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Dunkle Stunden

Dunkle Stunden

Lange hat man geglaubt, dass die Töchter und Söhne der Finsternis Kreaturen des Bösen seien – Dämonen, um gefürchtet zu werden, als wären sie die ursprüngliche Ausgeburt der dunkelsten Ecken unserer Albträume. Schon immer haben die Menschen die Finsternis in Verbindung mit dem Bösen gebracht, vielleicht aus dem einfachen Grund, dass wir im Dunkeln nichts sehen können und die Dinge, vor den wir uns fürchten und verstecken, darauf warten, um zuschlagen zu können. Die gleichen Dinge, die uns in der Dunkelheit erwarten, waren bereits dort, als es noch hell war. Doch im Dunkeln wirken sie auf uns bedrohlicher. Als Kinder haben wir das Fürchten gelernt, als Erwachsene dieselben Beweggründe übernommen. Seitdem ist die Angst in unserer Psyche verankert.

Es gibt Theorien, die besagen, dass Licht und Dunkelheit eine Einheit bilden und im Widerspruch zueinander stehen. Wenn wir über das Licht als eine Linie philosophieren, so steht es das eine Ende und die Dunkelheit das andere. In der Mitte, wo sie sich treffen, herrscht eine Mischung von beiden – Dämmerung.

Verschließen wir uns der Dunkelheit, beginnen wir langsam uns selbst zu zerstören, indem wir uns dem Zugriff auf ein wesentliches Element unserer Natur verweigern. Für die Menschheit ist sie weiterhin vorhanden. Wir sollten die Tatsache, dass wir selbst Nachkommen der Dunkelheit sind, diese ein Aspekt unserer Schöpfung und keineswegs böse oder bedrohlich ist, akzeptieren. An uns liegt es, die wahre kreative Natur der Dunkelheit zu erleben.

Finster ist es tief in meinem Herzen.
Vor mir steht der Kelch, gefüllt mit Leid.
Verloschen ist das Licht der letzten Kerzen.
Unter kalten Himmeln voller Einsamkeit.

Aller Glaube ist verschwunden.
Gefesselt ist mein Geist in stiller Pein.
Die Hoffnung stirbt in diesen Dunklen Stunden.
Denn ich weiß, ich bin allein.
(
Vanessa Kaiser)

Vanessa Kaiser und Thomas Lohwasser machten sich seit 01. Januar 2013 in Zusammenarbeit mit dem Torsten Low Verlag auf die Suche nach den Dunklen Stunden in den Geschichten der Autoren.
Was verbirgt sich hinter jener Dunkelheit? Ist sie der leise Jäger, der das Licht verschlingt, den Horizont oder gar die Welt? Ist sie der Schrei, der sich durch die Seele brennt, durch Gedanken und Gefühle, eine Spur der Verwüstung im Gefolge? Ist sie wie der stete Tropfen, der unablässig Herz und Geist aushöhlt, bis nichts zurückbleibt außer Leere?
Oder ist die Dunkelheit bloß der Mantel, der sich über das Grauen legt, der Mantel, unter dem etwas lauert, etwas Namenloses, etwas Böses, oder doch etwas gänzlich anderes?
Und was verbirgt sich hinter den Stunden selbst? Ein kurzer Moment oder eine ganze Ewigkeit? Entspringen sie messbarer Zeit oder bloßem Gefühl?

Insgesamt wurden 296 Geschichten eingereicht. Die Herausgeber Vanessa Kaiser und Thomas Lohwasser suchten aus diesem Berg an Storys diejenigen heraus, welche sie für gut befunden haben, um in die Anthologie aufgenommen zu werden.

