goldene, etwa fingerlange Nachbildung eines Claymore-Schwertes.

»Wen suchen wir?«, fragte Sier.

Tony musste eine Reihe von Fragen beantworten, dann beugte sich Sier über die Karte. Die eine Hand stützte sich auf dem Tisch ab, die andere war ausgestreckt und hielt die Kette mit dem kleinen Schwert über den Mittelpunkt der Karte.

 

Das Schwert pendelte leicht, bis es schließlich zur Ruhe kam und wie festgenagelt in der Luft hing. Die Minuten vergingen. Es war völlig still in dem Raum. Jetzt erst bemerkte Tony, dass von irgendwoher eine Uhr tickte. Das war seltsam, denn unter all den vielfältigen Einrichtungsgegenständen hatte er nirgendwo eine Uhr gesehen – als wollte Crispin Quent die verfließende Zeit aus seiner Stoffhöhle verbannen. Jetzt saß Quent im Hintergrund und beobachtete ruhig das Geschehen. Tony hatte den Verdacht, dass er eingeschlafen war.

Siers hellrotes Haar berührte die Karte. Jetzt bewegte es sich, eine Strähne schien von einem Lufthauch angerührt worden zu sein und schleifte mit leisem Geräusch über das Papier der Karte. Sier hatte sich nicht gerührt, stand immer noch wie eine Statue über den Tisch gebeugt.

Die Müdigkeit kroch in Tonys Gedanken. Er brütete über das Bild, das Crispin Quent von ihm gesehen hatte. Es gefiel ihm keineswegs, es war hässlich und fremdartig. Es hatte nichts mit ihm, mit Tony Tanner zu tun.

Seine Überlegungen wurden durch ein leises Stöhnen unterbrochen. Siers Arm schien sich zu verkrampfen. Langsam begann das Schwert über der Karte zu pendeln.

Fortsetzung folgt …

4 Antworten auf Tony Tanner – Agent der Weißen Väter – 8.25