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Fantomas – Kapitel 6.3

»Schauen Sie sich gut diese Schraube an«, sagte er zu Monsieur de Presles. Gibt es daran etwas Ungewöhnliches?«

»Nein«, sagte der Amtsrichter.

»Doch, gibt es«, sagte Juve. »Die Verriegelung ist lose, so wie sie festgeschraubt wurde. Doch die Grundplatte, auf welcher die Verriegelung sitzt und die Tür an der Wand fixiert, ist nicht beschädigt. Wenn die Schrauben wirklich herausgedreht worden wären, hätte man die Grundplatte entfernen können.«

Als Nächstes bat Juve den Amtsrichter, die Schrauben genauer zu betrachten. »Sehen Sie auf ihnen etwas?«

Der Amtsrichter wies auf die Schraubenköpfe.

»Es gibt winzige Kratzer auf ihnen«, sagte er, eher zögerlich, denn in seinem Inneren wusste er, dass der Détective ihm überlegen war, »woraus ich schlussfolgern muss, dass die Schrauben durch den Druck, welche auf ihnen ausgeübt wurde, nicht herausgerissen worden sind, und damit …«

»Und deshalb«, unterbrach Juve ihn, »ist dies ein bloßer Vorwand, aus dem wir sicher den Schluss ziehen können und der Mörder uns dies glauben lassen möchte, dass die Tür aufgebrochen wurde, während in Wirklichkeit die Marquise ihm diese von innen geöffnet hatte. Deshalb war der Mörder ihr persönlich bekannt!«

»Der Mörder war ihr persönlich gekannt«, wiederholte er. »Ich möchte Sie an das zweifelhafte Verhalten des jungen Charles Rambert im Verlauf des Abends vor dem Verbrechen erinnern. Es verschlug Präsident Bonnet die Sprache und schockierte den Priester. Ich erinnere mich auch an seine erbliche Vorgeschichte, an seine wahnsinnige Mutter, und schließlich …«

Juve brach plötzlich ab und zog den Richter aus dem Zimmer in Charles Ramberts Schlafzimmer. Er eilte in den angrenzenden Umkleideraum, kniete sich auf den Boden und legte einen Finger auf die Mitte des Wachstuches, das über die Bretter gelegt worden war. »Was sehen Sie da, Monsieur?«

Der Amtsrichter rückte seine Brille zurecht, schaute auf den Punkt, auf welchen der Détective deutete und sah einem kleinen schwarzen Fleck. Er feuchtete einen Finger an, rieb mit ihm über die Stelle, und dann, als er seine Hand hochhob, stellte er fest, dass die Spitze seines Fingers rot gefärbt war. »Das ist Blut«, murmelte er.

»Ja, Blut«, sagte Juve, und ich schließe daraus, dass die Geschichte des blutverschmierten Handtuchs, welches Monsieur Rambert Senior unter den Sachen seines Sohnes fand, und von dessen Anblick Mademoiselle Thérèse so stark beeindruckt zu sein schien, nicht Bestandteil der Einbildung der jungen Dame war, sondern wirklich vorlag und eine Menge von belastenden Beweisen gegen den jungen Mann beinhaltet. Offensichtlich wusch er sich seine Hände über diesen Waschbecken hier. Aber ein Tropfen Blut fiel auf das Handtuch, tropfte auf den Fußboden und genügt, um ihn zu verdächtigen.«

Der Magistrat nickte. »Das ist schlüssig«, sagte er. »Sie haben nur zur Demonstration, Monsieur Juve, bewiesen, dass Charles Rambert der Schuldige ist. Es ist darüber hinaus ein Argument. Das ist überzeugend … eindeutig!«

Für einen Moment trat Stille ein, doch plötzlich sagte Juve: »Nein!«

»Nein!«, wiederholte er. »Es ist ganz richtig, dass wir vollkommen logische Argumente anführen können, um aufzuzeigen, dass der Mord von einem Angehörigen des Hauses begangen wurde und daher Charles Rambert der einzig mögliche Täter ist. Aber wir können ebenso logische Argumente in die Waagschale werfen, dass die Straftat durch eine Person, die von außen kam, begangen wurde. Es muss nicht bewiesen werden, dass er nicht durch die Eingangstür ins Haus ging.«

»Die Tür war verschlossen«, sagte der Amtsrichter.

»Das besagt nichts«, hielt Juve mit einem Lächeln dagegen. »Vergessen Sie nicht, dass es heutzutage so etwas wie ein echtes Sicherheitsschloss nicht gibt. Alle Schlösser können mit einem externen Schlüssel geöffnet werden. Hätte ich eines der guten altmodischen Fangschlösser vorgefunden, wie sie noch vor Jahren verwendet wurden, hätte ich Ihnen sagen können: Niemand steigt ein, weil der einzige Weg, um an das Schloss zu gelangen, darin besteht, wenn man die Tür aufbricht. Aber hier haben wir ein Schloss, welches mit einem Schlüssel geöffnet werden kann. Zurzeit ist kein Schlüssel vorhanden, von welchem man den Eindruck gewinnt, dass er nachgemacht worden ist. Der Mörder könnte leicht mit einem Nachschlüssel ins Haus gelangt sein.«

Der Amtsrichter erhob einen weiteren Einwand. »Wenn der Mörder von außen eingestiegen wäre, würde er unweigerlich einige Spuren rings um das Schloss hinterlassen haben. Aber es gibt keine.«

