Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Das Gespenst von Amalfi – Teil 1

Das-Gespenst-von-AmalfiDas Gespenst von Amalfi
Eine Erzählung von Robert Kohlrausch

Es war das wunderlichste Gasthaus, das ich in meinem Leben bewohnt hatte. Von der Weltabgeschiedenheit war sein Weg zur Weltoffenheit gegangen. Ehemals ein Kloster war es jetzt ein Hotel. In den früheren Zellen der Mönche hausten für kurze Wochen die Fremden aus aller Welt. Es war also ganz, verschieden von allen anderen Gasthäusern, weil es den ursprünglichen Klostercharakter in seinem Bau fast unverändert bewahrt hatte.

Dazu seine Lage, die so schön und so merkwürdig war. Auf einem steilen Felsen, der weit hinein trat ins Meer, stiegen seine leuchtend weißen Mauern hoch empor. Schon außen, von der Landstraße her, die sich mit scharfer Biegung unten um den Felsenfuß krümmte, klommen vielstufige, von bunten Petunien umblühte Treppen an den grauen, rauen Steinen hinauf, sodass der Eingang des Gasthauses bereits hoch über der weiten Meeresfläche schwebte. Drinnen aber, im ehemaligen Kloster, kamen andere, vielfach gebrochene, gewundene Treppen, und auf jeden von ihren Podesten mündeten braune Holztüren, die vielfach wieder den Zugang zu neuen, verborgenen Treppen bildeten.

Überall wohnten Geheimnisse. Man fand einen dunklen, überwölbten Gang, wo man ein Zimmer vermutete.Man fand ein Zimmer, wo man auf einen Balkon hinauszutreten gedachte.

Die größte von allen Überraschungen aber wartete des Fremden, wenn ihn die Zugangstreppe plötzlich auf einen Kreuzgang von wunderbarem Reiz hinausführte. Auf kleinen, schlanken Säulen schwebten sarazenisch-normannisch überhöhte Spitzbogen und reihten sich aneinander zu feinem, zierlichem Steingewebe, das die vier Seiten des inneren, von gewölbten Hallen rings umzogenen Viereck durchsichtig umschloss. Durch seine Maschen hindurch schaute man in den zum blühenden Garten umgewandelten Innenhof, über dem der offene Himmel als blaues Gewölbe ruhte.

Die Sonne drang heiß hinein in den umschlossenen Raum und weckte hundertfaches Blumenleben. Zu Bäumen waren die Rosensträucher emporgewachsen, und aus ihren dichten Kronen schimmerte die Blütenfülle dunkel- und hellrot hervor. Goldorangen leuchteten daneben im tiefgrünen Laub. Zarte, junge Weinranken bewegten sich leise hinter den regungslosen steinernen Bögen, auf den blanken Blättern immergrüner Sträucher lag ein aus lauter kleinen Sonnenflecken gewobenes Lichtnetz. Goldlack, Reseda, Levkojen erhellten mit ihren Blüten diesen seltsamen Klostergarten. Kunst und Natur umwoben ihn zusammen mit ihrem Duft. Gleich einem sanften Traum zog die Vergangenheit hier vorüber, und auch die Gegenwart wurde zur lieblichen Traumwelt.

Der Betrieb dieses Klosterhotels war absonderlich wie das Gebäude selbst. Es gab kaum einen gemieteten Dienstboten in ihm. In patriarchalischer Eintracht versorgte der Wirt mit einer ganzen Schar von Verwandten zusammen die Gäste. Seine Frau, seine beiden kleinen Töchter, seine Schwiegermutter blieben meist unsichtbar in den inneren Räumen des Hauses, aber mit ihm, dem Signore Domenico Castellino, bediente sein Vetter Gaetano Bannucci die Fremden bei den Mahlzeiten, ein anderer Vetter hauste drunten am Eingang des Hauses als Pförtner. Des Wirtes grauhaarige, wohl 65-jährige Tante, die brave Margherita Castellino, sorgte für alle Zimmer und humpelte, schwer von Rheumatismus geplagt, mühsam, aber unermüdlich die vielen Treppen hinauf und hinunter.

Diese ganze Verwandtschaft schaffte getreulich für des Hauses Ordnung, für das Behagen der Gäste, für Trank und Speise.

Da war aber noch ein anderes Wesen, ein reizendes, junges Geschöpf, das ihnen Besseres gab als materielles Wohl. Elena Serra, des Wirtes 21-jährige Nichte, brachte den Sonnenschein in das alte Kloster.

