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Das Geheimnis zweier Ozeane 08

Ein Fetzen Papier

Pawlik trat in den menschenleeren, von weichem Licht erfüllten Gang; ihn umfing eine wohltuende Stille. Die polierten Wände des Ganges schimmerten in mattem Glanz, an den Türen hingen weiße Täfelchen mit blauen Aufschriften.

Pawlik war bereits an einigen Täfelchen vorbeigegangen, als er das Klicken eines Türschlosses hörte und in der Tiefe des Ganges eine sich eilig entfernende Gestalt erblickte.

Skworeschnja, dachte der Junge und beschleunigte seine Schritte, um den Freund einzuholen; ihm fiel aber gleich darauf ein, dass Skworeschnjas Kajüte sich hinter der Gangbiegung befand und dass es daher jemand anders sein müsste.

Unmittelbar darauf hörte Pawlik, wie jemand hinter der Gangbiegung in ein Luk hinabstieg; er schaute auf das Täfelchen an der Tür, aus welcher der andere gekommen war. »Fjodor Michailowitsch Gorelow, Maschinen-ingenieur«, las er. Als er weitergehen wollte, bemerkte er auf dem Fußboden einen Papierfetzen. Das passte so gar nicht zu der im Gang herrschenden Sauberkeit; das Stückchen Papier missfiel Pawlik, da er noch nie im U-Boot etwas herumliegen gesehen hatte. Er bückte sich und hob das Papier auf, um es in die nächste Öffnung der Kehrichtleitung zu werfen. Da wurde seine Aufmerksamkeit auf einige merkwürdige Zeichen und Worte auf dem Zettel gelenkt: »… gassomeer … genaue Koordinaten …« Was ist das, Koordinaten?, überlegte Pawlik. Man müsste Zoi fragen. Dann las er weiter: »… 7°46’36” nördlicher Breite und 5… sechshundertfünf … Rote Gürtel … sechsundzwan… Mai … achtzehn Uhr … vergessen Sie nicht das Flugb… Kro…«

Jemand fasste Pawlik vorsichtig an den Ellenbogen und beugte sich über den Papierfetzen.

Pawlik hob die Augen. Vor ihm stand Gorelow. Sein Gesicht war von einer wächsernen Blässe. Die dünnen farblosen Lippen verzogen sich zu einem krampfhaften Lächeln. In seinen tief liegenden schwarzen Augen stand Angst.

Ohne zu wissen, warum, fühlte Pawlik, wie sich diese Angst auch ihm mitteilte. Er blickte Gorelow starr an und stotterte: »Das … das habe ich gerade gefunden, Fjodor Michailowitsch.«

Das Lächeln verschwand aus Gorelows Gesicht. Er nahm den Papierfetzen aus Pawliks Hand, richtete sich auf und fragte mit heiserer Stimme:

»Wo hast du es gefunden, Pawlik? – Übrigens … es ist ein ganz belangloses Stückchen Papier. Entschuldige bitte, dass ich dich erschreckt habe … Teufel noch mal! Ich glaubte zuerst, ich hätte ein wichtiges Schriftstück verloren . .

Er zog aus der oberen Tasche seiner Uniform ein sorgfältig zusammengefaltetes Papier.

»Da ist es ja! Habe ich mich aber erschrocken! Du weißt ja, Pawlik, wie streng es bei uns mit geheimen Papieren ist … Ich steige in das Luk hinab, wende mich um und sehe gerade, wie du vor der Tür meiner Kajüte ein Papierchen aufhebst und liest … Dabei ist es nur eine ganz unwichtige Notiz.« Er schaute wieder auf den Papierfetzen, ließ ihn durch die Finger gleiten und sagte gleichgültig: »Das gehört mir gar nicht. Irgendjemand muss es verloren haben. Du bist mir doch nicht böse, Pawlik?«

Pawliks weit geöffnete Augen blickten noch ängstlich, und seine Lippen zuckten etwas, als er antwortete: »Aber nein … ich habe mich nur sehr erschrocken … Sie schauten mich so an … «, und Pawlik versuchte zu lächeln.

»Nun, dann ist ja alles in Ordnung. Wir wollen wieder Freunde sein. Wohin gehst du denn jetzt? Weißt du was, ich muss ins Elektrolyse-Labor. Warst du schon mal dort? Wahrscheinlich nicht! Dort ist es sehr interessant. Komm mit. Ich erkläre dir alles.«

Gorelow steckte das Stückchen Papier nachlässig in seine Tasche und schritt durch den Gang. Pawlik folgte ihm schweigend.

