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Der Welt-Detektiv Band 6

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Fantomas – Kapitel 9.1

Nur der Ehre wegen

Die gesamte Gesellschaft war im Gerichtshof von Cahors erschienen, wo die Schwurgerichtssitzung abgehalten werden sollte. Hupende Motorfahrzeuge und altmodische, von edlen Pferden gezogene Kutschen trafen im Minutentakt ein, um ihre Herrschaften der umliegenden Herrenhäuser, die Gutsleute, gut betuchten Landeigner, angesehene Farmersleute, vergnügte Winzer abzusetzen; jeder Einzelne von ihnen entschlossen, nichts von dem »Prozess« zu verpassen, der solch eine immense Aufregung verursachte, da die Hauptfigur in ihm als guter Freund einer der ältesten Familien dieses Landstriches bekannt war; und weil er nicht bloß ein Zeuge, noch eben das Opfer, sondern vor allem der Angeklagte in diesem Fall war, auch wenn ihm auf Weisung des Gerichtes zugestanden worden war, zwischenzeitlich zu bürgen.

Verglichen mit denen in den großen Städten war dieser Gerichtssaal in Cahors klein, aber gefüllt mit einem ansehnlichen und äußerst ausgewählten Menschengedränge. Stille Grüße und gedämpfte Konversationen wurden ausgetauscht, aber eine melancholische Stimmung lag über jedem Anwesenden, und es war offensichtlich, dass diese nicht von blanker Neugierde oder gar Begierde nach schrecklichen Details angetrieben waren, sondern von dem ehrlichen Interesse an der Entwicklung des großen Dramas.

Eine der Hauptfiguren in diesem Fall wurde mit besonderer Zuneigung bedacht.

»Das ist Thérèse Auvernois, dort in der ersten Reihe! Der Vorsitzende des Gerichtes gab ihr diesen Platz. Der Polizist, der in Querelles die Zulassung erteilte, sagte es mir selbst so.«

»Ist das nicht, wo Madame de Vibray lebt, oder?«

»Ja, sie sitzt gleich neben Thérèse, diese wunderschöne Dame in Grau. Seit Madame de Langrunes Tod hat sie das Kind bei sich behalten, da sie sehr recht dachte, es sei zu schmerzvoll für die Kleine, auf Beaulieu zu bleiben. Der Familienrat hat Président Bonnet zum vorläufigen Vormund von Thérèse bestimmt. Das ist dieser große, schlanke Herr dort drüben, der eben mit dem Verwalter Dollon spricht.«

Die Baronesse de Vibray wandte sich liebevoll Thérèse zu, die erschreckend bleich in ihrem langen Trauerschleier erschien.

»Bist du sicher, dass dich dies nicht zu sehr anstrengt, mein liebes Kind? Sollen wir ein wenig nach draußen gehen?«

»Oh, nein, bitte sorgen Sie sich nicht um mich«, antwortete Thérèse. »In der Tat geht es mir gut.«

Président Bonnet saß bei den beiden Damen. Er war damit beschäftigt, pathetisch grüßende Verbeugungen mit jedem im Saal auszutauschen, der davon geschmeichelt sein könnte, ihn zu kennen. Er nahm auch an der Konversation teil und stellte sein besonderes Wissen zur Schau, indem er die Struktur des Gerichts erläuterte und darauf hinwies, wo der Gerichtssekretär saß, wo der Staatsanwalt und die Geschworenen, alles in ausführlicher Breite und vom großen Interesse der Umsitzenden begleitet, mit jedoch einer Ausnahme. Ein Mann, ganz in Schwarz gekleidet, sein Gesicht halb versteckt im riesigen Kragen seines Reiseulsters, eine dunkle Brille seine Augen verbergend, erschien ungemein gelangweilt von den Ausführungen des Beamten. Juve, denn er war es, wusste zu genau um die Vorgänge der Gerichtsbarkeit, als dass er die Erläuterungen eines Président Bonnet bedurft hätte.

Plötzlich zog ein Schaudern durch die Menge und die Unterhaltungen endeten abrupt. Monsieur Etienne Rambert warden Weg durch den Saal geschritten, in Richtung des Platzes, der für ihn vorgesehen war, unmittelbar vor der Zeugenbank und nahe einer Art Podium, wo Maître Dareuil, ein langjähriges Mitglied der Kammer von Cahors, seinen Platz einnahm. Monsieur Etienne Rambert war sehr bleich, aber es war offensichtlich, dass er mitnichten überwältigt von dem über ihm schwebenden Unglück war. In der Tat war er eine feine Erscheinung, als er sich niedersetzte und mechanisch seine Hand durch seine langen, weißen Locken gleiten ließ, welche er dabei zurückwarf und sein Haupt nahezu verteidigend gegenüber der fragenden Menge, die ihn anstarrte, erhob.