Das Buch

Vanessa Kaiser, Thomas Lohwasser (Hrsg.)
Dunkle Stunden
Horror, Anthologie, Torsten Low Verlag Meitingen/Erlingen, Oktober 2014, 426 Seiten, 14,90 Euro, ISBN: 9783940036261, Umschlaggestaltung und Illustrationen: Vee-Jas – Juliane Seidel und Tanja Meurer

Kurzinhalt: Dunkelheit. Ratten, die diese bevölkern. Dazwischen ein einzelner Mensch, dem nichts anderes geblieben ist als zu hoffen …
Ein finsteres Verlies. Etwas ist darin eingesperrt und wartet auf seine Abholung. Doch seine Wärter trauen sich nicht hinab, sie verhandeln miteinander, vielleicht losen sie. Der mit dem kürzesten Strohhalm muss hinuntersteigen …
Ein Professor für Quantenphysik, der sich mit seinen Experimenten weit hineingewagt hat in eine Welt jenseits aller Vorstellungskraft – und zu nahe an etwas, das er einmal für Gott hielt …
Diese und weitere packende Visionen aus Düsternis, Grauen und Verzweiflung versammeln sich in der Dunkelheit zwischen den Buchdeckeln und warten darauf, im Licht der Leselampe enthüllt zu werden. Doch auch Nachdenkliches, Verspieltes und selbst eine Prise Humorvolles schlummert verborgen zwischen den Seiten. 25 Geschichten, die Atmosphäre atmen und an die man sich erinnert – mit einem Lächeln auf den Lippen oder mit einem angenehmen Schauer im Nacken.

In der Anthologie sind folgende Autoren mit ihren Geschichten vertreten:

  • Tobias Wulf: Licht, Dunkelheit und Ratten
  • Moritz B. Hampel: Ungezügel
  • Bettina Ferbus: Die Quelle der Inspiration
  • Thilo Corzilius: Durch die Nacht
  • Hanna Nolden: Gefangen
  • Jan-Christoph Prüfer: Nur Scheiße
  • Sabrina Železný: Symphonie der Lichter
  • Mateusz Broniarek: Symbiont
  • Michael Rapp: Zehn Talente
  • Dag Roth: Der Krieger
  • Markus K. Korb: Träume vom Abgrund
  • Anke Höhl-Kayser: Mitsommerdämon
  • Matthias Töpfer: Frau Legnowski und die Qualen der Hölle
  • Udo Kirchem: Grenzgänger
  • Torsten Scheib: Die Dunkelheit im Herzen
  • Christian Damerow: Nicht vom Land, nicht von der See
  • Andreas Gruber: amazon.jp
  • Moritz B. Hampel: Larventanz
  • Tom Daut: Beschissen
  • Anke Höhl-Kayser: Nacht
  • Matthias Töpfer: Das Ballettmännchen
  • Thomas Karg: Endlich frei
  • Oliver Plaschka: Die kreisende Schwärze
  • Fabienne Siegmund: In dunklen Stunden
  • Vanessa Kayser und Thomas Lohwasser: Der letzte Gast

Leseprobe aus Die Dunkelheit im Herzen von Torsten Scheib
Ich hasse den Winter. War eine ziemlich bescheuerte Idee, sich für den Job zu bewerben. Aber als ehemaliger Knacki kann man nicht wählerisch sein. Beim letzten Mal wollte mich der Chef des Malerbetriebs dazu zwingen, unbezahlte Überstunden hinzulegen. Andernfalls hätte er mir irgendeine Sauerei in die Schuhe geschoben, die mich mit hundertprozentiger Sicherheit zurück in den Bau verfrachtet hätte. Und so bin ich nun hier gelandet. Am kältesten und einsamsten Ort, den man sich vorstellen kann: der Antarktis. Zwischen riesigen Bergketten und dem Rossmeer. Mitten im gottverdammten Nirgendwo. Mit der nächsten Forschungsstation fast fünfzig Kilometer entfernt – was hier gut und gerne der zehnfachen Distanz entspricht. Willkommen im Außenposten 62.