Sie stiegen durchs Luk, eine Wendeltreppe hinab und befanden sich im hell erleuchteten unteren Gang. Rechts und links standen die Türen zu den Maschinenräumen offen.

Gorelow nahm Pawlik an der Hand und ging mit ihm durch die erste Tür rechts. Sie betraten einen hohen hellen Raum mit großen Maschinen und Geräten. Einige waren unter zylindrischen, würfel- und kugelförmigen Gehäusen verborgen, die von einem engen Geflecht dicker Leitungen umgeben und durch verschiedenfarbige Rohre mit den benachbarten Maschinenräumen verbunden waren. Der größte Teil der Aggregate jedoch stand unter gläsernen Hauben, durch die man die Arbeit der Pleuelstangen und Kurbelwellen, die schnellen Umdrehungen der Schleifringanker und die langsamen Bewegungen der Zahnräder sah. Auf der metallenen oder gläsernen Umkleidung der Maschinen waren die verschiedenartigsten Kontroll- und Messgeräte mit Zifferblättern, kreisförmigen Skalen, Zeigern und Glasröhrchen mit vielfarbigen Flüssigkeiten sowie grüne, rote und gelbe Lämpchen angeordnet. Die Zeiger krochen ruckartig über ihre Skalen, die Lampen flammten auf und erloschen wieder oder brannten ununterbrochen, die Flüssigkeit in den Röhrchen stieg oder sank.

»Das ist der Generatoren- und Transformatorenraum«, sagte Gorelow. »Siehst du dort die dicken Kabel, die durch die Wand gehen? Die gehören zu den Kabelbatterien. Hierher leiten sie den elektrischen Strom, der aus der Temperaturdifferenz zwischen dem Teil der Batterie, der sich an der wärmeren Ozeanoberfläche befindet, und dem anderen Teil am Fuße unseres unterseeischen Berges entsteht. Es ist Strom von hoher Spannung. Ein Teil wird von uns ohne jede Umwandlung verwendet, zum Beispiel für die Elektrolyse des Wassers, der andere Teil wird durch einen Unterbrecher in pulsierenden Strom umgewandelt. Dieser Transformator dort formt ihn dann in Strom niedriger Spannung um, mit dem die Akkumulatoren aufgeladen werden.«

Pawlik war hier schon mit Marat gewesen, und Gorelow erzählte ihm nichts Neues. Das alles war ihm schon bekannt. Aber er hatte keinen Mut, es Gorelow zu sagen. Er nickte nur höflich mit dem Kopf und musste daran denken, dass er zu spät zum Verbinden kommen würde und dass ihn Arsen Dawidowitsch deshalb ausschelten könnte. Was sollte er tun? Er könnte sich ja bei Gorelow höflich entschuldigen und weggehen. Aber vielleicht würde der wieder wütend werden?

Sie betraten den nächsten Raum; hier standen die Geräte zur Erhitzung des Schiffsrumpfes, wenn sich um ihn eine Dampfhülle zur Erreichung hoher Geschwindigkeiten bilden sollte. In dem anschließenden Raum befanden sich die Kompressoren, die das Wasser mittels Pressluft aus den Tauchtanks herausdrückten, um dem U-Boot das Auftauchen zu ermöglichen. Sie durchquerten dann noch eine Kammer mit Pressluftflaschen und gelangten schließlich wieder in einen Generatoren- und Transformatorenraum.

»Fjodor Michailowitsch«, sagte Pawlik höflich. »Mir scheint, wir haben diese Maschinen schon vorhin gesehen.« Er fasste Mut und wollte schon sagen, dass er für die Belehrung sehr dankbar sei, aber jetzt sofort zum Verbinden müsse, da Arsen Dawidowitsch sicherlich schon auf ihn warte. Aber gerade, als er den Mund wieder öffnete, trat Gorelow auf die gegenüberliegende Scheidewand zu und drückte auf einen grünen Knopf. Eine Tür öffnete sich, und man sah einen niedrigen, schmalen Raum, dessen hintere Wand bogenförmig gerundet war. Anscheinend waren sie jetzt im Heckteil des U-Bootes angelangt.