Mit ihrer Jugend, ihrer Anmut, ihrer schlanken Behändigkeit, ihrem Lachen und Singen war sie des Hauses verkörperter Frohsinn. Wir Fremden hatten für jeden vom Personal einen besonderen, bezeichnenden Namen erfunden, also natürlich auch für sie. Nur der Signore Domenico blieb für uns ohne Beinamen kurzweg der Padrone, die treffliche Margherita benannten wir unhöflicher Weise die Sibylle, den Pförtner den Zerberus, den Kellner Gaetano die Marionette.

Er war von gleicher Unveränderlichkeit im Äußeren wie jene Holzpuppen, und in seinem glatten Gesicht war nichts charakteristisch als die nach italienischer Art stark vorgewölbten Augäpfel und eine tiefe, senkrechte Kerbung im Kinn. Wir sagten ihm nach, er würde jeden Abend in einem Kleiderschrank aufgehängt, um am nächsten Morgen wieder herausgenommen zu werden und, von unsichtbaren Händen bewegt, mit immer gleicher Verbeugung und gleichem Lächeln sein »Buon giorno, Signori!« so gänzlich unpersönlich zu murmeln, als ob er mit einer Gesellschaft von anderen Holzpuppen spräche.

Für Elena Serra hatten wir eine weit hübschere Bezeichnung. Wir nannten sie die kleine Lazerte. Denn wenn jemals ein menschliches Wesen Ähnlichkeit mit jenen zierlichen, raschen, die Sonne liebenden und Sonne verkündenden Eidechsen hatte, die den warmen Süden so graziös verkörpern, war es dieses junge, heitere, stets bewegliche Wesen. Und Elena liebte wirklich die Sonne, ganz abweichend von der sonstigen italienischen Art. Wenn der Himmel blau war – und er wölbt sich fast immer hoch und rein über Amalfi – dann konnte sie stundenlang auf der schönen, hochgelegenen Terrasse sitzen, die den Speisesaal ins Freie hinaus fortsetzte. Durch das noch lockere Netz der darüber hingezogenen Weinranken mit ihren jungen, weichen Blättern warf die Sonne goldene Flecken auf die bewegte, schlanke Gestalt. Von Blume zu Blume, von Pflanze zu Pflanze glitt sie lazertengleich mit liebevoller Hast, goss Wasser auf die Wurzeln, brach verdorrte Blätter, pflückte neue Blüten für die Mittagstafel. Und es war, als wenn Levkojen und Goldlack eifriger dufteten, sobald sie kam. Die hängenden Weinranken suchten ihr goldbraunes Haar zu berühren, und an den Seiten der langen Terrasse hoben die mächtigen Stauden von stilvollem Akanthus ihre hohen, grau roten Blütenkerzen straff empor wie Ritter, die mit gezogenen Schwertern der Schönheit huldigen.

Elena war eine Tochter der Schwester des Wirtes, die sich weit fort in die fernen Abruzzen hinein verheiratet hatte. Sie führte dort auch ein Gasthaus, das ihr vor einigen Jahren verstorbener Mann zu schöner Blüte gebracht hatte. Für die Landbewohner allein war es gegründet worden, wenn auch hin und wieder Fremde in jene schöne Bergwelt kamen, und so hatte Frau Serra die einzige Tochter zum Bruder nach Amalfi geschickt, damit sie dort ein internationales Leben kennen lernte, womöglich auch ein wenig Kenntnis vom englischen oder deutschem erwürbe. Fürs englische hatte die hübsche Wirtstochter denn auch bald an einer guten Freundin von mir, der Amerikanerin Emily Fraser, eine Lehrerin gefunden. Sie, die stets Gütige, Tätige, Hilfreiche, hatte sich auf eine leichte, flüchtige Frage hin gleich bereit erklärt, sich der kleinen Lazerte lehrend anzunehmen, und widmete sich der Aufgabe täglich eine Stunde lang mit Eifer und überraschendem Erfolg.

Ihr gutes Beispiel hatte mich zu gleicher Dienstfertigkeit angespornt, und ich gab Elena, wenn auch nicht ebenso regelmäßig, ab und zu ein wenig Unterricht im Deutschen. Gut war es dabei, dass ich nicht zwanzig Jahre jünger war. Des reizenden Geschöpfes helle, lustige Augen hätten es mir sonst unfehlbar angetan, der Lehrer hätte sich rettungslos in seine Schülerin verliebt.

Diese flüchtig hier skizzierten Menschen bildeten das Personal eines aufregenden und unheimlichen Dramas, das ich dort in Amalfi, teils als unbeteiligter Zuschauer, teils als unfreiwillig Mitwirkender durchlebte.

