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Die Trapper in Arkansas – Band 1.3

Gustave Aimard (Olivier Gloux)
Die Trapper in Arkansas Band 1
Vorspiel – Der Ausgestoßene
Kapitel 3 – Das Gericht

Am nächsten Morgen erschien die Sonne strahlend am Horizont. Der Nachtsturm hatte den Himmel vollständig von Wolken befreit. Die Vögel zwitscherten fröhlich in den Zweigen, und die ganze Natur prangte wieder in ihrem gewohnten festlichen Schmuck. Hell ertönte die Glocke auf der Hazienda del Milagro, und die Peones begannen in allen Richtungen zu laufen, indem die einen die Pferde auf die Weide führten, die anderen das Vieh zu den künstlich angelegten Prärien trieben, die einen sich aufs Feld begaben und wieder andere im Patio blieben, um die Kühe zu melken und die vom Sturm hinterlassenen Schäden zu beseitigen.

Die einzigen Überreste, welche vom Unwetter der Nacht zeugten, waren zwei mächtige Jaguare, die vor dem Tor der Hazienda tot ausgestreckt lagen. Nicht weit davon entfernt bemerkte man den Körper eines bereits halb aufgefressenen Pferdes. No Eusebio, der überall in dem Patio umherging und die Beschäftigung eines jeden sorgfältig überwachte, ließ dem Pferd das Geschirr abnehmen und es reinigen. Auch erteilte er Befehl, dass man den Jaguaren die Haut abzog. Diesen Weisungen wurde rasch Folge geleistet. Gleichwohl blieb No Eusebio unruhig, denn Don Ramon, der in der Hazienda sonst recht früh aufzustehen pflegte, war noch immer nicht erschienen. Nach der niederschmetternden Anschuldigung, welche am Abend zuvor der Juez de Letras gegen den ältesten Sohn des Hacendero ausgesprochen hatte, hatte Don Ramon seinen Dienern befohlen, sich zu entfernen. Danach knebelte er den Angeklagten, ungeachtet der Bitten und Tränen seiner Gattin, und führte den Don Inigo d’Albaceyte zu einem abgelegenen Gemach des Hauses, wo sie beide bis spät in die Nacht hinein eingeschlossen blieben. Was während dieser Zeit geschah, und welchen Einfluss das Gespräch der beiden Männer auf Rapháels Schicksal ausübte, wusste niemand — No Eusebio so wenig wie die Übrigen.

Nachdem Don Ramon den Richter in ein für ihn hergerichtetes Zimmer geführt und ihm eine gute Nacht gewünscht hatte, kehrte er zu seinem Sohn zurück, an dessen Seite die arme Mutter in Tränen zerfloss. Ohne ein Wort zu sprechen, nahm er den Knaben auf den Arm, trug ihn in sein Schlafgemach und legte ihn neben seinem Bett auf den Boden, worauf er mit dem Schlüssel die Tür abschloss, ein Paar Pistolen unter seinem Kopfkissen verbarg und sich danach zur Ruhe niederlegte. Die Nacht war nahezu abgelaufen und Vater und Sohn warfen sich in der Dunkelheit Blicke zu, wie ein paar wilde Tiere, während die Mutter vor der Tür draußen auf dem Boden kniete und leise um ihren Erstgeborenen schluchzte, dessen sie, wie ein schreckliches Vorgefühl sie fürchten ließ, für immer beraubt werden sollte.

»Hm«, murmelte der Mayoral vor sich hin, indem er achtlos an der erloschenen Zigarre saugte, »was soll aus alledem werden? Don Ramon wird unnachsichtig sein und nichts tun, was seiner Ehre zu nahe tritt. Liefert er wohl seinen Sohn der Behörde aus? Dies gewiss nicht. Aber was wird er dann tun?«

Während der würdige Mayoral noch mit solchen Betrachtungen beschäftigt war, erschienen Don Inigo Albaceyte und Don Ramon in dem Patio. Das Gesicht der beiden Männer war ernst, besonders das des Hacendero düster wie die Nacht.

»No Eusebio«, sagte Don Ramon kurz, »lasst ein Pferd satteln und vier Mann aufsitzen, dass sie diesen Kavalier nach Hermosillo begleiten.«

Der Mayoral verbeugte sich achtungsvoll und erteilte ohne zu zögern die nötigen Befehle.