Pawlik war hier noch nie gewesen und hatte nicht vermutet, dass hinter der letzten Scheidewand noch weitere Kammern lagen. Er wurde plötzlich neugierig und vergaß seine Eile.

Gorelow betrat die neue Kammer und rief, während er sich unter der gewölbten Decke bückte: »Komm rein, Pawlik! Zu diesem Raum hat nicht jeder Zutritt. Komm schnell rein, man darf die Tür nicht offenlassen.«

Pawlik ließ sich nicht zweimal bitten. Kaum war er in der Kammer, als Gorelow wieder auf einen Knopf drückte und die Tür sich sofort schloss. Pawlik hatte jedoch noch Zeit, die ungewöhnliche Dicke der Scheidewand zu bemerken, die diese Kammer von den anderen Räumen des U-Bootes trennte.

»Warum haben Sie die Tür so schnell geschlossen, Fjodor Michailowitsch«, fragte Pawlik und schaute sich um.

»Wir befinden uns jetzt in der Kammer für die Elektrolyse des Wassers«, sagte Gorelow, Pawliks Frage überhörend. »In diesen langen Wannen zersetzt der elektrische Strom das Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff. Jedes dieser Gase sammelt sich in einem gesonderten Ballon: In den linken strömt Wasserstoff, in den rechten Sauerstoff. Von hier gelangen beide Gase durch gesonderte Leitungen in zwei Gassammler, die sich im oberen Teil des U-Bootes befinden. Dort werden sie unter hohem Druck verdichtet und in riesigen zylindrischen Behältern aufbewahrt. Aus diesen leiten besondere automatische Vorrichtungen das Gas in genau abgemessenen Mengen durch Rohre zur kugelförmigen Kammer der Düse. Klopf mal mit dem Finger gegen die Scheidewand … Hörst du den dumpfen Ton? Die Wand ist nämlich sehr dick. Vier Zentimeter! Denke nicht, dass das wenig ist. Denn sie ist aus einer so harten Legierung hergestellt, dass ihre Festigkeit der einer stählernen Scheidewand von nicht weniger als fünfzig Zentimeter Dicke entspricht. Das ist notwendig, falls hier mal Gase einströmen sollten und sich Knallgas bildet; denn ein zufälliger Funke kann eine furchtbare Explosion auslösen. Diese Scheidewand muss einer solchen Explosion standhalten und das U-Boot vor einer Beschädigung, vielleicht auch vor dem Untergang schützen. Dort, hinter der Wand, laufen Dutzende von Rohren, durch die der Wasserstoff und der Sauerstoff unter Druck zur Zentraldüse und zu den Ringdüsen geleitet werden, die sich am Ende des U-Bootes befinden; ihre sich konisch erweiternden Öffnungen sind nach hinten gerichtet. Im Hohlraum einer jeden Düse, der Verbrennungskammer, mischen sich beide Gase und bilden Knallgas. Ein Funke bringt es zur Explosion. Bei tausend Explosionen in der Minute entwickelt das U-Boot eine Geschwindigkeit bis zu einhundertundfünfzig Kilometern in der Stunde. Außer den Triebdüsen – den zentralen und den Ringdüsen – befinden sich auf einem Ring, der den äußersten hinteren Teil des Hecks umschließt, noch zweiunddreißig Düsen. Ihre Öffnungen sind nach allen Seiten gerichtet – nach oben und unten, nach rechts und links. Das sind die Steuerdüsen. Der wachhabende Offizier im Steuerraum kann durch Bewegen eines Hebels in jeder beliebigen Düse oder in einigen zugleich Explosionen auslösen. Wenn beispielsweise die Steuerdüsen an der linken Heckseite betätigt werden, so erhält das Heck einen Impuls nach rechts, wodurch sich der Bug nach links dreht. Dieser Vorrichtung bedient sich das U-Boot statt der gewöhnlichen Ruder, welche die Fahrt eines Schiffes immer stark hemmen. Unser U-Boot ist durch Krepin von solcher Bremse befreit. – Na, ist es interessant, Pawlik?« fragte Gorelow lächelnd.