Dabei habe ich es im Grunde gar nicht mal so übel getroffen. Die Männer – und zwei Frauen – sind zwar wortkarg, begegnen mir aber nicht mit Feindseligkeit. Hauptsächlich sind es Wissenschaftsfuzzis. Keine Ahnung, was die so treiben. Erforschen den Klimawandel, untersuchen das Eis, die karge Fauna, was weiß ich. Wenn ich mit denen an einem Tisch sitze und sie mir ihr Fachchinesisch um die Ohren hauen, komme ich mir stets wie ein Fremdkörper vor. Immerhin, gestern habe ich Haber, Fischer, Kowol und ein paar andere mal eben so l-o-c-k-e-r unter den Tisch gesoffen. Ein erster Erfolg. Trotzdem herrscht zwischen mir und den anderen auch nach fast zwei Wochen ein recht – man verzeihe das Wortspiel – unterkühltes Verhältnis. Einfach, weil es nicht viel gibt, das wir uns zu sagen haben. Ich interessiere mich für die aktuellsten Bundesligaresultate, die für Messdaten. Meine Lieblingsband ist Anthrax, die fahren auf Klassik ab. Und so weiter, und so fort. Wie gesagt – damit komme ich klar. Nach drei Jahren Knast kann dir die Einsamkeit nicht viel anhaben.

Die Dunkelheit schon.

Und damit wären wir schon beim Kern meiner beschissenen Lage. Keiner hat mir bei meiner Bewerbung von den Polarnächten erzählt. Von einem halben Jahr ohne Sonne. Okay, vielleicht hab ich damals auch vor lauter Eurozeichen in den Augen den entsprechenden Abschnitt einfach überlesen.

Trotzdem.

Sechs Monate. Ohne Sonne.

Und ich dachte, das Schlimmste läge hinter mir.

Muss jetzt weiter machen. Das Abendessen kochen. Es gibt Lachsgratin.

 

Fühle mich beschissen. Liegt weniger am Wettsaufen mit den anderen. Gegen einen Kater weiß ich entsprechende Gegenmittel. Nicht aber gegen die Albträume.

Hab zum ersten Mal seit über einem Jahr wieder vom Loch geträumt.

Das Loch … so nannten wir im Knast die Einzelzelle. Isolationshaft nannten es die Wärter. Beides ist die Hölle. Vor meiner Premiere im Loch wusste ich noch nichts davon. Hab noch den starken Mann markiert und mir vorgestellt, es würde ein Kinderspiel werden. Wie bei McQueen, wenn er in Gesprengte Ketten in den Bunker musste.

Weit gefehlt.

Sie hatten mich nackt ins Loch geschmissen. Kein Licht, keine Pritsche, kein Klo. Zu trinken gaben sie mir schales Wasser und zu essen schimmliges Brot. Wenn überhaupt. Am Tage – es war Hochsommer – herrschten mindestens fünfzig Grad, bei Nacht nicht mal fünfzehn. Die ersten achtundvierzig Stunden hielt ich es noch einigermaßen unbeschadet aus. Schlief viel. Doch am dritten Tag fing es an. Legte sich die Dunkelheit über mich.

Zuerst verlor ich mein Zeitgefühl. War auf einmal müde und konnte nicht schlafen. Und umgekehrt. Dann kamen die Halluzinationen. Die Paranoia. Die unsagbare Angst, gemeinsam mit einem Wahnsinnigen im Loch eingesperrt zu sein. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Kein Wärter ließ sich blicken. Oder … vielleicht doch. Irgendwann fand ich nämlich eine Flasche Wasser und ein Stück Brot. Beides verschlang ich heißhungrig. Ein Fehler. Mein Magen revoltierte. Ich kotzte meine Eingeweide aus – und als ich dachte, es wäre überstanden, gab mein Schließmuskel seinen Geist auf.