»Ich danke Euch tausendmal«, fuhr Don Ramon an den Richter gerichtet fort, »Ihr rettet die Ehre meines Hauses.«

»Ihr braucht mir nicht so sehr zu danken, Señor,« versetzte Don Inigo, »denn ich schwöre Euch, als ich gestern Abend die Stadt verließ, geschah es durchaus nicht in der Absicht, Euch angenehm zu sein.«

Der Hacendero machte eine Gebärde. »Versetzt Euch an meine Stelle. Ich bin vor allem Kriminalrichter. Man tötete eine Person — ich will zugeben, einen schlimmen Burschen, aber doch einen Menschen, wie schlecht er auch sein mag. Der Mörder ist bekannt. Er galoppiert am hellerlichten Tag und angesichts aller mit einer unglaublichen Dreistigkeit durch die Stadt. Was soll ich tun? Ich muss ihn verfolgen und habe auch nicht gezögert.«

»Es ist wahr«, murmelte Don Ramon und ließ den Kopf sinken. »Es ist mir jedoch schlimm dabei ergangen. Die Schurken, die mich begleiteten, haben memmenhaft im ärgsten Sturm mich im Stich gelassen, um sich weiß Gott wo zu verbergen. Um das Unglück vollzumachen, müssen zwei Jaguare, ein Paar prächtige Tiere im Grund, sich an meine Ferse heften und mich so hart bedrängen, dass ich wie ein Klotz gegen Eure Tür strauchelte. Allerdings habe ich einen davon getötet, aber der andere war mir schon nahe genug, um mich schnappen zu können, als Ihr mir zu Hilfe kamt. Konnte ich nun noch den Sohn des Mannes verhaften, der unter Gefährdung des eigenen Lebens meins rettete? Es wäre der schwärzeste Undank gewesen.«

»Noch einmal, meinen Dank.«

»Nicht doch, wir sind quitt, das ist alles. Ich spreche nicht von den paar tausend Piastern, die Ihr mir gegeben habt, weil sie dazu bestimmt sind, meinen Luchsen den Mund zu schließen. Indes rate ich Euch, Don Ramon, Euren Sohn sorgfältig zu überwachen, denn wenn er wieder in meine Hände fällt, so wüsste ich nicht, wie ich ihn retten könnte.«

»Seid unbesorgt, Don Inigo. Mein Sohn wird nicht wieder in Eure Hände fallen.« Der Hacendero sprach diese Worte mit so düsterer Stimme, dass der Richter sich schaudernd umwandte.

»Seht Euch vor, was Ihr tun wollt«, sagte er.

»Oh, fürchtet nichts,« versetzte Don Ramon. »Ich treffe bloß meine Vorkehrungen, weil ich nicht wünsche, dass mein Sohn auf dem Schafott stirbt und meinen Namen in den Schmutz zieht.«

In diesem Moment wurde das Pferd herbeigeführt. Der Juez de Letras warf sich in den Sattel. »Gott befohlen denn, Don Ramon«, sagte er in nachsichtigem Ton. »Seid klug. Der junge Mensch kann sich noch bessern. Er hat lebhaftes Blut, das ist alles.«

»Lebt wohl, Don Inigo,« entgegnete der Hacendero so trocken, dass damit jede Erwiderung abgeschnitten wurde.

Der Richter schüttelte den Kopf und begann, beide Sporen einlegend, einen scharfen Trab, wobei er noch dem Hacendero mit der Hand ein Lebewohl zuwinkte. Sein Geleit folgte ihm. Don Ramon schaute ihm nach, bis der Gast seinen Blicken entschwunden war. Danach begab er sich mit großen Schritten in die Hazienda zurück.

»No Eusebio,«, sagte er zu dem Mayoral, »läutet die Glocke, um die Peones und die anderen Diener der Hazienda zu versammeln. Der Mayoral betrachtete seinen Gebieter erstaunt und beeilte sich sodann, den erhaltenen Befehl auszuführen.

»Was hat dies zu bedeuten?«, sprach er zu sich selbst.

Auf den Ruf der Glocke eilten sämtliche Diener herbei, ohne zu wissen, was wohl diese außerordentliche Zusammenkunft zu bedeuten habe. Sie standen in dem Raum versammelt, welcher als Speisesaal diente. Es herrschte tiefstes Schweigen. Eine geheime Beklommenheit drückte jedem das Herz zusammen. Sie ahnten ein schreckliches Ereignis. Nach einigen Minuten erschien auch Donna Jesusita mit ihren Kindern, Rapháel ausgenommen, und nahm auf einer in einer Ecke des Saals angebrachten Erhöhung Platz. Ihr Antlitz war blass, ihr Auge vom Weinen gerötet. Endlich trat Don Ramon ein. Er war ganz in schwarzen Samt ohne Stickerei gekleidet. Eine schwere goldene Kette hing über seine Brust. Ein breitkrempiger schwarzer, mit einer Adlerfeder verzierter Filzhut bedeckte sein Haupt und ein langer Degen mit einem eisernen, polierten Stichblatt war an seiner Seite befestigt. Unter der gefurchten Stirn beschatteten gerunzelte Brauen die gleich Blitzen leuchtenden Augen. Ein Schreckensschauder überrieselte die Versammelten. Don Ramon Garillas hatte sein richterliches Gewand angelegt. Sollte also Gericht gehalten werden? Über wen?