»Ja, es gibt welche«, erwiderte Juve. »Zunächst ist einmal dieses Stück einer Generalstabskarte, die ich gestern zwischen dem Schloss und der Böschung.« Als es so sprach, nahm er es aus seiner Tasche. »Es ist ein seltsamer Zufall, dass dieses Fragment die Umgebung vom Château Beaulieu zeigt.«

»Das beweist nichts«, sagte der Amtsrichter. »Ein Stück einer Karte von unserem Distrikt zu finden, ist das Natürlichste der Welt. Nun, wenn Sie den Rest der Karte in jedermanns Besitz entdecken sollten, dann …«

»Sie können versichert sein, dass ich dies so schnell wie möglich versuchen werde«, sagte Juve leise. »Aber das ist nicht das einzige Argument, das ich habe, um meine Theorie zu bekräftigen. Heute Morgen, als ich in der Nähe der Böschung spazieren ging, fand ich einige verdächtige Fußspuren. Es trifft zu, dass es am Ende des Tunnels von Verrières etliche Fußspuren gibt, da dort Streckenarbeiter bei der Arbeit sind. Doch am anderen Ende des Tunnels, wo es keine Gelegenheit für jemanden gibt, um vorbei gehen zu können, sah ich, dass die Erde der Böschung, eigentlich vom Frost gefroren, von etwas aufgewühlt wurde, als ob jemand die Böschung hinaufgeklettert ist. Die Schuhspitzen waren in die Erde getrieben worden, um Halt zu finden. Ich konnte deutlich erkennen, wohin die Spur führte. Aber leider ist der Boden dort sehr trocken und die Fußabdrücke nicht deutlich zu erkennen, um den Träger jener Schuhe identifizieren zu können. Die Tatsache bleibt jedoch, dass jemand die Böschung hinaufstieg, der etwas mit der Eisenbahn zu tun hat.«

Der Richter schien nicht von Juves Entdeckung beeindruckt zu sein. »Und bitte, was denken Sie, welche Schlussfolgerungen sollten daraus gezogen werden?«, fragte er.

Juve setzte sich in einen Sessel, warf seinen Kopf zurück und schloss die Augen, als ob er in einen langen Monolog verfallen wollte, und fing an, seine Gedanken laut auszusprechen.

»Angenommen, wir würden die beiden Hypothesen zu einer kombinieren; nämlich, dass der Mörder vor der Ausführung des Verbrechens im Schloss war und dieses direkt, nachdem die Tat vollbracht war, verließ. Man sollte meinen, Monsieur, dass dies die kriminelle Vollendung seiner Tat darstellt, wen der Täter einige Meilen zwischen Beaulieu und der Eisenbahn zurücklegt, einen vorbeifahrenden Zug erwischt und auf seinem Weg an der Stelle die Böschung hinaufklettert, an der ich, wie ich bereits erwähnte, die Spuren fand.«

»Ich würde meinen«, erwiderte der Amtsrichter, »dass Sie nicht so ohne Weiteres auf einen fahrenden Zug aufspringen können wie auf eine vorbeifahrende Straßenbahn. Darüber hinaus verkehren nachts keine Schnellzüge zwischen Brives und Cahors.«

»Ganz recht«, sagte Juve, »ich will bloß darauf hinweisen, dass infolge der Arbeiten an der Strecke zurzeit alle Züge am Anfang des Tunnels seit den letzten zwei Monaten angehalten haben. Falls der Mörder geplant hatte, auf diesem Weg zu flüchten, könnten ihm die regelmäßigen Stopps durchaus zugutegekommen sein.«

Die Zuversicht des Richters litt ein wenig durch die neuen Schlussfolgerungen des Détective, aber er unterbreitete noch einen weiteren Einwand. »Wir haben keine Spuren rund um das Schloss gefunden.«

»Genau genommen haben wir dies in der Tat nicht«, gab Juve zu, »jedoch sollte klar sein, dass der Mörder, falls er in der Nacht über den Rasen lief, und dies hat er wahrscheinlich sogar, keine Spuren hinterlassen konnte, da noch kein Morgentau vorherrschte. Nun weiß jeder, dass dieser erst in den frühen Morgenstunden aufsteigt. Gras, welches durch einen Menschen oder ein vorbeihuschendes Tier niedergetreten wird, richtet sich nach einer Weile wieder auf. Somit wurden alle Spuren vernichtet und niemand kann genau sagen, ob er den Weg über den Rasen genommen hat. Trotz allem habe ich vor dem Fenster des Zimmers, in welchem der Mord begangen wurde, zwar keine Fußabdrücke, jedoch Anzeichen dafür gefunden, dass die Erde an dieser Stelle etwas eingedrückt wurde. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass, wenn ich aus dem Fenster im ersten Stock auf die weiche Oberfläche eines Rasens springe und die Spuren, die meine Schuhe hinterlassen haben, beseitigen möchte, sowohl das Erdreich als auch das Stück Rasen auf gleiche Weise geebnet werden müssten, um keine Spuren zu hinterlassen. Ich spreche davon, dass dies offenbar gemacht worden ist.«

»Ich möchte einen Blick darauf werfen«, sagte Monsieur de Presles.

»Nun, das dürfte nicht schwierig sein«, erwiderte Juve. »Kommen Sie mit!«

Fortsetzung folgt …