Nachdem er Platz genommen hatte, wurde eine Tür aufgeworfen und die Geschworenen traten ein, mit ihnen ein schwarz berockter Gerichtsdiener, der schrill um Ruhe bat.

»Stehen Sie auf, Messieurs! Bitte die Hüte abnehmen! Messieurs, das hohe Gericht!«

Ernsten, gemessenen Schrittes und gesenkten Hauptes wie in tiefster Meditation, bewegten sich die Richter ihren Sitzen entgegen. Der Vorsitzende erklärte die Verhandlung für eröffnet, woraufhin der Gerichtsdiener sich sofort erhob, um die Anklageschrift zu verlesen.

Der Diener am Gerichtshof von Cahors war ein vorzüglicher Mann, denn Bescheidenheit war sein kennzeichnender Charakterzug und sein Hauptanliegen schien es zu sein, Kompetenz auszustrahlen, so wenig Persönlichkeit wie möglich auszudrücken und Aufmerksamkeit für seine Person auszuschließen.

Anklagen wurden in Cahors nicht oft geführt und er hatte nur selten Gelegenheit gehabt, so tragische wie diese anstehende Anklageschrift zu verlesen, sodass es ihm an Selbstvertrauen mangelte. Mit unbetonter, monotoner Stimme las er so nervös und leise, dass niemand im Saal auch nur ein Wort verstand. Selbst die Geschworenen waren gezwungen, ihre Ellenbogen auf dem vor ihnen stehenden Schreibtisch gestützt, mit den Händen einen Hörtrichter zu formen, um zu verstehen, worum es ging.

Etienne Rambert jedoch befand sich nur wenig entfernt vom Gerichtsdiener. Er versäumte keines der Worte, und es war an seinen hin und wieder zerfahrenen Bewegungen ablesbar, dass ihn einige Passagen der Anklageschrift tatsächlich hart trafen, gar sein allgemeines Selbstvertrauen schwächten.

Als der Gerichtsdiener endete, saß Etienne Rambert ruhig, seine Stirn ruhte in seinen Händen wie niedergeschmettert vom Gewicht der Erinnerungen, aufgewühlt von der Anklageschrift. Dann durchschnitt die scharfe, dünne Stimme des Gerichtsvorsitzenden seine Gedankengänge.

»Stehen Sie auf, Monsieur!«

Bleich wie der Tod erhob sich Etienne Rambert, die Arme vor seiner Brust gefaltet. Mit fester, doch auch etwas dumpfer Stimme beantwortete er die einleitenden formellen Fragen. Sein Name lautete Hervé Paul Etienne Rambert; sein Alter, neunundfünfzig; seine Beschäftigung, Kaufmann, Besitz und Betrieb von Gummi-Plantagen in Südamerika. Danach erfolgte die förmliche Befragung, ob er die Anklageschrift, welche verlesen worden war, verstanden und begriffen hatte.

 

»Ich habe alles umfänglich verstanden«, antwortete er mit einer kleinen Geste, den gravierenden Sinn der detaillierten Fakten und das Gewicht der beigebrachten Beweise ausdrückend, welche ihm aber insgesamt Sympathie einbrachte. »Ich habe alles umfänglich verstanden, aber ich widerspreche einigen Vorwürfen, und vor allem protestiere ich mit meiner ganzen Kraft gegen die Unterstellung, ich hätte in meiner Pflicht als Ehrenmann und als Vater versagt!«

Der Gerichtsvorsitzende musterte ihn irritiert.

»Verzeihen Sie, ich beabsichtige nicht, Ihnen zu erlauben, die Verteidigung unbegrenzt zu erweitern. Ich werde Sie bezüglich der verschiedenen vorgebrachten Anklagen prüfen und Sie mögen dazu so viel verteidigen, wie es Ihnen gefällt.« Diese kaltherzige Unhöflichkeit bewirkte keine Kommentierung durch den Angeklagten und der Président fuhr fort.