Don Ramon nahm an der Seite seiner Gemahlin Platz und machte ein Zeichen. Der Mayoral entfernte sich und trat bald darauf mit Rapháel wieder ein. Der Knabe erschien barhäuptig und seine Hände waren auf dem Rücken festgebunden. Mit niedergeschlagenen Augen und bleichem Gesicht trat er vor seinen Vater, den er achtungsvoll grüßte.

In der Zeit, in welcher diese Geschichte spielt, hatten überall, wo ein Besitztum von den Zentralbehörden entfernt und den stetigen Angriffen der Wilden ausgesetzt war, die Familienhäupter jenes patriarchalische Ansehen, welches unter dem Einfluss einer verkommenen Zivilisation mehr und mehr hinschwindet, in seiner vollen Reinheit bewahrt. Ein Vater war König in seinem Haus. Sein Urteilsspruch ließ keine Appellation zu und wurde ohne Murren oder Widerstand vollzogen.

Die Angehörigen der Hazienda kannten den festen Charakter und unbeugsamen Willen des Gebieters. Sie wussten, dass er nie verzieh und dass die Ehre ihm teurer war als das Leben. Deshalb sahen sie auch mit klopfendem Herzen einem schrecklichen Auftritt entgegen, der zwischen Vater und Sohn vor ihnen spielen sollte.

Don Ramon erhob sich und überschaute düsteren Blickes die Anwesenden.

»Hört alle her«, begann er mit nachdrucksvoller Stimme, »ich stamme aus einem alten christlichen Geschlecht, dessen Ahnen sich nie befleckt haben. Die Ehre ist in meinem Hause immer als das höchste Gut geachtet worden, und dieser Ehre der makellosen Hinterlassenschaft meiner Vorfahren, die auch ich rein zu erhalten verpflichtet bin, hat mein Erstgeborner, der Erbe meines Namens, ein unauslöschliches Brandmal angeheftet. Er zündete gestern infolge eines Spielstreites unter Gefährdung der ganzen Stadt ein Haus an und tötete einen Menschen, der sich seiner Flucht widersetzen wollte, durch einen Messerstoß. Was muss man von einem Knaben denken, der, ungeachtet seines zarten Alters, die Leidenschaften einer wilden Bestie in sich birgt? Doch, so wahr Gott lebt, soll Gerechtigkeit geschehen — strenge Gerechtigkeit!«

Nach diesen Worten kreuzte Don Ramon die Arme über der Brust und schien sich zu sammeln. Niemand wagte ein Wort zugunsten des Angeschuldigten vorzubringen. Die Häupter waren gesenkt, und jeder atmete schwer auf.

Rapháel war wegen seiner Unerschrockenheit, die vor keinem Hindernis zurückwich, wegen seiner Geschicklichkeit in der Führung eines Pferdes und von Waffen jeder Art, hauptsächlich aber wegen seines freimütigen und edlen Wesens, das einen Grundzug seines Charakters bildete, bei den Dienern seines Vaters sehr beliebt. Überhaupt mochte in einem Land, wo das Leben eines Menschen nur als eine Kleinigkeit angesehen wird, jeder in seinem Innern geneigt sein, den jungen Menschen zu entschuldigen, und in seiner Untat nur den geringen Ausbruch eines heißen Blutes zu sehen.

Donna Jesusita erhob sich. Sie hatte sich stets ohne Murren dem Willen ihres Gemahls unterworfen, den sie lange Jahre hindurch zu achten gewöhnt war. Der Gedanke zwar, nun einen Widerstand zu versuchen, erschien ihr schrecklich und goss einen eisigen Schauder in ihre Adern. Aber alle Liebesgewalt ihrer Seele drängte sich in ihrem Herzen zusammen. Sie hegte eine abgöttische Verehrung für ihre Kinder, besonders aber für Rapháel, dessen unbändiger Charakter noch der mütterlichen Sorgfalt bedurfte.