Irgendwann holten sie mich wieder; ich weiß nicht mehr, wann. Später erfuhr ich, dass ich fast zwei Wochen im Loch eingesperrt war. Ich war ein zitterndes, sabberndes, wimmerndes Wrack, über und über mit meinen eigenen Körpersäften und -ausscheidungen beschmiert. Sie säuberten mich mit einem Gartenschlauch. Halb so wild. Auch die Schläge mit den Knüppeln machten mir nichts aus. Aber als ich die erste Nacht auf der Krankenstation verbrachte … bin ich ausgetickt. Sie mussten mich damals mit Lederriemen ans Bett fixieren. Seitdem habe ich die grauen Schläfen. Und für die restliche Zeit im Bau war ich lammfromm. Hielt mich von Ärger fern – oder die andere Wange hin. Alles, um bloß nicht wieder zurück ins Loch geworfen zu werden. Trotzdem war ich eine Zeit lang auf einen Seelenklempner angewiesen. Sie ist auch mit der Idee gekommen, ein Tagebuch zu führen. Dadurch würde ich mich besser mit meinen Ängsten auseinandersetzen und schließlich auch verstehen können. »Im Verstehen liegt die Lösung«, hat Doc Büttner immer gesagt. Ich hab’s damals als völligen Schwachsinn abgestempelt. Jetzt weiß ich’s besser. Wenngleich diese eine, ganz spezielle Angst nicht vollständig verschwunden ist. Nur halbwegs unter Kontrolle, obwohl ich mir seit meiner Ankunft mehr als einmal die Frage gestellt habe, wie lange noch.

Es war auf jeden Fall ein langer Weg gewesen, bis ich mich halbwegs mit der Finsternis … arrangiert hatte. Wenngleich sie mir trotz allem immer wieder mal einen Besuch abstattet, ihre Fratze mein Blickfeld ausfüllt. Als wolle sie mich daran erinnern, dass sie stets ein Auge auf mich hat – und jederzeit wieder zuschlagen kann.

So wie vergangene Nacht.

Ich bin schreiend aufgewacht. Laut genug, um die halbe Station zu wecken. Lohmeyer war die Erste, die in mein Zimmer gestürmt kam. Kristina. Kris. Ich muss mich korrigieren: Sie ist nicht die hochnäsige Zicke, für die ich sie zunächst gehalten habe. Sie ist … nett. Mitfühlend. Hübsch. Kniete die ganze Zeit neben meinem Bett, während ich ihr von meinem Albtraum und meiner Vergangenheit erzählte. Schon komisch. Im Grunde ist sie eine Fremde. Trotzdem habe ich mich ihr anvertraut, als kenne ich sie schon mein halbes Leben lang.

Hat gut getan.

Ihr Haar roch nach Äpfeln.

 

Zigarettenpause. Mulmiges Gefühl. Hab den anderen Frühstück gemacht. Haber und Fischer haben gefehlt. Sind mit der Schneeraupe losgefahren. Messungen machen. Bohrungen. Hab mir zunächst nichts dabei gedacht. Schließlich haben wir gestern wieder wie die Löcher gesoffen. Doch dann habe ich das Brummen gehört. Hab das Rollo vom Küchenfenster ein Stück weit hochgezogen. Sofort konnte ich das Prickeln an meinen Nervenenden spüren. Bin gleich einen Schritt zurückgegangen. Als würde unmittelbar vor mir ein Raubtier lauern oder so. Es lag nicht an der Dunkelheit, an diesem sternen- und wolkenlosen Mittelding aus Schwarz und Blau. Nicht nur. Schwer zu erklären. Da war so ein … Gefühl, so eine … Vorahnung, dass Haber und Fischer nicht mehr zurückkehren würden. Es schnürte mir förmlich den Atem ab. Mein Bauch fing zu rumoren an. Als würden sich ein paar klobige Kieselsteine durch meine Gedärme wälzen. Eigentlich bin ich überhaupt nicht der Typ für so was, hab’s immer als bescheuerten Humbug abgetan. Ihr wisst schon – Vorahnung und solche Sachen. Aber vorhin … das war was anderes. Dieses Gefühl, diese Furcht, sie war einfach zu überzeugend, zu stark, zu echt, um das Produkt eines aufgewühlten Verstands zu sein. Keine Einbildung, definitiv nicht. Minutenlang hatte ich mich in den hintersten Winkel der Küche verkrochen, als wüsste ich, dass die Dunkelheit und das damit verbundene Unheil von draußen hier rein kommen würden. Hab gezittert. Geschwitzt. Geweint. Hab überlegt, was ich tun kann, um die anderen zu überzeugen. Wie ich es schaffe, dass Haber und Fischer umkehren.

