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Fantomas – Kapitel 5

»Verhaften Sie mich!«

Zwölf oder dreizehn Meilen von Souillac beschreibt die Hauptstrecke von Brives nach Cahors eine ziemlich scharfe Kurve, da sie einen Hang seitlich umgeht. Die Fahrt ist eine besonders malerische, und Reisende, welche diese tagsüber machen, bekommen viel Interessantes und Angenehmes zu sehen. Während sie die Schönheit der Natur in sich aufnehmen und das Land, welches durch den Übergang von der rauen Region des Limousin zur freundlicheren Landschaft der sogenannten Le Midi gekennzeichnet ist, bewundern, taucht der Zug plötzlich in einen Tunnel ein, der für etwas mehr als eine halbe Meile durch das Innere des Berges verläuft. Den Tunnel verlassend, führt die Strecke weiter dem Hang entlang und dann abwärts in Richtung Souillac. Zwei oder drei Meilen von dieser kleinen Station als ein Knotenpunkt entfernt verläuft die Strecke entlang der Landstraße nach Salignac, umgeht für ein kurzes Stück den Corrèze, einer der größten Nebenflüsse auf der rechten Seite der Dordogne und taucht dann in das Innere des Lot-Tales ein.

Durch heftige Winterregen war der Bahndamm besonders in der Nähe des Tunnelportals ernsthaft beschädigt worden. Eine Reihe schwerer Stürme hatte Anfang Dezember das Schotterbett so sehr geschwächt, dass die Chefingenieure der Gesellschaft eilig herbeizitiert worden waren, um das Unheil zu begutachten. Die Experten entschieden, dass die sehr wichtigen Reparaturen am Ende des Tunnels nach Souillac erforderlich waren. Es war notwendig, ein komplettes Drainagesystem mit unterirdischen Rohren anzulegen, durch welches das Wasser zwischen dem Schotter und der Felsseite den Berg hinunterfließen konnte. Selbst die Bahnschwellen waren durch das schlechte Wetter gelöst worden. Einige von ihnen wurden so in Mitleidenschaft gezogen, sodass die Schwellennägel nicht länger festsaßen. Ein Umstand, der als umso schwerwiegender herausstellte, da die Strecke genau an dieser Stelle eine sehr scharfe Kurve beschrieb.

Rotten erstklassiger Gleisbauarbeiter waren eilig angefordert worden. Obwohl außergewöhnliche Löhne bezahlt wurden, war ein lokaler Streik ausgebrochen und seit einigen Tagen alle Arbeiten niedergelegt worden. Allmählich jedoch kamen angemessene Beratungen zustande, sodass seit mehr als eine Woche fast alle Männer ihre Werkzeuge wieder aufgenommen hatten. Dennoch, auch nach einem Monat wirkten sich diese verschiedenen Umstände auf den Zugverkehr zwischen Brives und Cahors aus, sodass regelmäßig eine halbe Stunde Verspätung einkalkuliert werden musste. Des Weiteren hatten in Anbetracht des gefährlichen Zustandes der Strecke alle Lokführer, die aus Brives kamen, die Order erhalten, ihre Züge circa 180 Meter vor dem Tunnelende anzuhalten, und alle Lokführer, welche aus Cahors kamen, ihre Züge circa 460 Meter vor dem Tunneleingang zu stoppen, sodass, sollte ein Zug während der Arbeiten auftauchen, genügend Zeit vorhanden war, um den Gefahrenbereich verlassen zu können oder die Züge solange warten mussten, bis die begonnenen Tätigkeiten am Gleis beendet werden konnten. Die Anordnung ging auch an die Arbeiter an der Strecke, um vorbeugend zu verhindern, überfahren zu werden.

***

Gerade brach der Tag an diesem grauen Dezembermorgen an, als sich die Rotte von Gleisarbeitern mit ihrem Vormann an die Arbeit machte, die neuen Schwellen, welche am Vortag heraufgebracht worden waren, am Schienenstrang zu befestigen. Plötzlich ertönte ein schriller Pfiff, und im klaffenden schwarzen Maul des Tunnels wurde das Licht von zwei Lampen sichtbar. Ein für Cahors bestimmter Zug hatte gemäß der Order angehalten und verlangte nach der Erlaubnis, passieren zu dürfen.

