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Der Welt-Detektiv Band 6

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Rübezahl – Der Zauberring

Rübezahl
Der Berggeist des Riesengebirges
Sagen und Schwänke neu erzählt nach R. Münchgesang
Der Zauberring

In Schweidnitz lebte ein Apothekergehilfe, ein schwächlicher und kränklicher, sonst aber rechtschaffener Jüngling. Er hatte keinen leichten Dienst, denn er musste Tag für Tag in dem Gewölbe seines Brotherrn stehen und heilkräftige Tränklein bereiten, Pflaster schmieren, Pülverchen mischen, kochen und kühlen, und alle die Geschäfte verrichten, die in einer Apotheke nötig sind. Seinen Verpflichtungen und den Vorschriften kam er pünktlich und gewissenhaft nach, war aber mit seiner Lebenslage innerlich nicht zufrieden. Er hatte weder Eltern noch Verwandte, wenig Geld und wenig freie Zeit. Sein Streben ging hinaus in die weite Welt. Er hätte so gerne schöne Reisen unternommen, um Land und Leute, fremde Gewächse und Tiere kennenzulernen und um seine Erfahrungen später für seinen Beruf nutzbringend zu machen. Da ihm aber die Gelegenheit und die Mittel dazu fehlten, fühlte er sich wie ein Gefangener in seinem feuchten Gewölbe und sehnte sich in die Ferne, ohne Hoffnung, seinen heißen Wunsch je erfüllt zu sehen.

Einmal sandte ihn sein Brotherr, der ihn im Stillen bedauerte, in das Gebirge, damit er dort Kräuter sammle, die in der Apotheke zur Bereitung von Tee oder zum Ausziehen von kräftigen Heilmitteln verwendet werden können. In Wirklichkeit wollte er nur, dass der brave junge Mensch einmal aus dem düsteren Gewölbe heraus in die frische Bergluft käme. Daher gab er ihm ein wenig Zehrgeld, hieß ihn, sich mit Brot zu versorgen und verlangte nur, dass er am nächsten Abend vor Torschluss zurück sei.

Der junge Mann dankte mit leuchtenden Blicken, machte sich in der Frühe marschbereit und wanderte vergnügt der Schneekoppe zu. Allein das Glück war ihm nicht günstig, denn es regnete und stürmte so, dass ihm die Aussicht und die Laune bald verdorben waren. Dennoch kam er bis Hermsdorf und wollte den Berg, wenn möglich, am nächsten Morgen in der Frühe ersteigen.

Am anderen Tage hatte er mehr Glück. Er stieg bei gutem, klarem Wetter auf das Gebirge. Dort suchte er sich einen schönen Punkt und sah von da aus freudig in die Ferne, sah die Kuppen des Gebirges, ermittelte die vielen Ortschaften in der Runde sowie die Flussläufe und Täler. Auch an großem und kleinem Getier hatte er seine Freude. Ein drolliger, feister Waldhase, der in großen Sätzen über den Weg sprang, stimmte ihn heiter. Er beobachtete eine große Schwarzamsel in ihrem sorglosen Tun, belauschte einen Schmetterling auf einer Distelblüte und half einem kleinen Käfer, der im Übereifer von seinem Zweiglein heruntergepurzelt war und dummerweise auf dem Rücken lag, mit aller Vorsicht wieder auf die Beine.

Dann aber dachte er auch an den Auftrag seines Herrn und sammelte Königskerzen, Salbei, Fingerhut und andere Arzneipflanzen.

Er merkte erst später, dass ihn ein alter, unfreundlich blickender Mann, der auch Kräuter zu suchen schien, schon lange beobachtete. Dann aber grüßte er den Herrn, der wie ein Arzt aussah, sehr artig, ohne sich in seiner Beschäftigung stören zu lassen.

Jetzt erhob sich der Alte und rief dem jungen Mann zu: »Darf man fragen, was Ihr da treibt?«

»Ich sammle heilsame Kräuter für die Offizin, werter Herr.«

»Und welchem Zweck dienen sie in Eurer Offizin?«

»Wir machen daraus nützliche Arzneien gegen das Heer der Krankheiten.«

»Weshalb lässt man den Krankheiten nicht ihren Lauf? Weshalb dieser Kampf gegen die Natur?«

»Weil sonst doch die Kranken sterben würden.«

»So lasst sie sterben! Gibt es nicht Menschen genug?«

»So dürfen wir Leute von der Heilkunst nicht reden. Ob es genug Menschen gibt, kann ich nicht sagen. Ich sah so selten welche.«

»Ei seht doch! Wieder einer von den vielen jungen Leuten, die vorgeben, keine Zeit zu haben. Was sollen die Alten dann sagen, deren Tage gezählt sind?«

Darauf erzählte der junge Apotheker dem Alten, wie kümmerlich er lebe, und wie wenig Aussicht auf Erfüllung seine heiße Sehnsucht habe, die ihn in die weite Welt führen möchte.