»Nun, Sie haben die Anklage gehört. Sie beschuldigt Sie zunächst der Beihilfe und Begünstigung bei der Flucht Ihres Sohnes, den eine Untersuchung andernorts mit dem Mord an der Marquise de Langrune in Verbindung brachte. Und sie beschuldigt Sie des weiteren des Mordes an Ihrem Sohn, dessen Leichnam aus der Dordogne geborgen wurde, in der Absicht, Sie vor der öffentlichen Schmach zu bewahren.«

Angesichts dieser grausamen Feststellungen zeigte Etienne Rambert eine stolze Geste der Empörung.

»Mein Herr«, rief er aus, »es gibt unterschiedliche Wege, Dinge zu klären. Ich leugne nicht den Inhalt der Anklage, aber ich stelle mich gegen die Zusammenfassung, die Sie vorbringen. Niemand hat es jemals gewagt zu behaupten, dass ich meinen Sohn tötete, um der öffentlichen Schmach zu entgehen, wie Sie soeben unterstellten. Ich bin gänzlich immun gegen anderer Leute Meinung. Was die Anklageschrift beabsichtigt zu mutmaßen, das Einzige, was sie mutmaßen kann, ist, dass ich Gerechtigkeit über einen Straftäter brachte, der mich mit Schrecken erfüllt haben sollte, den ich aber dennoch nicht der Staatsanwaltschaft übergeben haben mag.«

Nun war es an dem Richter, erstaunt zu sein. Er war so an seine niedrigen Triumphe gewöhnt, die ein Richter im Gerichtssaal zu gewinnen scheint, dass er erwartet hatte, Hackfleisch aus diesem alten, gebrochenen Mann zu machen, den das Gesetz in seine mitfühlende Gnade ausgeliefert hatte. Aber er musste erkennen, dass dieser alte Mann den ausgezeichneten Mut hatte und geistvoll auf seine bösartigen Bemerkungen reagierte.

»Wir werden noch Ihr Recht diskutieren, das Gesetz gegenwärtig in Ihre eigenen Hände übernommen zu haben«, sagte er also, »aber dies ist nicht die jetzige Frage. Es gibt andere Punkte, die Ihnen gut täten, den Geschworenen zu erklären. Warum überhaupt haben Sie dickköpfig zurückgewiesen, mit dem ermittelnden Beamten zu sprechen?«

»Ich hatte keine Antworten für den ermittelnden Beamten«, gab Etienne Rambert langsam an, als wäge er jedes seiner Worte ab, »da er meiner Ansicht nach keine Fragen an mich hatte! Ich gebe nicht zu, dass ich mit etwas anderem beschuldigt werde gegen die Norm oder dass irgendeine solche Anklage gegen mich geltend gemacht werden kann. Die Anklage beschuldigt mich mit der Tötung meines Sohnes, weil ich ihn für den Mord an Madame de Langrune schuldig hielt, ihn aber niemals an den Galgen geliefert habe. Ich habe diesen Mord niemals zugegeben, mein Herr, und nichts wird mich je dazu bringen. Und dies ist der Grund, dass ich nicht mit dem ermittelnden Beamten sprechen wollte, da ich vor Gericht nichts zuzugeben habe, was mich selbst betrifft. Da diese schreckliche Tragödie meines privaten Lebens nun der Öffentlichkeit ausgesetzt war, wünschte ich auch, dass die Öffentlichkeit mich verurteilen sollte, und diese, mein Herr, wird nicht von Ihnen als professionellem Richter, sondern von den Geschworenen vertreten, die in Kürze mitteilen werden, ob ich tatsächlich ein verbrecherischer Schuft bin. Von den Geschworenen, von denen einige selbst Väter sind, und wenn sie an ihre eigenen Söhne denken, werden diese sich fragen, welche entsetzlichen Visionen durch meinen Geist gewandert sind, als ich gezwungen war, zu glauben, mein Junge, mein eigener Sohn, hätte einen gemeinen Mord begangen! Was für eine Tragödie, werden sie denken, muss dies für einen Mann wie mich sein, mit sechzig Jahren in Ehre gelebt?«

Der Ausbruch endete in einem Schluchzer, und der ganze Saal war von Mitgefühl bewegt. Frauen wischten ihre Augen, Männer husteten, selbst die Geschworenen bemühten sich heftig, die Emotionen zu unterdrücken, die sie erfasst hatten.

Der Richter starrte trotzig im Saal umher und richtete nach einer kurzen Pause erneut seine sarkastischen Phrasen an den Angeklagten.