Der Vorarbeiter ordnete seinen Männern an, das Gleis auf beiden Seiten zu verlassen und lief zu einer kleinen, am Tunnelportal aufgestellten Hütte, wo er an einem Handsignal zog, sodass dies auf Grün stand und dem Zug signalisierte, seine Fahrt fortzusetzen.

Es ertönte ein zweiter kurzer, scharfer Pfiff, ein schweres Schnaufen entwich der Lok. Dichten schwarzen Rauch ausstoßend erschien sie langsam aus dem Tunnel, einen langen Zug von Waggons hinter sich herziehend, an denen die Fenster durch die kalte Außentemperatur überall mit Reif bedeckt waren.

Ein Mann näherte sich der Hütte, welche dem Streckenarbeiter, der für diesen Bereich der Strecke einschließlich des Tunnelabschnitts verantwortlich zeichnete, zugeteilt worden war.

»Ich nehme an, dass dies der fällige Zug aus Verrières um 06:55 Uhr ist«, sagte er flüchtig.

»Ja«, antwortete der Streckenarbeiter, »aber er ist zu spät, da die Uhr unten im Tal bereits vor mehreren Minuten sieben schlug.«

Der Zug war bereits vorübergefahren. Die drei roten Lichter am Ende des Zuges waren bereits im Morgennebel verschwunden.

Der Mann, welcher den Streckenarbeiter angesprochen hatte, war niemand anderes als François Paul, der Landstreicher, der am Tag zuvor durch den im Château von Beaulieu anwesenden Amtsrichter genau zur gleichen Zeit nach einer kurzen Vernehmung entlassen worden war. Trotz der tiefen Falten und des Stirnrunzels schien der Mann sich zu bemühen, freundlich zu erscheinen und ein Gespräch führen zu wollen.

»Es gibt nicht viele Leute in diesem Morgenzug«, stellte er fest, »besonders in den Erste-Klasse-Waggons.«

Der Streckenarbeiter schien in keiner Weise bereit, für ein paar Momente seine anstrengende und frostige Tunnelpatrouille zu verschieben. Er legte seine Picke ab, bevor er antwortete.

»Nun, ist es kein Wunder? Leute, die reich genug sind, um immer 1. Klasse zu reisen, nehmen den Expresszug, der um 02:50 Uhr nach Brives geht.«

»Ich sehe ein«, sagte François Paul, »dass dies sinnvoll ist, und praktischer für Reisende nach Brives oder Cahors. Aber wie steht es mit den Leuten, die nach Gourdon wollen, oder nach Souillac, oder Verrières, oder auf einigen der kleinen Stationen aussteigen wollen, an denen der Schnellzug nicht hält?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der Streckenarbeiter, »aber ich nehme an, dass sie in Brives oder Cahors aussteigen müssen. Anderenfalls reist man mit den Tageszügen, die zwar Brives schnell erreichen, aber anschließend langsam unterwegs sind.«

François Paul wollte in dieser Angelegenheit keinen Druck ausüben. Er zündete sich eine Pfeife an und hauchte auf seine klammen Finger.

»Es sind harte Zeiten, und es ist kein Missverständnis!

Der Streckenarbeiter schaute ihn betrübt an.

»Ich nehme nicht an, dass Sie ein unabhängiger Monsieur sind, aber warum versuchen Sie nicht, hier übernommen zu werden«, schlug er vor. »Sie brauchen hier jede Hand.«

»Oh, stimmt das?«

»Es ist so, wie ich es sage. Da ist der Vorarbeiter, der gerade kommt. Möchten Sie, dass ich mich für Sie verwende?«

»Nur keine Eile«, erwiderte François Paul. »Natürlich sage ich nicht Nein. Aber ich möchte gern sehen, welche Art von Arbeit es ist, die hier gemacht wird. Vielleicht entspricht sie nicht meinen Vorstellungen. Ich brauche noch etwas Zeit, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln.« Den Blick auf den Boden gerichtet, entfernte sich der Landstreicher langsam von dem Streckenarbeiter.