Die Ehrlichkeit und Bescheidenheit des jungen Mannes gefielen dem Alten vom Berge – der kein anderer war als Rübezahl – so gut, dass er zu dem jungen Manne sagte: »Daheim ist’s schließlich immer am besten, und fremde Länder haben viele Schattenseiten. Nehmt diesen Ring. Wenn Ihr ihn dreht, mag er Euch von Nutzen sein! Braucht Euch nicht zu bedanken! Lebt wohl!«

Mit diesen Worten schob er dem Apotheker den Ring an den Finger und ging mürrisch davon, ohne den Dank abzuwarten, auch ohne sich umzudrehen.

Der junge Mann wusste nun zwar nicht, was er von dem Benehmen des alten Herrn halten sollte, aber es kam ihm auch eine andere Sorge. Die Zeit war ihm rasch vergangen, und er hatte jetzt den weiten Rückweg vor sich. Der kurze, schöne Aufenthalt im Gebirge war teuer erkauft durch große Strapazen, besonders gestern bei dem unfreundlichen Wetter. Da dachte er so recht aus Herzensgrund: Ach, wenn du doch schon wieder in Schweidnitz wärest! Und unwillkürlich, ohne Absicht, drehte er dabei den von jenem Alten erhaltenen Ring, und zu seinem maßlosen Erstaunen fand er sich plötzlich in Schweidnitz wieder. Soeben hatte er noch vor steilen Bergwänden, zwischen Tannen gestanden, und jetzt war er in seinem Gewölbe zwischen den Büchsen, Phiolen und Flaschen der Offizin. Da erst verstand er das Geschenk des Alten vom Berge und dankte von Herzen für diese köstliche Gabe.

Sobald er nun freie Zeit hatte, probierte er Rübezahls herrliches Geschenk. Wenn er einen Wunsch aussprach und den Ring drehte, befand er sich nach Gutdünken an dem Ort, wohin er sich wünschte, und ebenso konnte er schnell wieder daheim sein.

»In Madrid in Spanien möchte ich sein!«, rief er einstmals aus, indem er den Ring drehte, und sogleich befand er sich in jenem Theater, wo die Stiergefechte abgehalten werden. Da sah er den mächtigen Herrscher des Landes in feierlicher, steifer Pracht samt den Infanten und den Infantinnen und den Granden des Reiches in seiner Loge und eine nach Tausenden zählende Volksmenge, die das aufregende Spiel mit jubelnder Begeisterung verfolgte.

Oder er wollte Rom sehen. Blitzschnell stand er in Sankt Peter, wo gerade der Papst die Messe zelebrierte, während Pilgerscharen aus Frankreich in dieses herrlichste Gotteshaus der Welt hereinströmten.

Kam er nach Konstantinopel, so traf es sich wohl, dass der bärbeißige Großherr seine Janitscharen musterte, um an ihrer Spitze gegen die Ungläubigen zu Felde zu ziehen.

Manchmal erlebte er die wundersamsten Abenteuer. Einmal war er gegen Abend in London und sah mit Vergnügen dem Leben und Treiben im Hafen zu, sah Tausende von Schiffen und beobachtete das Ein- und Ausladen der mannigfaltigsten Güter.

Da fühlte er sich plötzlich durch starke Arme von hinten gepackt und konnte nicht verhindern, dass ihm seine Hände auf dem Rücken zusammengeschnürt wurden. Jemand warf ihm einen Sack über den Kopf, und dann wurde er mit Püffen und Scheltworten vorangedrängt und konnte merken, dass man ihn auf ein Schiff brachte. Dort ging es eine Treppe hinunter in einen mit stickiger Luft erfüllten Raum. Hier nahm man ihm den Sack und die Fesseln ab, und seine Häscher gingen davon.

Der junge Mann sah, dass er nicht allein in dem Raum war, und erfuhr von einem anderen Gefangenen, dass er »gepresst« worden sei.

Die Schiffskapitäne der großen Stadt machten sich nämlich in jener Zeit das Vergnügen, durch ihre Helfershelfer junge Leute, deren sie am Abend habhaft werden konnten, für den Dienst auf ihrem Schiffe zu kapern oder sie nach dem fernen Ostindien in die Zuckerplantagen zu schicken. Wenn da Rübezahls Ring nicht gewesen wäre! Aber es kostete dem jungen Gefangenen nur einen Wunsch und einen kleinen Druck, und er fand sich im lieben Schweidnitz wieder.

Ein anderes Mal machte der Günstling des Berggeistes sogar eine weite Reise nach Amerika und befand sich schließlich in einer damals der Kultur noch nicht erschlossenen Gegend am Rande der unendlichen Prärie. Da sah er mit den Augen des Naturfreundes die seltsamen Pflanzengebilde, die Höhlen der Tiere, die Spuren von gewaltigen Stürmen, die unendlichen Taubenschwärme in den Lüften.