»Dies ist also der Grund, dass Sie stumm blieben bei den Ermittlungen, ist es das, Monsieur? Eigenartig! Äußerst eigenartig! Ich bewundere die Interpretation, die Sie um Ihre Pflicht als Ehrenmann spinnen. Dies ist – altmodisch!«

Etienne Rambert unterbrach seine spöttische Ansprache. »Ich bin mir ziemlich sicher, Monsieur, dass hier einige Menschen sind, die mich verstehen und mir beipflichten.«

Die Feststellung war so gezielt persönlich, dass der Richter sie wieder aufnahm.

»Und ich bin mir ziemlich sicher, dass Menschen mit Prinzipien mich verstehen werden, wenn ich ihnen Ihr Benehmen aufgezeigt habe, wie es wirklich war. Sie haben eine Vorliebe für Heroismus; es ist nicht ohne Belang, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Ihre Haltung im Verlauf dieser Affäre war wie beschrieben. Es liegt nicht bei mir, die Angelegenheit um die Untersuchung des Mordes an Madame de Langrune, welche eines Tages abgehalten werden wird, vorwegzunehmen. Aber ich muss an den Fakt erinnern, dass Sie in dem Moment, da Sie glaubten, Ihr Sohn sei der Mörder, als Sie das blutbefleckte Tuch entdeckten, welches den Indizienbeweis seiner Schuld untermauerte, Sie – der Mann von Ehre, wohlgemerkt – niemals daran dachten, den Schuldigen der Polizei zu übergeben, die seinerzeit in der Umgebung des Schlosses anwesend war, sondern einzig daran dachten, seine Flucht abzusichern und ihm beim Entkommen zu helfen! Sie begleiteten ihn gar auf seiner Flucht und wurden somit gewissermaßen sein Komplize. Ich gehe davon aus, dass Sie dies nicht leugnen?«

Etienne Rambert wurde von seinen Emotionen geschüttelt und erwiderte mit klingendem Tonfall. »Wenn Sie der Meinung sind, mein Herr, dass dies ein Akt der Komplizenschaft meinerseits gewesen sein soll, so leugne ich dies nicht nur, sondern ich werde es von den Hausdächern aus kundtun! Ich wurde Komplize eines Mörders, indem ich ihn zur Flucht verleitete, nicht wahr? Sie vergessen, Monsieur, in dem Moment, in dem ich glaubte, mein Sohn sei der Schurke – da war ich noch nicht der Komplize, vermute ich? – gab es bereits eine Verpflichtung zwischen ihm und mir, die ich nicht wirklich brechen konnte. Er war mein Sohn! Monsieur, die Pflicht eines Vaters – und ich messe dem Wort »Pflicht« die erhabenste Bedeutung bei – kann niemals dazu führen, seinen Sohn aufzugeben!«

Ein erneutes Raunen der Sympathie ging durch den Saal, welches den Richter, der dazu mit seinen Schultern zuckte, verärgerte.

»Lassen wir diese leere Rhetorik«, sprach er. »Sie haben reichlich nette Phrasen vorzubringen, Ihr Verhalten zu verteidigen. In der Tat liegt hier Ihr Bedenken, wie die Geschworenen zweifellos richtig einschätzen werden. Ich jedoch denke, dass es vorteilhafter sein wird, die Fakten ein wenig aufzuklären. Möglicherweise nicht vorteilhafter für Sie, aber das ist, was ich hier zu tun habe. Also, würden Sie nun bitte mitteilen, ob Ihr Sohn den Mord an Madame de Langrune gestanden hat, entweder in der Nacht, als Sie ihn zur Flucht bewegten oder später? Ja oder nein, bitte.«

»Hierauf kann ich nicht antworten, Monsieur. Mein Sohn war verrückt! Ich werde nicht glauben, dass mein Sohn ein Verbrecher war! Es gab absolut kein Motiv, das ihn zu dieser Tat getrieben haben könnte, und seine Mutter ist in einer Anstalt! Dies ist die ganze Erklärung für das Verbrechen! Wenn er den Mord begangen hat, dann war dies einer vorübergehenden Unzurechnungsfähigkeit geschuldet! Er ist tot. Ich verweigere mich, seine Erinnerung mit dem Ruch von Ehrlosigkeit zu schänden.«

»Mit anderen Worten, gemäß Ihrer Darstellung hat Charles Rambert gestanden, aber Sie wollen es nicht aussprechen.«

»Ich sage nicht, dass er gestanden hat.«

»Sie überlassen es, so interpretiert zu werden.«

Etienne Rambert antwortete nicht und der Richter ging zum nächsten Punkt über.

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