»Señor,« redete sie ihren Gatten mit von Tränen erstickter Stimme an, »bedenkt, dass Rapháel Euer Erstgeborener ist, und dass der Fehler, den er beging, wie schwer er auch sein mag, in den Augen eines Vaters Entschuldigung finden sollte. Seht mich hier,« sie warf sich auf die Knie nieder, faltete die Hände und brach in ein Schluchzen aus, »zu Euren Füßen. Ich flehe Euer Mitleid an. Gnade, Señor, Gnade für meinen Sohn!«

Don Ramon hob kalt seine Gattin, deren Antlitz von Tränen überströmte, an und nötigte sie, ihren Platz auf dem Fauteuil wieder einzunehmen.

»Hauptsächlich als Vater darf ich dem Mitleid keinen Raum geben«, sagte er. »Rapháel ist ein Mörder und Brandstifter. Er ist nicht mehr mein Sohn!«

»Was habt Ihr im Sinn?«, rief Donna Jesusita in höchstem Entsetzen.

»Was kümmert das Euch, Señora?«, erwiderte Don Ramon barsch. »Die Sorge für meine Ehre geht allein mich an. Euch genügt es, zu wissen, dass dieser Fehler der Letzte ist, den Euer Sohn begangen hat.«

»Ha!«, rief sie außer sich, »so wollt Ihr also selbst an ihm zum Henker werden?«

»Ich bin sein Richter«, erwiderte der unbeugsame Mann mit schrecklicher Stimme. »No Eusebio, haltet zwei Pferde bereit.«

»Mein Gott, mein Gott!«, rief die arme Frau, sich auf ihren Sohn stürzend und ihn mit ihren Armen umschlingend, »will mir denn niemand zu Hilfe kommen?«

Alle Anwesenden waren erschüttert. Selbst Don Ramon wischte sich eine Träne ab. »Oh!«, rief die Mutter in eitler Freude, »Gott hat das Herz dieses ehernen Mannes erweicht!«

»Ihr seid im Irrtum, Señora«, unterbrach sie Don Ramon, indem er sie rau zurückstieß. »Euer Sohn ist nicht mehr meiner. Er gehört der Gerechtigkeit.« Dann warf er seinem Sohn einen eisigen Blick zu.

»Don Rapháel«, fuhr er mit einem furchtbaren Nachdruck fort, von dem der junge Mensch unwillkürlich zusammenzuckte, »von diesem Augenblick an gehört Ihr nicht mehr zu der Gesellschaft, die Ihr durch Eure Verbrechen verletzt habt. Ich verurteile Euch, unter den wilden Tieren zu leben und zu sterben.«

Bei diesem schrecklichen Spruch wankte Donna Jesusita einige Schritte vorwärts, brach aber dann plötzlich zusammen. Sie war ohnmächtig geworden.

Bisher hatte Rapháel mit Mühe die Aufregung, welche sein Inneres durchwühlte, zurückgedrängt. Nun aber konnte er sich nicht mehr länger halten. Mit Tränen im Auge stürzte er sich auf seine Mutter und stieß einen herzzerreißenden Schrei aus: »Mutter! Meine Mutter!«

»Kommt!«, sagte Don Ramon, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte.

Der Knabe hielt inne und taumelte wie ein Betrunkener. »O seht, seht doch, Señor«, rief er unter lautem Schluchzen, »meine Mutter stirbt.«

»Ihr habt sie getötet,« entgegnete der Hacendero kalt.

Rapháel wandte sich um, als sei er von einer Schlange gestochen worden. Dann warf er seinem Vater einen Blick von seltsamem Ausdruck zu. Sein Antlitz war bleich, und er erwiderte durch die geschlossenen Zähne: »Tötet mich, Señor, denn ich schwöre Euch, wie Ihr ohne Erbarmen seid zu meiner Mutter und mir, ebenso wenig werde ich, wenn ich mit dem Leben davonkomme, später Mitleid mit Euch haben.«

Don Ramon schleuderte ihm einen Blick der Verachtung zu. »Fort«, sagte er.

»Fort«, wiederholte der Knabe mit Festigkeit.

Donna Jesusita, die allmählich wieder zur Besinnung kam, sah noch, wie im Traum, ihren Sohn sich entfernen. »Rapháel! Rapháel!«, rief sie mit kreischender Stimme.

Der Knabe hielt einen Augenblick an. Dann stürzte er sich auf sie, umarmte sie mit wilder Innigkeit und kehrte wieder zu seinem Vater zurück.

»Jetzt kann ich sterben,« sprach er. »Ich habe meiner Mutter Lebewohl gesagt.«

Sie entfernten sich.

Die Zeugen dieser Szene gingen gleichfalls auseinander, ohne dass sie es wagten, sich ihre Gedanken mitzuteilen, aber tiefer Schmerz lastete auf allen.

Unter den Liebkosungen ihres Sohnes hatte die arme Mutter aufs Neue ihre Besinnung verloren.