Und dann … hab ich’s einfach verdrängt. So getan, als ob es eine Vorahnung nie gegeben hätte. Der Wodka hat mir dabei auch ganz gute Dienste geleistet. Meine Nerven beruhigt. Außerdem kann man ihn nicht riechen. Also hab ich einfach weiter gemacht mit meinem Programm. So getan als ob. Fröhlich hab ich das Geschirr abgeräumt, lächelnd hab ich das Mittagessen vorbereitet.

Bis gerade eben.

Wollte rüber in den Kühlraum und nachsehen, ob auch an Dosenpfirsiche gedacht worden war (natürlich nicht). Auf dem Weg dorthin passierte ich den Funkraum – und erneut kehrte dieses Gefühl zurück. Wie ein elektrischer Schlag, den du von den Zehen bis rauf in die Haarspitzen spürst und der dich bewegungsunfähig macht. So wie es manche Wärter im Bau gerne mit ihren Tasern getan haben. Drei Leute waren um die Funkanlage versammelt: Stationsleiter Decker, Kommunikationsleiter Willems und Kristina. Sie klangen besorgt, während sie versuchten, mit Haber und Fischer Kontakt aufzunehmen. Statt Antworten bekamen sie nur Rauschen. Willems sprach von den Wetterverhältnissen, bevor er Sonnenflecken als mögliche Ursache vorbrachte. Ist natürlich beides Schwachsinn. Das wusste er, das wusste Decker, und ich wusste es auch. Am liebsten hätte ich Decker am Kragen seiner Jacke gepackt, ordentlich durchgeschüttelt und ihm die Wahrheit ins Gesicht geschrien – ganz gleich, wie die auch aussehen möge. Haber und Fischer kehren nicht mehr zurück. Doch was dann? Ich weiß, dass Decker über meine Vergangenheit Bescheid weiß und mich auf dem Kieker hat. Hätte ich ihm was von »Vorahnungen« erzählt oder vom garantierten Ableben der beiden Wissenschaftler – er hätte mich unter Garantie in die Kühlkammer gesperrt. Oder draußen in eine Hütte. Gut möglich, dass er sogar noch einen Schritt weiter gegangen und mich als Täter abgestempelt hätte.

Nein. Das konnte und durfte ich mir nicht erlauben. Auch wenn ich mir jetzt wie ein armseliger Waschlappen vorkomme.

Also bin ich weiter stolziert; auf Knien, so weich wie zerlassene Butter. Beiläufig haben sich dabei meine und Kris’ Blicke getroffen. In ihren Augen las ich einen vertrauten Ausdruck.

Sie wusste Bescheid.

So, genug geschrieben. Werde mir noch eine Zigarette genehmigen. Oder gleich die ganze Schachtel. Und den Rest vom Wodka.

 

Achtundvierzig Stunden, seitdem wir Haber und Fischer das letzte Mal zu Gesicht bekommen haben. Noch immer nagt diese beschissene Vorahnung, die längst zu einer unumstößlichen Tatsache geworden ist, an mir wie ein verdammter Tumor. Ich glaube, allmählich fällt es auch den anderen auf. Decker wirft mir eindeutige Blicke zu. Heute Morgen war er rein »zufällig« in die Küche geplatzt und hat mir sonderbare Fragen gestellt. Über die Arbeit, die Umgebung, die anderen. Zu guter Letzt wollte er wissen, wie es mir ginge. »Gut«, lautete meine Antwort. Geflunkert, schon klar. Und nicht mal besonders gut. Aber er beließ es dabei.