Der Vormann lief ihn über den Weg und erreichte den Streckenläufer am Tunneleingang.

»Nun, Michu, wie geht es dir? Hast du immer noch die alten Beschwerden?«

»Mittelmäßig, Chef«, antwortete der ehrenwerte Gefährte. »Ich kann mich gerade noch auf den Beinen halten, müssen Sie wissen. Und wie geht es Ihnen selbst? Was macht die Arbeit? Wann werden Sie dies hier beenden? Ich weiß nicht, ob Sie es wissen, aber diese Züge, die regelmäßig in meinem Abschnitt anhalten, machen mir eine Menge Arbeit.«

»Wie das?«, hakte der Vorarbeiter verwundert nach.

»Die Lokführer nutzen den Halt aus, um ihre Aschekästen zu entleeren. Und sie hinterlassen dort in meinem Tunnel einen großen Haufen Unrat. Ich bin verpflichtet, diesen zu beseitigen. Gewöhnlicherweise laden sie ihn sonst wo ab. Wo genau, kann ich nicht sagen. Aber nicht in meinen Tunnel. Das ist alles, worüber ich mir Sorgen mache.«

Der Vormann lachte. »Du bist ein feiner Kerl, Michu! An deiner Stelle würde ich die Gesellschaft bitten, mir einen Mann oder zwei zu geben.«

»Und nehmen Sie an, dass die Gesellschaft dies tun würde«, erwiderte Michu. »Übrigens, dieser arme Teufel, der dort läuft, vor Kälte und Hunger zitternd, beschimpfte mich eben erst. Ich empfahl ihm, Sie zu bitten, ihn einzustellen. Was denken Sie, was er sagte? Na, dass er erst einen Blick auf die Arbeit werfen wolle. Und zack, weg war er.«

»Fakt ist, Michu, dass es sehr schwer ist, Leute ausfindig zu machen, die es heutzutage ernst meinen. Es stimmt allerdings, dass ich mehr Hände benötige. Aber wenn mich dieser Bursche nicht bittet, ihn von einer Minute auf die andere zu verpflichten, dann trete ich ihn in den Arsch. Die Trasse ist kein Volkseigentum. Ich kann diesen Lausbuben nicht trauen, welche immer wieder kommen und sich unter die Arbeiter mischen, um zu sehen, welchen Unfug sie machen können. Ich werde nun gehen und einen Blick über die Bolzen und Dinge werfen, da es alle Sorten von Landstreichern überall in der Nachbarschaft gerade jetzt gibt.«

»Und Verbrecher auch«, sagte der alte Michu. »Ich nehme an, dass sie vom Mord im Château von Beaulieu gehört haben?«

»Na klar doch! Meine Männer sprechen über nichts anderes. Aber du hast recht, Michu, ich werde einen genauen Blick auf alle Fremden werfen, und einen besonderen auf deinen Freund.«

Der Vorarbeiter hielt abrupt an. Er hatte den Böschungsfuß untersucht und blieb abwartend stehen. Der Streckenläufer folgte seinem Blick und verharrte ebenfalls. Nach einigen Momenten Stille schauten sich die zwei Männer an und lächelten. Im Halblicht des Tales hatten sie einen Gendarmen gesehen. Er war zu Fuß und schien nach jemandem zu suchen, da er keinen Versuch unternahm, selbst nicht gesehen zu werden.

»Gut!«, flüsterte Michu, »es ist Sergent Doucet. Ich erkenne ihn an seinen Streifen. Sie sagen, dass der Mord von niemandem begangen wurde, der aus diesem Teil des Lands stammt. Jeder mochte die Marquise de Langrune.«

»Sieh doch! Sieh doch!«, unterbrach der Vorarbeiter und zeigte auf den Gendarmen, der langsam den Bahndamm hinaufkletterte. »Es sieht so aus, als ob der Sergent dies für den Monsieur machen würde, welchen eben erst nach Arbeit suchte und darauf hoffte, keine zu finden. Der Sergent hat sicherlich eine Nachricht für ihn, was?«

»Das könnte sein«, sagte Michu, nachdem er für einen weiteren Moment das Geschehen beobachtete.

Die zwei Männer warteten mit höchstem Interesse darauf, um zu sehen, was passieren würde.