»Furchtbar interessant. Fjodor Michailowitsch! Hat die Pionier auch einen Rückwärtsgang?«

»Aber natürlich. Dafür hat das U-Boot noch einen äußeren Düsenring, dessen Öffnungen bugwärts gerichtet sind. Ein Druck auf einen besonderen Knopf auf dem Steuerpult genügt, um das Knallgas nach diesen Düsen zu leiten, und die Explosionen stoßen das U-Boot zurück. Siehst du, wie schön alles erdacht ist! Die Steuerung der Düse kann auch von hier aus, von diesem Schaltbrett, erfolgen. Aber das ist strengstens verboten, es sei denn, hierzu lägen ganz besondere Gründe vor, zum Beispiel ein Defekt im Steuerraum oder eine drohende Havarie.«

Gorelow schwieg plötzlich, als erinnere er sich an etwas, und fragte dann lächelnd:

»Da fällt mir was ein, Pawlik … ich habe das Papierchen, das du gefunden hast, achtlos weggeworfen. – Was stand denn darauf?«

Pawlik beobachtete gerade ein Gerät, auf dem sich ein Zeiger schnell und stetig nach oben bewegte, und antwortete zerstreut: »Wie? Fjodor Michailowitsch, ich erinnere mich nicht mehr … irgendwelche Zahlen … ich hab nur flüchtig drauf geschaut. Sagen Sie mir bitte, warum bewegt sich dieser Zeiger so schnell nach oben?«

»Er registriert die Druckerhöhung in diesem Behälter, der mit Gas überfüllt ist; aber gleich wird eine andere automatische Vorrichtung den Überschuss ableiten, und der Zeiger wird sich wieder langsamer bewegen.«

Das geschah auch. Neben dem Messgerät mit dem unruhigen Zeiger flammte ein gelbes Lämpchen auf, der Zeiger schwankte hin und her, blieb stehen, kroch zurück; dann blieb er erneut stehen und bewegte sich wieder kaum merklich nach oben.

»Wie interessant das alles ist! Maschinen mit Verstand! Sie passen auf sich selber auf. -Vielen Dank, Fjodor Michailowitsch! Kann ich jetzt gehen? Ich verspäte mich sonst zu sehr zum Verbinden. Arsen Dawidowitsch wird schon sehr böse sein.«

Pawlik hatte plötzlich keine Angst mehr. Ihm kam es jetzt komisch vor, dass er sich vor Gorelow gefürchtet hatte. Warum eigentlich? Der Maschineningenieur war immer etwas schweigsam und verschlossen gewesen. Jetzt aber war er ganz anders, gesprächig und zum Scherzen aufgelegt. Und welch interessante Dinge er ihm gezeigt hatte!

Pawlik eilte die Wendeltreppe hinauf, blieb aber in ihrer Mitte unschlüssig stehen und kam dann wieder in den Generatorenraum zurück. Wie interessant konnte doch Fjodor Michailowitsch alles erklären. Warum sollte er ihn nicht noch etwas fragen?

Gorelow stand unbeweglich vor der hermetisch verschlossenen Tür zur Kraftzentrale. Er runzelte die Stirn und blickte finster vor sich hin.

Pawliks laute Stimme ließ ihn zusammenfahren. Verwirrt blickte er auf den Jungen.

»Fjodor Michailowitsch, mir ist es wieder eingefallen. Erklären Sie mir doch bitte, was Koordinaten bedeuten … genaue Koordinaten. Ich möchte es gern wissen.«

Gorelows Gesicht verzerrte sich, ein Hustenanfall schüttelte ihn. Doch bald gewann er seine Fassung wieder. Er wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und fragte mit rauer Stimme: »Koordinaten …? Wie kommst du darauf, Pawlik?«

»Das stand doch auf dem Papierchen, das ich im Gang gefunden habe. Ich kenne das Wort nicht. Ich wollte schon Zoi fragen, aber Sie können es mir vielleicht besser erklären.«

Gorelow klopfte Pawlik auf die Schulter und lächelte gezwungen.

»Frag mich nur immer, mein lieber Junge. Ich will dir alles sehr gern erklären. Koordinaten … hm … Koordinaten – das sind Größen, mit deren Hilfe man die Lage eines Punktes auf einer Fläche oder im Raum genau bestimmen kann. Ist dir das klar?«

Ganz verstand Pawlik Gorelows Erklärung nicht, aber er ließ es sich nicht anmerken. Übrigens war es auch nicht so wichtig zu wissen, was dieses seltsame Wort bedeutete.

»Ich verstehe schon, Fjodor Michailowitsch. Vielen Dank! Jetzt muss ich schnell zu Arsen Dawidowitsch.«

Fortsetzung folgt …