Scheiße.

Nicht, dass es den anderen besser geht. Wenn ich sie antreffe, sitzen sie entweder im Aufenthaltsraum und stieren ins Leere oder stehen apathisch vor ihren Arbeitstischen oder Computern und brüten etwas aus, während draußen der Sturm heult und die gottlose Dunkelheit alles in Schwärze taucht. Der Sturm. Angeblich sei er der Grund, weshalb noch keiner eine Suchmission gestartet hat. Man braucht aber nur in die Gesichter der anderen zu blicken, um zu wissen, dass dem nicht so ist.

Sie spüren es. Sie alle. Können es sich nicht erklären. Aber es ist da.

Besonders bei Kris tut mir dieser Zustand sehr leid. Hab sie vorhin im Aufenthaltsraum erwischt. Sie kauerte auf der Couch, im Schoß ein aufgeschlagenes Buch. Leerer Blick, während es hinter ihrer Stirn arbeitete. Ich hab mich neben sie gesetzt und nichts gesagt. Erst, als sie den Kopf nach mir umdrehte, hab ich sie angeblickt. Betretenes Schweigen.

Dann hat sie mich umarmt. Ich konnte wieder den Duft ihrer Haare riechen.

Hat gut getan.

Uns beiden.

 

Wieder Albträume. Wieder vom Loch. Nur war es diesmal anders. Bestanden die Wände aus schartigem Eis. Bin nackt gewesen. Hab vor Kälte gezittert. Und aus Angst vor der Dunkelheit. Sie war greifbar gewesen. Lebendig. Schwarze Tentakel, die wie Nebel zu mir geflossen kamen. Bin zurückgewichen. Wimmernd, wie ein Baby. Hilflos. Hab mich in eine Ecke gepresst, umgeben von zerklüfteten Eisfingern.

Dann tauchte Haber neben mir auf. Er leuchtete von innen heraus. War im Eis eingeschlossen. Mit beiden Händen stemmte er sich gegen sein frostiges Verließ. BUMM. BUMM. BUMM. Jeder Schlag hörte sich wie ein Kanonenschuss an. Gleichzeitig veränderten sich seine Augen, wurden schwarz, dann zerflossen sie wie flüssiges Wachs. Zurück blieben leere Augenhöhlen. Stumme Schreie. Die Schläge. Das Knirschen von Eis, auf dem die ersten Risse erschienen. Rechter Hand gesellte sich Fischer plötzlich dazu. Machte die gleiche Transformation durch. Mit Schrecken verfolgte ich, wie die Risse immer größer wurden und schließlich die ersten Eisbrocken zu Boden fielen. Erst war ich nur geistig gelähmt, dann körperlich. Ich konnte mich nicht rühren. Ich schaute nach unten, wo sich der schwarze Nebel rankengleich um meine Füße geschlungen hatte. Dann lugte ich über die Schulter. Mein Rücken war mit dem Eis verschmolzen. Ich war gefangen. Ein wehrloses Opfer. Immer größere Eisbrocken lösten sich, gefolgt von unnatürlich grauen, von schwarzen Venengeflechten überzogenen Armen, die sich mir entgegenreckten um …

Dann bin ich aufgewacht. Diesmal ohne Geschrei. Vielleicht lag es an den aufgebrachten Stimmen, die draußen auf dem Korridor hallten. Decker und … wie hieß der Helikopterpilot noch mal? Egal. Auf jeden Fall setzte unser Stationsleiter seinem Gegenüber die sprichwörtliche Pistole auf die Brust, sprach von »Konsequenzen« und »dass Sie danach nicht mal mehr einen Modellflieger abheben lassen dürfen, wenn Sie sich jetzt weigern.« Da begriff ich: Er nahm den Typen ins Gebet. Die einzige Person in dieser gottverdammten Station, die einen Heli fliegen, uns rausschaffen kann. Sehr clever – und äußerst diplomatisch.