Doch nein – ich habe noch eine der Hauptpersonen vergessen. Es war ein junger Geometer aus Neapel, Umberto Locatelli mit Namen. Der schon seit längerer Zeit erörterte Plan, eine Trambahn von Sorrent über die Berge hinüber nach Amalfi und weiter nach Salerno zu bauen, um die noch immer weltferne Felsenküste mit all ihrer Schönheit für den großen Verkehr zu gewinnen, schien endlich feste Gestalt anzunehmen. Ein Oberingenieur war mit Vorarbeiten für den Bahnbau betraut worden, und er hatte sich Locatelli zur Hilfe bei den umständlichen Vermessungsarbeiten mitgebracht. In unserem Hotel wohnte allerdings keiner von den beiden Herren, sie hatten sich in der Stadt einquartiert. Aber der Geometer kam fast täglich zur Hauptmahlzeit in unseren Gasthof und aß dort mit uns am gemeinsamen Tisch. Ich hegte den leisen Verdacht, Elenas Augen wirkten dabei noch anziehender als des Hauses anerkannt gute Küche, was keineswegs ein Wunder gewesen wäre. Denn sie war wirklich an Schönheit und Anmut ein seltenes Wesen, hatte von ihrer Mutter einmal ein hübsches Vermögen zu erwarten und wurde demgemäß von verschiedenen jungen Männern umworben. Einer von ihnen war ein wohlhabender Weinbauer aus Positano. Von ihm und seinen Absichten erzählte mir oft die brave Sibylle; sie war aber diesem Nicola Guazzo gar nicht sonderlich gewogen. Und ich konnte das verstehen. Wenn er sonntags nach Amalfi herüberkam und – wohl um Signore Domenico für sich zu gewinnen – ungeheure Mengen von Trank und Speise vertilgte, während er vor Elena mit einer wehenden, feurig roten Krawatte prunkte, dann war er auch mir wenig sympathisch. In seinen Augen und in seinem Wesen war etwas Berechnendes, Lauerndes, das mir nicht gefiel.

Da war der Umberto Locatelli doch ein anderer Mensch, und ich freute mich daran, wie seine Blicke hell aufleuchteten, wenn Elena mit ihrer flinken Anmut während unserer Mahlzeit einmal hereinkam, um irgend einen Auftrag zu geben oder selbst auszuführen.

Ob auch Elena ein Interesse für ihn hatte, war mir anfänglich noch zweifelhaft, obwohl es nur natürlich gewesen wäre. Denn Locatelli war in seiner Art ein ebenso schönes Menschenexemplar wie sie selbst. Auch das alte Gesetz, dass Gegensätze sich anziehen, hätte hier einmal wieder bestätigt werden können. Umbertos Augen blickten so schwermütig und ernsthaft wie die von Elena heiter und lebensfroh. Selten sah man ihn lächeln, er sprach nur das Notwendige.

Bald erfuhr ich auch, woher dieser melancholische Hauch auf seinem Wesen kam, denn ich hatte Gelegenheit, mehrfach allein mit ihm zu verkehren. Ich war nämlich nicht nur zum Vergnügen in Amalfi, mein Beruf als Kunsthistoriker hatte mich dorthin geführt. Untersuchungen an dem schönen, hochaufgetreppten Dom der interessanten Stadt waren mein Ziel. Ich wollte genau feststellen, was an Resten von Pästum nach Amalfi verschleppt und am Dom dort wieder eingemauert worden war. Locatelli hatte mich bei Tisch davon sprechen hören, und er bot mir zu meiner angenehmen Überraschung seine Hilfe bei den dazu nötigen Messungen an, da sie ja gewissermaßen in sein Fach schlugen. Dankbar ging ich darauf ein, und er leistete mir, soweit seine ziemlich beschränkte Zeit es erlaubte, bei meiner Arbeit nutzbringend Gesellschaft.

In diesem engeren Zusammensein fand ich nach und nach heraus, dass hinter seinem stillen Wesen ein leidenschaftlicher Künstlergeist verborgen war. Seine Schwermut kam nur daher, weil er gezwungen worden war, aus einem geliebten Beruf zu scheiden. Als der Sohn anscheinend vermögender Eltern geboren, war er mit Sorgfalt auf erzogen und gebildet worden. Er hatte die Studien für den ersehnten Architektenberuf in Rom beginnen dürfen; der plötzliche Tod seines Vaters, der mit finanziellem Ruin zusammenfiel, hatte seine Zukunftsträume vernichtet. Er musste sich als einfacher Geometer sein Brot verdienen und seine notleidende Mutter von seinem Verdienst noch unterstützen. Aber eine tiefe, mir höchst sympathische Liebe für die Kunst war in seinem Herzen geblieben, und wenn er von ihr sprach, dann kam ein begeisterter, beinahe seherischer Glanz in seine Augen. Sie stachen schwarz aus dem gebräunten Gesicht hervor, in dessen Formen sich ein unausgetilgter Tropfen von Sarazenenblut ankündigte.

Eine Antwort auf Das Gespenst von Amalfi – Teil 1