Auf einmal merkte er, dass der Boden zitterte, und zugleich sah er den weiten Horizont in Flammenglut. Die Prärie brannte, und die verheerenden Flammen kamen mit Windeseile näher, der Himmel verfinsterte sich durch schwarze, funkendurchzuckte Rauchwolken, und eine riesige Herde von Büffeln, untermischt mit wilden Pferden und allen Arten von Raubtieren, raste in wahnsinniger Hast dem Ort entgegen, an dem er sich befand. Nur wenige Augenblicke, und er wäre von den unzähligen Hufen zerstampft worden doch, da half Rübezahls Ring.

Um alles kennenzulernen, begab er sich auch in das Herz des schwarzen Erdteils. Ein unendlich breiter, ihm unbekannter Strom bildete einen tosenden Wasserfall, an dem er sich sattsehen konnte. Uralte Bäume, von Affenfamilien bevölkert, standen in zauberhafter Schönheit an den schäumenden Ufern. Aber es fehlte auch nicht an Menschen. Ganz nahe erblickte er eine schwarze, fast nackte Horde, die, um einen grauenvoll geschnitzten und bemalten Fetisch herumgelagert, auch ihn aufmerksam betrachtete. Er hatte die hässliche Gesellschaft kaum ins Auge gefasst und ihre niedrigen Stirnen, das kurze Wollhaar, die raubtierartige Kieferform bemerkt, als einer, so eine Art Häuptling, etwas laut rief.

»Mrwabu krokwa trlbi quorru«, zu deutsch. »Dieser weiße Kerl muss gut schmecken«. Worauf der Chor erwiderte: »Tschorr bwil koku«, das heißt: »Scheint so, tranchieren wir ihn.«

Alsbald kam der Oberkoch samt seinen Gehilfen zähnefletschend auf den jungen Schweidnitzer zu, um ihn für die Seinen mundgerecht zu machen, aber mit Rübezahls Hilfe verschwand er zu deren Verblüffung im Handumdrehen.

Schlimm wäre es für ihn beinahe auch in Ostindien geworden.

Am Ganges duftet’s und leuchtet’s,
Und Riesenbäume blühn,
Und schöne stille Menschen
Vor Lotosblumen knien.

Dieser Vers, den er irgendwo einmal gelesen hatte, trieb ihn mächtig, das märchenhafte Wunderland mit eigenen Augen zu sehen, und da ihm das Reisen ja weder Mühe noch Kosten verursachte, kam er rasch an den heiligen Strom, sah da die entzückenden Pagoden, die wie steinerne Gedichte emporragen, sah die Riesenbilder der indischen Gottheiten, feierlich, ehrwürdig, zur Andacht stimmend, erblickte die Fakire mit ihrem wunderlichen Gebaren, die Priester in finsterer Weltfremdheit, und – wäre um ein Haar von einem Krokodil verschlungen worden. Das »heilige« Vieh schoss wie ein Blitz aus dem Strom, und ohne seine Geistesgegenwart wäre der junge Schwärmer wohl in dem ungeheuren Rachen der Bestie verschwunden. Der Zauberring Rübezahls half ihm auch aus dieser Notlage, doch blieben sein halber Rock und einer seiner Schuhe am heiligen Strom.

Wenn er reiste, fand er öfters schöne Dinge, nach denen in der Heimat starke Nachfrage war. Nach einiger Erfahrung und Übung verstand er es, Gewürze einzuhandeln, die er daheim mit mäßigem Gewinn absetzen konnte. So machte er es auch mit seltenen Tierhäuten, Elfenbein und Seide. Mehrmals glückte es ihm, Ambra am Meeresstrand zu finden, woraus die Apotheker nerven- und magenstärkende Mittel bereiten, auch Farbstoffe brachte er aus weiter Ferne mit. Dadurch erwarb er sich so viel, dass er sich in Breslau eine eigene Apotheke einrichtete, wodurch er seinen Mitmenschen helfen konnte, denn sein Sinn stand nicht nach Reichtum.

Fortan nahm er Rübezahls Güte nicht mehr in Anspruch und fühlte sich wohl daheim unter seinen Mitbürgern. Nur, wenn er erfuhr, dass durch Naturgewalten irgendwo schweres Unheil entstanden sei, da reiste er hin, um den Armen und Unglücklichen zu helfen. Ebenso wenn ihm Kunde kam, dass da oder dort eine böse Seuche ausgebrochen sei, versah er sich mit den erforderlichen Heilmitteln und verteilte sie unentgeltlich an die Notleidenden.

So war Rübezahls Geschenk zum Segen für die Menschheit geworden.