Vielleicht war ich zu dem Zeitpunkt noch vom Albtraum zu sehr gebeutelt, vielleicht hatte ich aber auch einfach nur Schiss. Jedenfalls bin ich nicht raus in den Korridor gestürmt, habe ich nicht eindringlich auf Decker eingeredet. Keine Ahnung, was mit mir los war. Stattdessen hab ich rüber zur Blende gestarrt, die das Fenster verdeckt. Beides klapperte, während draußen der Sturm heulend und mit voller Wucht die Station traf. Und die Dunkelheit … selbst hier drin fühlte ich sie, konnte ich spüren, dass sie stärker geworden war. Fordernder. Bösartiger.

Ich weiß, wie sich das anhören muss.

Bin schnell in meine Sachen geschlüpft. Draußen traf ich auf fassungslose Gesichter. Betretenes Schweigen. Kopfschütteln. Als ich in Kris’ Augen schaute, war da wieder dieser eigentümliche, mir so sehr vertraute Ausdruck. Keine Frage: Sie weiß, dass da draußen, in dieser kalten und lichtlosen Einöde, etwas Unheimliches vorgeht.

Etwas, das uns als Beute auserkoren hat.

Nicht lange, bis ich das Heulen der Rotoren vernahm.

Es klang endgültig – und ich bin mir ziemlich sicher: Das ist es auch.

Gewiss stehe ich mit dieser Meinung nicht alleine dar.

 

Schwerer Kopf. Bin besoffen. Gleicht einem Wunder, dass ich noch schreiben kann, nach den zwei Flaschen Wodka. Essen gab’s heute keins. Die Küche blieb kalt, alle gingen zum Wienerwald. Mieser Witz, ich weiß. Aber Essen ist hier im Moment das kleinste Übel. Wer was futtern wollte, der durfte sich einfach nehmen, was er mochte. Was lag mir dran. Ist ja ein freies Land. Außerdem bin ich hier doch eh nur der Depp. Die halten mich sowieso für einen kriminellen Proleten. Ehrlich, es ist mir scheißegal. Hauptsache, ich hab was zu saufen.

Ihr denkt, ich gebe mich auf, was? Soll ich euch was sagen: Ihr habt vollkommen recht. Ich meine, Haber und Fischer sind tot. Genauso Decker und der Helipilot – jetzt weiß ich auch seinen komischen Namen: Kowol! Der Knabe heißt, Verzeihung, hieß Kowol! Ich kann das nicht wissen, sagt ihr? Leckt mich. Ich weiß es sehr wohl. Denn ich weiß, was dort draußen ist. Was sich schon bald Einlass verschafft und diesen Außenposten wie eine verfluchte Konservendose aufreißen wird. Die Dunkelheit, jawohl! DUNKELHEIT, DUNKELHEIT, DUNKELHEIT, DUNKELHEIT! Wisst ihr, sie hat Geschmack daran gefunden. An uns. An unserer Furcht. Und jetzt will sie mehr. Haber, Fischer, Decker, Kowol – die reichen ihr nicht. Äh-äh. Jetzt will sie auch den Rest. Aber zuvor trägt sie Sorge, dass wir auch hübsch verängstigt sind, gewürzt von unseren ureigenen Ängsten und Schrecken. Sie brät uns im eigenen Saft. Ihr denkt, der Ausfall der Kommunikationsanlagen wäre ein Werk des Sturms? Wovon träumt ihr nachts? Sie war es! SIE! Die Dunkelheit! Und als Nächstes wird sie garantiert den Strom abstellen u…

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages

(wb)