Sergent Doucet erreichte schließlich die Krone des Bahndammes und eilte an den Gleisarbeitern vorbei, die zu arbeiten aufhörten, um neugierig nach dem Vertreter der Obrigkeit zu gaffen. 45 Meter weiter lief François Paul, in Gedanken versunken, hinunter zur Station von Verrières. Er hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Als er den Sergent sah, runzelte er die Stirn. Er blickte schnell über ihn hinweg und sah, dass er mit dem Gendarmen indes allein war, sodass sie keiner belauschen konnte. Obwohl sie laut sprechen konnten, waren sie jedoch noch an einem solchen Standort, dass jedes Zeichen und jede Bewegung, die sie machten, für jemanden, der sie beobachten könnte, vollkommen sichtbar sein würde. Und als der Gendarm einige Schritte vor ihm verweilte und als bemerkenswerte Tatsache im Begriff zu sein schien, die Hand zum Gruß an sein Képi zu erheben, stieß der mysteriöse Landstreicher aus: »Ich meinte gesagt zu haben, dass mich keiner stören sollte, Sergent!«

Der Sergent machte einen Schritt vorwärts. »Ich bitte um Entschuldigung, Inspecteur, aber ich habe wichtige Neuigkeiten für Sie.«

Dieser François Paul, den der Sergent so respektvoll mit Inspecteur ansprach, war kein anderer als ein Offizier der Geheimpolizei, welcher durch das Hauptquartier in Paris tags zuvor nach Beaulieu gesandt worden war.

Er war kein gewöhnlicher Offizier. Als ob Monsieur Havard eine Ahnung davon gehabt hatte, dass sich die Langrune-Angelegenheit als rätselhaft und kompliziert erweisen würde, hatte er den besten seiner Detektive ausgewählt, den erfahrensten Inspektor von allen – Juve. Es war Juve, der seit den letzten 48 Stunden im Schloss von Beaulieu als Landstreicher verkleidet herumgeschlichen war und sich mit Bouzille verhaften ließ, um seine eigenen Untersuchungen verfolgen zu können, ohne den geringsten Verdacht betreffs seiner wahren Identität zu erheben.

Man sah es Juve an, dass er sich über die suprarespektvolle Haltung des Sergent ärgerte.

»Machen Sie auf sich aufmerksam!«, sagte er leise. »Wir werden beobachtet. Wenn ich mit Ihnen zurückgehen muss, geben sie vor, ich zu verhaften. Legen Sie mir die Handschellen an!«

»Ich bitte Sie um Entschuldigung, Inspecteur. Das kann ich nicht tun«, antwortete der Gendarm.

Trotz der Antwort drehte Juve ihm den Rücken zu.

»Schauen Sie, ich werde ein oder zwei Schritt vorwärts machen, als ob ich vorhätte, davon zu laufen. Sie brauchen mir nur Ihre Hand grob auf meine Schultern zu legen. Wenn ich stolpere, und das werde ich, schnappen die Handschellen zu.«

In einer Entfernung von gut 90 Metern verfolgten der Streckenläufer, der Vormann und die Gleisarbeiter vom Tunnelportal aus das nicht zu verstehende Gespräch zwischen dem Gendarmen und dem Landstreicher. Plötzlich sahen sie, dass der Mann zu fliehen versuchte und der Sergent ihn fast gleichzeitig ergriff. Ein paar Minuten später stieg die Person, an den Händen gefesselt, gehorsam an der Seite des Gendarmen den steilen Hang des Bahndammes hinunter. Die beiden Männer verschwanden hinter einer Baumgruppe.

»Ich verstehe nun, warum der Bursche von allem hier nicht sonderlich begeistert war«, sagte der Vorarbeiter. »Sein Gewissen plagte ihn!«

Als sie forsch in Richtung Beaulieu liefen, frage Juve den Sergent: »Was ist anschließend auf dem Schloss geschehen?«

»Sie wissen, wer der Mörder ist, Inspecteur«, antwortete der Sergent. »Die kleine Mademoiselle Thérèse …«

Ende des 5. Kapitels

Eine Antwort auf Fantomas – Kapitel 5